[aus: Kant-Studien; 15. Band; 1910; S. IV-X]





Otto Liebmanns Philosophie.



Von Wilhelm Windelband.









Man könnte Liebmann den treuesten aller Kantianer nennen, Er ist einer der Ersten gewesen, die mit eindrucksvoller Energie auf den vergessenen Kritizismus zurückwiesen: er hat dann redlich daran gearbeitet, die besten und höchsten Ergebnisse der Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem der Naturforschung unter Kants philoso[so]phische Gesichtspunkte zu rücken und in die grossen Linien seiner Weltanschauung einzufügen: und er hat dabei so streng wie kein anderer diese Linien eingehalten und immer wieder mit fester Hand ihr unverrückbares Grundgefüge gezeichnet.

Als sein erstes Buch „Kant und die Epigonen" erschien (1865), da sassen auf den Kathedern noch die Schüler von Kants metaphysischen Nachfolgern, und ihre Diskussionen erfüllten die zünftige Literatur: aber das Interesse der gebildeten Welt war ihren Systemen entfremdet; statt ihrer hatte die naturwissenschaftliche Denkart sich ausgebreitet und, aller kritischen Vorsicht ledig, ihren naiven Materialismus zum metaphysischen Dogma erhoben. Gegen beide Fronten war es gerichtet, wenn Liebmann mit jedem Kapitel seines frischen und schneidigen Büchleins auf das Ceterum censeo kam: also muss auf Kant zurückgegangen werden.

Aber freilich, Kant musste erst wieder entdeckt werden; ja, Liebmann musste ihn selbst erst für sich selbst entdecken! Denn ein klein wenig lag damals auch für ihn noch über Kants Bilde der Schleier, den dereinst Reinholds, von den Kantianern der Schule angenommene, Missdeutung darüber geworfen hatte. Es war die Auffassung der kritischen Erkenntnistheorie, wonach alle [III/IV] Weltvorstellung als eine rätselhafte Funktion zwischen einem unbekannten An-sich des Objekts und einem ebenso unbekannten An-sich des Subjekts schweben sollte, von jenem nach ihrem Inhalt, von diesem nach ihrer Form bestimmt. Diese Auffassungsweise hatte den Naturforschern bei ihrer Theorie der Sinneswahrnehmung gelegen, und die letztere hat deshalb das Feld gebildet, auf dem eine zeitlang Naturforschung und Kantische Philosophie zusammenarbeiten zu können glauben durften. Von hier ist auch Liebmann ausgegangen. Als der Tübinger Privatdozent seine Untersuchung „Über den objektiven Anblick" herausgab (1869), wandelte er die Wege, die Schopenhauer und Helmholtz gebahnt hatten. Mit ihnen setzte er neben den sensualen Faktor der Wahrnehmung den intellektuellen, zu dem letzteren rechnete er ausser den Anschauungen Raum und Zeit von den Kategorien nicht nur die Kausalität, sondern auch sehr richtig die Subsistenz: aber er war dem wahren Sinn der transscendentalen Analytik schon damals auf der Spur, wenn er unter dem dritten, dem „transscendenten" Faktor die überempirische Notwendigkeit verstand, die zwischen den beiden andern so besteht, dass erst aus ihr sich das ergiebt, was wir „Existenz", Wirklichkeit im Sinne des transscendentalen Idealismus nennen dürfen. Gerade in der Art, wie Liebmann hier den landläufigen, Jacobi-Reinholdschen Begriff des „Ding-an-sich" mit Recht als völlig unbrauchbar bekämpft, kommen die Prinzipien des wahren Kant zu ihrem Rechte. Darin, wie in der Kritik der Kategorienlehre, stand Liebmann schon damals auf dem Standpunkte, den er später dahin formuliert hat, dass zwar viele, vielleicht alle einzelnen und buchstäblichen Fassungen der bei Kant historisch bedingten Begriffe seiner Lehre korrigiert werden müssen, dass aber der Geist der Transscendentalphilosophie unsterblich sei.

