DIE







WELT ALS VORSTELLUNG.









ACADEMISCHER VORTRAG








VON






ADOLF FICK.













WÜRZBURG.


DRUCK UND VERLAG DER STAHEL`SCHEN BUCH- UND KUNSTHANDLUNG.



1870.








Nachstehender Vortrag wurde gehalten zur Eröffnung des



physiologischen Lehrcurses an der Würzburger Hochschule



im Sommersemester 1870.










Meine Herren !

Sie haben bei der diesjährigen Stiftungsfeier unserer Hochschule gehört, wie in seiner Festrede der Rektor, Herr Edel, geklagt hat über den Verfall der allgemeinwissenschaftlichen und namentlich der philosophischen Studien.
„In früheren Zeiten," sagt er, „die zum Theil meinem Gedächtnisse nicht entschwunden sind, war es vielfach anders."
„Da waren die philosophischen Vorlesungen nicht verödet, die Auditorien der grossen deutschen Philosophen waren auch hier fast immer wohlgefüllt nicht bloss von Studirenden im ersten Studienjahre, sondern auch von zahlreichen Zuhörern aus allen Fakultäten und von gebildeten Männern im reiferen Alter."
„Darum hege ich den lebhaften Wunsch für Wiederbelebung der philosophischen Studien nicht bloss im Interesse besserer allgemeiner Bildung, sondern auch zur geistigen Durchdringung und Verbindung des so weit ausgedehnten und fast mit Zersplitterung bedrohten Kreises der Specialwissenschaften."
Ich möchte gern zur Erfüllung dieses gewiss sehr berechtigten Wunsches an meinem Platze mein Mögliches thun und werde es desshalb versuchen, durch einige kurze einleitende Betrachtungen den physiologischen Lehrstoff mit philosophischen Gesichtspunkten zu verknüpfen.
Die Klage über Vernachlässigung der philosophischen Studien ist auch von anderen Seiten vielfach laut geworden. Man hat geradezu der studirenden Jugend den Vorwurf gemacht, sie ergebe sich, [3/4] angesteckt von dem angeblich auf die materiellen Güter ausschliesslich gerichteten Sinne der Gegenwart, banausischem Brotstudiren unbekümmert um höhere rein ideale Interessen. Ich glaube wir dürfen uns von diesem Vorwurfe freisprechen und die Schuld der Missachtung in welche überall, besonders aber in den naturwissenschaftlichen Kreisen die Philosophie gefallen ist, lediglich dem Entwickelungsgang beimessen, welchen diese Wissenschaft selbst in Deutschland genommen hat.
Nachdem nämlich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die erstaunlichen Werke Kants Aller Augen auf die Philosophie gerichtet hatten, wandten sich begreiflicherweise auch viele Talente niederer Ordnung zur literarischen Produktion auf diesem Gebiete. Jeder suchte seinen Vorgänger durch Kühnheit und scheinbare Tiefe der Speculation zu überbieten, bis zuletzt in den zwanziger und dreissiger Jahren dieses Jahrhunderts die eigentliche Scharlatanerie und Windbeutelei in der philosophischen Literatur herrschend wurde. Das musste denn doch allmählich das gebildete Publikum ernüchtern. Man höre beispielsweise folgende Sätze, worin sich ein seiner Zeit im höchsten Ansehen stehender Philosoph über einen Gegenstand ausspricht, der uns demnächst beschäftigen soll: „Die Sinne und die theoretischen Processe sind daher 1 0 der Sinn der mechanischen Sphäre, der Schwere, der Cohäsion und ihrer Veränderung, der Wärme, das Gefühl als solches; 2 0 die Sinne des Gegensatzes, der besonderten Luftigkeit, und der gleichfalls realisirten Neutralität des concreten Wassers und der Gegensätze der Auflösung der konkreten Neutralität - Geruch und Geschmack; 3 0 der Sinn der Idealität ist ebenfalls ein gedoppelter, in sofern in ihr als abstrakter Beziehung, auf sich die Besonderung, die ihr nicht fehlen kann, in zwei gleichgültige Bestimmungen auseinanderfällt, a ) der Sinn der Idealilität als Manifestation des Aeusserlichen für Aeusserliches, - des Lichtes überhaupt und näher des in der konkreten Aeusserlichkeit bestimmt werdenden Lichtes, der Farbe, und b ) der Sinn der Manifestation der Innerlichkeit, die sich als solche in ihrer Aeusserung kund giebt, - des Tones, - Gesicht und Gehör."