Diesen Geist galt es in der Folgezeit zu begreifen, zu begründen, zu vertreten, zu verteidigen. Denn es kamen die Tage, in denen gerade jene scheinbare Intimität zwischen der kritischen Erkenntnistheorie und der Physiologie der Sinnesorgane und jener Bund zwischen Kantianismus und Naturforschung, den Albert Langes Geschichte des Materialismus inaugurierte, zu einer Ausdeutung der Kantischen Lehre in Psychologismus und Relativismus führte. [IV/V] Die Philosophie sollte in Erkenntnistheorie und diese in ein tatsächliches Beschreiben des empirischen Wissens aufgehen. In diesen Zeiten hat Liebmann auf dem Strassburger Katheder den Kampf um den Geist der Transscendentalphilosophie gekämpft. Wer ihm damals persönlich nahestand, der weiss, unter wie schwierigen Verhältnissen, - er weiss aber auch, mit wie glücklichem Erfolge dieser Kampf geführt wurde. Es war eine grosse Wirkung der Persönlichkeit. Eine Fülle des Wissens strömte in seiner Rede, aber sie war stets zu lebendigster Anschaulichkeit geformt. Und in diesem Wissen wühlte ein scharfer Grübelsinn, um überall in die Tiefe zu graben. Unvermerkt fand der Zuhörer das Selbstverständliche in ein Problem verwandelt, - nun tauchten die Heroen des Denkens vor ihm auf, die sich daran, ach vergebens! gequält, - und zum Schlusse ward aus der Sache selbst die Einsicht in die Stelle gewonnen, an der alle menschliche Erkenntnis halt machen muss. Diesen Zwang des kritischen Philosophierens, den Liebmann auf seine Zuhörer ausübt, bezeugen Zug um Zug die im Zusammenhange mit seinen Vorlesungen erwachsenen Abhandlungen, die er in der Schrift „Zur Analysis der Wirklichkeit" (zuerst 1876) zu einem wohlgefügten Ganzen vereinigt hat. Es ist eines der eigenartigsten Werke, in denen je ein Philosoph seine Weltanschauung dargelegt hat. Da ist, so scheint es, keine Spur von lehrhafter Gesamtdarstellung: jede Abhandlung stellt ihr Sonderproblem und diskutiert es durch die ganze Fülle seiner historischen Dialektik hindurch, um schliesslich an den Punkt zu führen, an dem sich übersehen lässt, welche Fragen daran beantwortet sind, welche beantwortbar bleiben und welche niemals beantwortet werden können: und höchstens will sich bei diesem ersten Anblick aus diesen Einzelbetrachtungen schliesslich so etwas wie ein Ganzes summieren. Wer aber genauer zuschaut, der findet, dass alle diese Besonderheiten Teile eines organischen Ganzen sind, die sich gegenseitig verlangen und bedingen und ein einheitliches Leben des Gedankens darstellen.

Nicht zufällig versuche ich damit den Eindruck von Liebmanns Hauptwerk an dem Gegensatze mechanischen und organischen Zusammenhanges zu veranschaulichen: denn keinem Problem ist er selbst häufiger, vielseitiger, energischer zu Leibe gegangen, als [V/VI] diesem Verhältnis. Das hängt offenbar damit zusammen, dass er mit der Grundstruktur auch seiner eignen Erkenntnistheorie immer bei der Kantischen Lehre von den Grundsätzen des reinen Verstandes beharrt hat, die wesentlich auf die Rechtfertigung der mathematisch-physikalischen Theorie hinauslaufen und deshalb die mechanistische Erklärung aller Erscheinungen nach den Gesetzen von Raum, Zeit und den Kategorien, insbesondere der Substanz und der Kausalität, mit so ausschliesslicher Bestimmtheit verlangen, dass eben damit der Organismus zum Wunder in dieser Welt des Mechanismus wird. Zwar hat Liebmann sich von dem architektonisch symmetrischen Aufbau des Kantischen Kategorien- und Grundsätzesystems völlig frei gehalten; aber auch hierin ist er dem Geiste der Transscendentalphilosophie insofern durchaus treu geblieben, als er den Zweck nicht als konstitutive Kategorie, wohl aber als eine vernunftnotwendige und völlig unausweichliche Betrachtungsweise angesehen haben will. Mit unermüdlichem Scharfsinn hat er immer wieder den darwinistischen Theorien, wenn sie das Problem der Zweckmässikeit aus der Welt geschafft zu haben glaubten, ihre eigene, heimliche, ihnen selbst nicht klar gewordene Teleologie als ihre Voraussetzung nachgewiesen. Von verschiedenen Seiten her hat er gezeigt, wie in der Weltauffassung neben dem platonischen Motiv, das von der Ideenlehre zu dem Prinzip der Naturgesetzmässigkeit fortgeschritten ist, das aristotelische Motiv der Entelechie unabweisbar und unentbehrlich sei. Wenn ihm das Verhältnis zwischen beiden als ein letztes, unlösbares Rätsel gilt, so weiss er sich auch darin mit der Stellung Kants, wie sie in der Kritik der Urteilskraft ausgesprochen ist, im Prinzip völlig einverstanden. Aber indem er das konstatiert, bemerkt er gelegentlich: „nur das könne dabei fraglich bleiben, ob die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens wirklich genau an dem Orte liegen, wo Kant sie gezogen hat". Was dies bedeutet, ist nicht schwer festzustellen. Kant hat nicht nur die mechanische Erklärung der gestaltenden und erhaltenden Vorgänge im einzelnen Organismus, sondern auch das kühne Abenteuer des Archaeologen der Natur, der die ganze Reihe der organischen Bildungen aus einer Urform mechanisch ableiten wollte, wenigstens im Prinzip und dem regulativen Postulat nach [VI/VII] für möglich gehalten und nur die „ursprüngliche Organisation" als schlechterdings unbegreiflich für das menschliche Denken angesehen: Liebmann dagegen findet schon in dem „idiotypischen" Charakter eines jeden Organismus und einer jeden Art das der mechanischen Erklärung spottende Wunder der Zweckmässigkeit und Zielstrebigkeit. Hier zieht also der Kantianer die Grenzen der menschlichen Erkenntnis ein gut Stück enger als Kant selbst.

Das ist um so charakteristischer, als Liebmann das Bedürfnis nach einer Lösung dieser Probleme so stark und lebhaft empfindet als nur irgend einer. Und damit stehen wir unmittelbar vor der Eigenart seiner intellektuellen Persönlichkeit, die sich eben damit als durchaus kantisch bestimmt. Er besitzt im höchsten Grade das metaphysische Bedürfnis, man könnte auch von ihm sagen, er sei „in die Metaphysik verliebt". Er verfügt dazu über den Ernst der Betrachtung und die Schärfe des Verstandes, die dazu gehören, um gerade in dem scheinbar Selbstverständlichen das Problem zu entdecken, und er hat den Trieb und den Schwung der Phantasie, die das Erkennen vom Einzelnen zum Ganzen hinaustreiben und emporziehen: wer sich davon überzeugen will, der lese die Dichtungen, die der Denker unter dem Titel „Weltwanderungen" veröffentlicht hat. Aber er besitzt in gleich hohem Grade die Selbstbeherrschung des Intellekts, die innere Disziplin, die den Erkenntnistrieb bändigt, die niemals das Verlangen für ein Vollbringen nimmt, und damit die Resignation innerhalb der selbstgesetzten Schranken. Von diesen Voraussetzungen her hat Liebmann seine „kritische Metaphysik" geschaffen. Ihre Grundlage und ihre Richtschnur bilden die Gesetze des Intellekts, ohne die es nun und nimmermehr irgend eine Theorie geben kann: als die Klimax der Theorien, als die Arten der Notwendigkeit, als die Schichten des Apriori hat sie Liebmann entwickelt. Ihre Geltung für alle Erfahrung ist ihm die allgemeinste und zugleich die gewisseste aller Tatsachen selbst, - er bezeichnet sie gern und glücklich als die „Logik der Tatsachen", aber er hält in echt kritischem Sinne jeden Versuch, sie noch wieder zu „begreifen", zu „erklären" oder dogmatisch-metaphysisch zu deuten für aussichtslos. In dem Rahmen dieser generellen Notwendigkeiten entspringen nun aber die sachlichen Wirklichkeiten, welche die Probleme des metaphysischen Denkens bilden, so unentfliehbar [VII/VIII] und so gewichtig, so tief in unser ganzes Wesen greifend wie ihre Erlebnisse selbst in ihrer Unmittelbarkeit. Niemals reicht ihre Analyse bis an das Letzte ihrer Gegebenheit: aber darum ist unsre Denkarbeit an ihnen doch nicht umsonst. Jedesmal zeigt die Geschichte für diese immer wiederkehrenden Probleme verschiedene, auch ihrerseits immer wiederkehrende Lösungsversuche. Wir können feststellen, was darin nach den Tatsachen und ihrer Logik als einwandfreies Ergebnis gewonnen worden ist - was bei weiterem Wachstum unseres Wissens und seiner rechten Bearbeitung noch gewonnen werden kann - und andrerseits, was der Natur der Sache nach unsrer Erkenntnis immer verborgen bleiben wird und muss. Das ist die philosophische „Analysis der Wirklichkeit", die kritische Metaphysik. Sie umfasst die Fragen der Ethik und Ästhetik in gleicher Weise, wie diejenigen der wissenschaftlichen Erkenntnis: in der Ausführung des Buches und in den Fortsetzungen, welche dessen Untersuchungen in den beiden Bänden „Gedanken und Tatsachen" (1882-1904) erfahren haben, ist den Problemen der Werte zwar kein so grosser Umfang wie denen des Seins und des Geschehens gewidmet, aber dafür in gedrängter, oft lapidarer Kürze aus einer ernsten und grossen Lebensanschauung heraus ein reicher Ertrag begrifflicher Festigung abgerungen worden.