„Es ist hier die Art angegeben, wie die Dreiheit der Begriffsmomente in eine Fünfheit der Zahl nach übergeht; der allgemeinere Grund, dass dieser Uebergang hier stattfindet, ist, dass der thierische Organismus die Reduktion der auseinandergefallenen unorganischen Natur in die unendliche Einheit der Subjek-[4/5]tivität, aber in dieser zugleich ihre entwickelte Totalität ist, deren Momente, weil sie noch natürliche Subjectivität ist, besonders existiren." *)
Wenn derartiger höherer Blödsinn in den philosophischen Hörsälen vorgetragen wurde, dann findet man begreiflich, dass sie sich allmählich leerten und dass sich namentlich alle diejenigen daraus zurückzogen, welche durch Beschäftigung mit Naturwissenschaften an ein folgerichtiges Denken gewöhnt sind.
Es konnte nicht fehlen, dass dadurch ein grosser Theil der Gebildeten von allem Philosophiren zurückgeschreckt und dem rohen Materialismus in die Arme getrieben wurde. Bei dieser naiven Weltanschauung, die eben im einfachen Mangel philosophischen Besinnens besteht, kann sich aber ein Denkender nicht lange beruhigen. So sehen wir denn gegenwärtig das philosophische Bedürfniss allgemein wieder erwachen, und mit Recht wird überall wieder zurückgegangen auf unseren grossen Geistesheroen Kant. In der That, seine Kritik der reinen Vernunft, die ich unbedenklich für die grösste Leistung des denkenden Menschengeistes erkläre, gewährt noch heute dem philosophischen Bedürfniss mehr Befriedigung als irgend ein später geschaffenes Werk.
Die Grundlagen des Kantischen philosophischen Standpunktes sollen denn auch den Gegenstand dieser einleitenden Betrachtungen bilden. Die Beziehung dieses Gegenstandes zu der Wissenschaft, welche wir hier zu behandeln haben, und namentlich zu dem Theile derselben, mit welchem ich diesmal unsern Kurs zu beginnen gedenke, ist die allerunmittelbarste und engste. Man könnte geradezu sagen der Kantische Standpunkt in der Philosophie ist ein physiologischer. Sehen wir nunmehr, wie wir zu demselben gelangen.
Für den unbefangenen Menschen stellt die materielle Welt da draussen vollkommen fest. Die Existenz einer hellleuchtenden, heissen Sonne, einer starren Erde, eines kühlen Wassers, ausserhalb und unabhängig von seinem Bewusstsein hat für ihn die unumstösslichste Gewissheit. Es braucht aber nur wenig Besinnen, um zu bemerken, dass es doch noch etwas Gewisseres giebt, nämlich die Existenz meines eigenen Bewusstseins; denn wäre dieses nicht, so würde ich ja von
*) Hegel Encyclopädie.
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der Existenz der Körperwelt auch gar Nichts wissen. Dieser Satz braucht nur ausgesprochen zu werden, um einzuleuchten und man sieht auch sofort, dass das eigene Bewusstsein der einzig richtige und einzig mögliche Ausgangspunkt des Philosophirens ist. Wie wunderbar, dass es Jahrtausende gedauert hat, bis man zu dieser Einsicht kam! Erst Cartesius nämlich hat mit seinem berühmten „Cogito ergo sum" das Bewusstsein des denkenden Subjectes zum Ausgangspunkte der Philosophie gemacht.
Suchen wir unser eigenes Bewusstsein uns zu vergegenwärtigen in dem Zustande, in welchem es sich bei seinem ersten Erwachen befunden haben mag. Der erste Inhalt desselben kann offenbar nichts anderes gewesen sein als Empfindung und zwar Empfindung verschiedener Art: Lichtempfindung, Gefühlsempfindung, Schallempfindung, Schmerz, Lust u. s. w.
Die Empfindungen kommen, gehen, wechseln ohne unser Zuthun. Aber sie sind auch der einzige Inhalt unseres Bewusstseins, welcher sich so verhält und sich demgemäss ankündigt als Etwas nicht durch das Bewusstsein selbst Geschaffenes, sondern ihm Aufgedrungenes. Das Bewusstsein setzt daher ein äusseres Objekt oder einen äusseren Gegenstand, dessen Gegenwart oder besser Einwirkung auf das Subjekt die Empfindungen bedinge. Wenn auch diese Thätigkeit gewöhnlich ohne eigentliche Ueberlegung vollzogen wird, so kann man sie doch als ein logisches Schliessen bezeichnen, und wir nennen die Fähigkeit des Subjektes, diese Thätigkeit zu vollziehen „Verstand". Ohne ihn würden wir offenbar gar nie zur Annahme einer äussern Welt der Objekte kommen. Die Empfindungen würden eben nur als Zustände des Subjektes selbst im Bewusstsein auftreten.
Diese einfache Ueberlegung entscheidet auf´s allerunwiderleglichste eine Frage, die von bedeutenden Denkern in verschiedenem Sinne beantwortet wird, die Frage nämlich, ob die Ueberzeugung von einer ursächlichen Verknüpfung der Veränderungen in der Natur des Verstandes selbst begründet ist, ob, wie man sich in philosophischer Redeweise auszudrücken pflegt, die Kenntniss vom ursächlichen Zusammenhange eine Erkenntniss a priori ist.
Die grossen englischen Denker Locke und Hume waren der Meinung, die Ueberzeugung von einem überall nothwendigen Zusammenhang der Ursache und Wirkung werde erst allmählich [6/7] durch Beobachtung des Ablaufes der äusseren Erscheinungen gewonnen und dieser Meinung schliesst sich auch der noch jetzt lebende berühmte englische Philosoph J. St. Mill an. Dahingegen hat Kant die Apriorität des Causalgesetzes verfochten. Merkwürdigerweise ist ihm das einfachste und schlagendste Argument entgangen, das in der soeben angedeuteten Ueberlegung besteht. Erst Schopenhauer und nach ihm aber unabhängig von ihm, Helmholtz, haben es hervorgehoben. „Es ist klar" sind die Worte des letzteren, „dass wir aus der Welt unserer Empfindungen zu der Vorstellung von einer Aussenwelt niemals kommen können, als durch einen Schluss von der wechselnden Empfindung auf äussere Objekte als die Ursachen dieses Wechsels, wenn wir auch, nachdem die Vorstellung der äusseren Objekte einmal gebildet ist, nicht mehr beachten, wie wir zu dieser Vorstellung gekommen sind, besonders darum, weil der Schluss so selbstverständlich erscheint, dass wir uns seiner als eines neuen Resultates gar nicht bewusst werden. Demgemäss müssen wir das Gesetz der Causalität, vermöge dessen wir von der Wirkung auf die Ursache schliessen, auch als ein aller Erfahrung vorausgehendes Gesetz unseres Denkens anerkennen."
Der vorhin angeführten Ansicht englischer Philosophen gegenüber bemerkt Helmholtz ferner, „dass es mit dem empirischen Beweise des Gesetzes vom zureichenden Grunde äusserst misslich aussieht. Denn die Zahl der Fälle, wo wir den causalen Zusammenhang von Naturprocessen vollständig glauben nachweisen zu können, ist verhältnissmässig gering gegen die Zahl derjenigen, wo wir dazu durchaus noch nicht im Stande sind."
„Endlich - heisst es im weiteren Verlaufe der zitirten Stelle - trägt das Causalgesetz den Charakter eines rein logischen Gesetzes auch wesentlich darin an sich, dass die aus ihm gezogenen Folgerungen nicht die wirkliche Erfahrung betreffen, sondern deren Verständniss, und dass es desshalb durch keine mögliche Erfahrung je widerlegt werden kann. Denn wenn wir irgendwo in der Anwendung des Causalgesetzes scheitern, so schliessen wir daraus nicht, dass es falsch sei, sondern nur, dass wir den Complex, der bei der betreffenden Erscheinung mitwirkenden Ursachen noch nicht vollständig kennen."
Den äusseren Objekten nun, welche der Verstand vermöge des Causalgesetzes als Ursachen der Empfindungen setzt, legt er zunächst [7/8] ganz naiv die Qualitäten der Empfindungen selbst bei. Er nennt ein Objekt, das eine Licht- oder Helligkeitsempfindung veranlasst, ein „helles", ein Objekt, das eine bestimmte Geschmacksempfindung verursacht, z. B. ein süsses. Wenn ein besonderer Komplex von Gefühlsempfindungen in der Haut entsteht, sprechen wir von der Gegenwart eines harten Gegenstands u. s. w. fort. Indem unter gewissen Umständen auf den verschiedenen Sinnesgebieten gleichzeitig oder in gewisser gesetzlicher Reihenfolge Empfindungen entstehen, legen wir ihre Natur ein und demselben Objekte als seine verschiedenen Eigenschaften bei. So würde z. B. Einer, der einen gewissen Komplex von Licht-, Geschmacks- und Gefühlsempfindungen bat, sagen: ich habe einen rothen, süssen, kalten Apfel in der Hand.