Diese kritische Metaphysik scheidet Liebmann scharf und sicher von aller dogmatischen, alter und neuer. Die apodiktische Wissenschaft vom Wesen der Dinge soll mit Kant ein für allemal preisgegeben sein: die kritische Metaphysik will nichts sein als „eine strenge Erörterung menschlicher Ansichten, menschlicher Hypothesen über das Wesen der Dinge". Aber man würde sehr irren, wenn man nach solchen Erklärungen Liebmanns Stellung irgendwie in die Nähe relativistischer oder gar pragmatistischer Auffassungsweisen rücken wollte. Die Hypothesen, die seine Metaphysik diskutiert, beziehen sich auf die sachlichen Einzelprobleme der Weltansicht, und die Kriterien, die dieser Diskussion zu Grunde liegen, sind für ihn die aller Relativität überhobenen notwendigen und ewigen Wahrheiten des Denkens und Anschauens. „Mit ihnen üben wir das Hausrecht unserer Intelligenz" über alles aus, was je Inhalt unseres Bewusstseins [VIII/IX] werden kann. Und diese Grundstruktur alles Bewusstseins ist für Liebmann durchaus Kantisch: dazu gehören vor allem die Notwendigkeiten räumlicher und zeitlicher Anschauung, obwohl die interessanten und vielseitigen Grübeleien über das Zeitproblem Liebmann an mehr als einem Punkte über den Kantischen Horizont der Phänomenalität hinauszudrängen scheinen, dazu gehört weiter die Identifikation des Prinzips der Kausalität mit dem der Gesetzmässigkeit: auch Liebmann kennt kein anderes Kausalverhältnis als dasjenige, worin die Ursache der Wirkung ihr Dasein in der Zeit nach einer allgemeinen Regel bestimmt.

Auch insofern bleibt diese kritische Metaphysik durchaus Kantisch, als sie mit vollem Bewusstsein an den Grenzen m e n s c h l i c h e   r Erkenntnis stehen bleiben will. In beiden Fällen soll dieser Anthropologismus freilich nicht bedeuten, dass sie auf die empirischen Bestimmungen der menschlichen Spezies, auf ihre Bedürfnisse, Gewohnheiten und Entwickelungen begründet, wohl aber, dass sie in ihrer Geltung für unser Wissen darauf beschränkt sei. Auch Liebmann bemerkt wohl gelegentlich, die (formal) logische Notwendigkeit habe absolute Gültigkeit für jedes vernünftig denkende Wesen überhaupt, gleichviel ob dessen sonstige Geisteskonstitution mit der unsrigen zusammen stimmt oder nicht: aber da aller Inhalt, den wir damit denken können, in die „menschlichen" Anschauungen von Raum und Zeit gebannt ist, so bleibt jene Möglichkeit völlig unfruchtbar. Auch das „Bewusstsein überhaupt" fasst Liebmann lediglich als logisches Subjekt und ebensowenig als überpersönliche wie als individuelle Realität. Allen Spekulationen deshalb, die von diesem Punkte aus den Bann des Kantischen Phänomenalismus zu durchbrechen suchen, hält er die transscendale [!] Ästhetik als den Kernpunkt der kritischen Philosophie entgegen.

Das ist Liebmanns historische Stellung: zwischen der Scylla des psychogenetischen Empirismus und der Charybdis der neuidealistischen Metaphysik hat er mit fester Hand das Schiff des Kritizismus hindurchgesteuert. Die Erneuerung des Kantianismus ist zuerst auf den einen Seitenweg geraten, sie ist jetzt im Begriffe, den andern einzuschlagen. Liebmann hat den Kurs Kant's eingehalten, und er hat gezeigt, dass er zu einer kritischen Metaphysik führt, - dass er nicht hängen zu bleiben braucht in einer [IX/X] formalen Erkenntnistheorie, sondern dass die kritische Methode eine lebendige und ertragreiche Bearbeitung aller inhaltlichen Probleme der Weltanschauung nicht nur gestattet, sondern verlangt. Freilich muss man nicht darauf zählen, fertige Weisheit lockend ausgebreitet zu finden, sondern gewillt sein, ernstlich mitzudenken, und darauf gefasst, an den Grenzen der Menschheit sich mit wohlerwogenem Verzicht zu bescheiden. Diese sachliche Fülle, dieser anschauliche Reichtum bei allem Ernst und aller Strenge der Gedankenführung sichert dem Liebmann'schen Kritizismus seine dauernde Wirkung auf unser philosophiebedürftiges Geschlecht. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass sich für jüngere oder ältere Menschen, die aus modernen, praktischen oder spezialwissenschaftlichen Zuständen heraus Zugang zur Philosophie suchten, nichts so wirksam, so anregend und lehrreich, so zum Selbstdenken erziehend erwies als Liebmann's Bücher. Möchte er in so intensiver Wirkung den reichen Lohn seiner edlen Gedankenarbeit noch lange gemessen!


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