Es braucht nicht viel Kopfzerbrechen, um einzusehen, dass die in Rede stehenden Prädikate als Süssigkeit, Härte, Röthe u. s. w. nicht Prädikate von realen Existenzen sein können, dass sie vielmehr nur den Vorstellungsbildern innerhalb eines wahrnehmenden Subjektes zukommen. Wem dies nicht selbstverständlich erscheint, der erinnere sich nur daran, dass derselbe Apfel, welcher jetzt vorwiegend süss schmeckt, ein anderesmal, wenn man unmittelbar vorher Zucker gegessen hat, mehr säuerlich scheint. Ein sonst roth genannter Körper kann auch, wenn das Auge durch lebhafteres Purpurroth ermüdet ist, blass-gelblich erscheinen. Derselbe Körper erscheint oft, mit der einen Hand angefühlt, warm, mit der anderen kalt. Es ist wohl nicht nöthig, noch weitere Beispiele anzuführen. Man bemerkt im Allgemeinen leicht, dass die den Objekten zugeschriebenen Qualitäten wesentlich bedingt sind durch den Zustand des wahrnehmenden Subjektes, so dass es durchaus nichts Widersinniges hätte anzunehmen, dass dieselben Objekte einem anderen Subjekte ganz anders erschienen. Sollte in der That die Qualität der Sinnesempfindung andererseits auch durch die Beschaffenheit einer ausserhalb seienden Realität bedingt sein, so wäre diese doch jedesfalls unserer Erkenntniss unzugänglich, da uns bloss die Wechselwirkung des Anderen und unseres Sinnes, eben die Empfindung gegeben ist.
Es ist - wie gesagt, - leicht einzusehen, dass die Eigenschaften, von denen wir bis jetzt gesprochen haben, als Farbe, Geschmack und dergleichen unmöglich Eigenschaften der Dinge in sich sein können. Schwierig aber ist es, sich vollständig klar zu machen, dass auch die räumlichen und zeitlichen Beziehungen und Alles was damit zusammen-[8/9]hängt, wie Bewegung, Starrheit u. s. w. nicht den Dingen, unabhängig von unserm Denken an sich zukommen, dass vielmehr Raum und Zeit nur die durch die Beschaffenheit unseres Intellektes bedingten nothwendigen allgemeinsten Formen des Vorstellens sind. Dies ist zwar schon von dem tiefsinnigen Berkeley geahnt worden, aber es ist eine von den geistigen Grossthaten Kant's mit einer der mathematischen nichts nachgebenden Evidenz den Beweis geliefert zu haben.
Der erste Beweisgrund ist eigentlich schon in der Betrachtung enthalten, welche wir an die Spitze gestellt haben. Wir sahen, dass unser Intellekt, getrieben durch das ihm innewohnende Causalgesetz, für jede Empfindung ein Objekt als Ursache setzt. Diesem Objekte wird nun in diesem Akte selbst sogleich auch eine Stelle in Raum und Zeit gegeben; ebenso wie die Idee vom Causalgesetz müssen also in unserem Intellekt die Ideen von Raum und Zeit schon vor der Erfahrung da sein, denn sonst könnte man eben die Objekte nicht hineinsetzen. Am deutlichsten wird dies einleuchten, wenn man daran denkt, dass schon bei der allerersten Empfindung, welche im Bewusstsein des neugeborenen oder vielmehr des ungeborenen Kindes auftaucht, ohne Zweifel ein Objekt im Raume gesetzt wird, dass also da schon die Idee des Raumes gewissermaassen als ein Bestandtheil in der Idee der Causalität vorhanden sein muss. In der That sagt ja das Gesetz der Causalität, dass in dem einem Dinge keine Veränderung stattfinden könne, ohne dass ein zweites, von jenem getrenntes, vorhanden ist, welches eben darauf wirkt. Somit liegt in der Idee der Causalität schon die Vorstellung des Aussereinander, d. h. des Raumes und da jene, wie schon gezeigt wurde, a priori ist, so muss es auch diese sein. Die Behauptung, dass die Anschauung des Raumes a priori gegeben ist, muss man aber nicht dahin missverstehen, als ob das eben erwachende Bewusstsein in diesem Raume schon orientirt und im Stande wäre, jeder Vorstellung ihren richtigen Ort darin genau anzuweisen. Nur die Idee des Raumes überhaupt ist schon da, insofern das Objekt eben als ein äusseres vorgestellt wird.
Der zweite Beweisgrund, den Kant besonders ausführt, liegt darin, dass wir die Eigenschaften des Raumes und der Zeit a priori, d. h. unabhängig von aller Erfahrung, erkennen, was doch unmöglich wäre, wenn Raum und Zeit etwas ausser unserem Anschauungsvermögen vorhandenes wären. Dass es noch heutzutage ernste Denker giebt, welche die Wissenschaft von Raum und Zeit, d. h. die Mathematik für Erfahrungswissenschaft erklären, zeigt, wie schwer es ist, [9/10] von dem Vorurtheile loszukommen, dass Raum und Zeit Attribute der Dinge an sich wären.
Es ist wiederum J. St. Mill, welcher in seinem mit Recht so berühmt gewordenen System der deduktiven und induktiven Logik zu beweisen sucht, dass die Axiome der Geometrie Erfahrungssätze seien. Sieht man sich aber seine Beweisgründe genauer an, so wird man in ihnen selbst das Zugeständniss versteckt finden, dass die Raumanschauung doch a priori ist. Im 5. Paragraphen des 5. Kapitels heisst es:
„Das Fundament der Geometrie würde daher auch dann auf der direkten Erfahrung beruhen, wenn die Experimente (welche in diesem Falle bloss in dem aufmerksamen Anschauen bestehen) bloss mit dem Statt fänden, was wir unsere Ideen nennen, d. h. mit den Figuren in unserem Geiste nicht und mit äusseren Gegenständen. In allen Systemen des Experimentirens nehmen wir einige Gegenstände, um sie als Repräsentanten aller derjenigen dienen zu lassen, welche ihnen gleichen; und in dem vorliegenden Falle sind die Bedingungen, welche einen realen Gegenstand zum Repräsentanten seiner Klasse befähigen, durch einen Gegenstand, der nur in unserer Phantasie existirt, vollständig (!) erfüllt. Ohne daher die Möglichkeit zu leugnen, dass wir durch blosses Denken zweier gerader Linien und ohne sie zu sehen, glauben können, dass sie keinen Raum einschliessen können, behaupte ich, dass wir diese Wahrheit nicht bloss auf Grund unserer imaginären Anschauung hin glauben, sondern weil wir wissen, dass die eingebildeten Linien den wirklichen genau gleich sehen und dass wir von ihnen auf wirkliche Linien ganz mit derselben Sicherheit schliessen können als von einer wirklichen Linie auf eine andere wirkliche."
Ist nicht mit diesen Worten Alles zugestanden? In der That der krasseste Materialist, der in aller Einfalt unsere Vorstellungen für getreue Abbilder der Dinge an sich nimmt, wird doch niemals von einer eigentlich empirischen Vorstellung behaupten, dass sie ihren objektiven Gegenstand ganz vollständig decke, so dass man ohne den Gegenstand ferner auf die Sinne wirken zu lassen aus der blossen Vorstellung etwas Neues von ihm lernen könnte. Eine Vorstellung, welche irgendwie einen eigentlich empirischen d. h. durch Empfindungen gegebenen Inhalt hat, kann gar nie [10/11] fertig sein und wäre es die Vorstellung des einfachsten Wassertropfens. Die genauere Untersuchung mittels der Sinne wird uns daran immer Neues und wieder Neues kennen lehren, was wir aus der vorher gewonnenen Vorstellung niemals hätten folgern können. Ganz anders ist es - wie Mill in den angeführten Sätzen zugiebt - mit den Vorstellungen von räumlichen Gebilden als solchen. Sie stehen fix und fertig in unserem Bewusstsein und das Betasten, Besehen oder Behorchen eines entsprechenden materiellen Gegenstandes kann uns von den räumlichen Beziehungen nichts lehren, was wir nicht ohnedies aus der Vorstellung hätten folgern können.
Ich dächte es wäre hieraus klar ersichtlich, dass unsere Kenntniss von den Eigenschaften des Raumes und der Begrenzungen seiner Theile nicht empirisch erworben ist, dass sich dieselbe vielmehr gründet auf die ursprüngliche Natur unseres Intellekts. Selbstverständlich soll hiermit nicht behauptet sein, dass bei der Entwickelung der bewussten Erkenntniss von den Eigenschaften des Raumes die Erfahrung keine Rolle spiele. Die Erfahrung d. h. zunächst die wechselnden Empfindungen geben die Gelegenheit und machen dem Bewusstsein das Bedürfniss fühlbar, sich über das klar zu werden, was gleichsam schlummernd darin vorhanden ist.
Endlich lässt sich ein gewichtiges Argument noch mit wenigen Worten aussprechen. Alle Gegenstände der Welt kann man wegdenken, nur nicht Raum und Zeit. Daraus geht klar hervor, dass sie nicht Dingen ausser uns entsprechen, denn was ich absolut nicht wegdenken kann, muss zum denkenden Subjekte selbst gehören.
Sowie man einmal klar eingesehen hat, dass Raum und Zeit nur die nothwendigen Formen sind unter welchen für unser Anschauungsvermögen Dinge als Objekte erscheinen können, dann ist auch klar, dass alle übrigen Prädikate, welche wir den Dingen und ihren Beziehungen beilegen, als Entfernung, Kraft, Trägheit, Masse, Bewegung ebenfalls subjektiv durch die Beschaffenheit unseres Verstandes bedingt sind, denn allen diesen Prädikaten liegen die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit zu Grunde.
Mir scheint, man kann zu derselben Erkenntniss auch auf einem andern Wege kommen, der vielleicht noch gangbarer ist, weil er nicht gleich beim ersten Schritte ein Aufgeben eingewurzelter Täuschungen fordert. In der That, stellen wir uns auf den naiven [11/12] Standpunkt des Materialismus, der die vom Verstande konstruirte Sinnenwelt so zu sagen für baare Münze nimmt, gehen wir aber dieser Sinnenwelt mit unserem Verstande näher zu Leibe, um sie zu zergliedern wie es die Naturwissenschaft thut. Da belehrt uns denn bald die Physik, dass es zum Beispiel mit den Farben doch nicht so voller Ernst ist, dass ein Körper so oder so gefärbt erscheint, je nachdem er diese oder jene Art von Schwingungen eines feinen Mediums besser reflektirt. Dieselbe Wissenschaft zeigt uns, dass die Undurchdringlichkeit auf abstossenden Kräften beruht, die Wärme auf kleinen sehr raschen Bewegungen der kleinsten Theilchen gegeneinander. Die Chemie zeigt uns gar, dass der homogenste Körper aus unzähligen heterogenen Theilen zusammengesetzt ist, die durch Kräfte im Gleichgewicht in bestimmten Lagen erhalten werden. Gehen wir der Naturforschung bis in ihre letzten Konsequenzen nach, so zerstäubt vor unsern Augen die Materie in Atome, d. h. in absolut ausdehnungslose wirksame Punkte, die im Raume zerstreut sind, und die durch ihre Bewegungen und gegenseitigen Einwirkungen aufeinander alle Erscheinungen hervorbringen.
Die Einwirkungen der Atome aufeinander oder ihre Kräfte sind durchaus nur Bewegungskräfte, anziehende oder abstossende, d. h. zwei Atome haben entweder die Tendenz sich einander zu nähern oder sich voneinander zu entfernen. Damit ist auch eigentlich das ganze Wesen des Atomes vollständig erschöpft. Das Atom ist im Grunde genommen weiter nichts als ein System von unendlich vielen Richtungen, die sich, wie die Richtungen eines Strahlenbündels sämmtlich in einem Punkte schneiden und die Einwirkung zweier solcher Systeme hat eben auch nur einen geometrischen Sinn, nämlich den, dass der gemeinsame Schnittpunkt des einen Systemes sich dem Schnittpunkt des andern zu nähern oder sich von ihm zu entfernen strebt.
Ist denn aber nicht eben in dem Schnittpunkte noch etwas besonderes? Er ist ja doch eigentlich der Ort, wo nach der gewöhnlichen Auffassung sich das Atom selbst befindet. Richtiger wäre es freilich, das ganze System von Kraftrichtungen als das Atom aufzufassen und es mithin überall im Raume gegenwärtig zu denken. In der That, müssen wir nicht sagen, dass irgend ein Atom der Sonne auch hier auf der Erde gegenwärtig ist? übt es doch hier eine gegen die Sonne gerichtete anziehende Wirkung aus. [12/13]
Die Frage nun, ob in dem gemeinsamen Durchschnittspunkt der Kraftrichtungen des Atoms, in dem Anziehungs- oder Abstossungscentrum nicht doch noch etwas von anderer als bloss geometrischer Natur zu finden sei, wird wohl von Manchem dahin beantwortet, dass hier die Masse des Atomes ihren Sitz habe. Sehen wir uns aber den Begriff der Masse etwas näher an, so löst auch er sich sofort auf in rein geometrische Relationen. Wir schreiben dem einen von zwei Kraftcentren soviel mal mehr Masse als dem andern zu, um wievielmal weniger Geschwindigkeit an ihm durch die gegenseitige Einwirkung erzeugt wird, als am andern. Wir schreiben beispielsweise der Sonne 319000 mal mehr Masse zu, als der Erde, weil durch die gegenseitige Anziehung dieser beiden Wirkungscentra der Sonne in einer Sekunde 319000 mal weniger Geschwindigkeit mitgetheilt wird, als der Erde. Was von der Gesammtmasse der grössten Atomkomplexe gilt, das gilt selbstverständlich auch von der Masse des einzelnen Atomes.
So sehen wir also, wenn wir vom materialistischen Standpunkt ausgehend den Weg der Naturforschung bis in seine letzte Konsequenz verfolgen, wie sich die auf den ersten Anblick so massive materielle Welt verflüchtigt in ein System von absolut rein geometrischen Linien die im Laufe der Zeit nach unverbrüchlichen Gesetzen ihre gegenseitige Lage ändern. Von einer qualitativen Bestimmtheit, die für sich selbst irgend welche Bedeutung hätte, bleibt gar nichts übrig. Jedes hat nur Sinn in einer Beziehung auf ein anderes, in letzter Linie auf das wahrnehmende Subjekt. In der That sind ja alle übrig bleibenden Bestimmungen nur gegenseitige Entfernungen von Punkten, die sich gesetzmässig ändern, denn auch die Bestimmung von Kraft und Masse läuft auf die Bestimmung der Geschwindigkeit hinaus, mit welcher sich eben jene Entfernungen ändern.
Das ist wohl einleuchtend, dass die so erkannte materielle Welt nicht mehr für das genommen werden kann, wofür man sie anfänglich nimmt, nämlich für das getreue Abbild vom Zusammensein wirklicher Existenzen, die gerade so weiter existirten, wenn auch das Bewusstein aufhörte, worin das Bild angeschaut wird. So bis auf den Grund durchschaut verräth sich die materielle Welt als das was sie wirklich ist, als das Gespinnst unseres eigenen Intellektes, gesponnen in den ihm eigenthümlichen Formen Causalität, Raum und Zeit. [13/14]
Das schliessliche Ergebniss unserer von zwei Seiten zusammentreffenden Betrachtungen, dass nämlich die ganze materielle Welt Nichts ist als unsere Vorstellung, ist nie klarer und anschaulicher ausgesprochen, als von Helmholtz in der Einleitung zum dritten Abschnitte seiner physiologischen Optik. Er sagt:
„Unsere Anschauungen und Vorstellungen sind Wirkungen welche die angeschauten und vorgestellten Objekte auf unser Nervensystem und unser Bewusstsein hervorgebracht haben. Jede Wirkung hängt ihrer Natur nach ganz nothwendig ab sowohl von der Natur des Wirkenden als von der desjenigen, auf welches gewirkt wird. Eine Vorstellung verlangen, welche unverändert die Natur[,] des Vorgestellten wiedergäbe, also im absoluten Sinne wahr wäre, würde heissen eine Wirkung verlangen, welche vollkommen unabhängig wäre von der Natur desjenigen Objekts auf welches eingewirkt wird, was ein handgreiflicher Widerspruch wäre. So sind also unsere menschlichen Vorstellungen, und so werden alle Vorstellungen eines intelligenten Wesens, welches wir uns denken können, Bilder der Objekte sein, deren Art wesentlich mit abhängt von der Natur des vorstellenden Bewusstseins und von deren Eigenthümlichkeit mitbedingt ist.
Ich meine daher, dass es gar keinen möglichen Sinn haben kann, von einer andern Wahrheit unserer Vorstellungen zu sprechen, als von einer praktischen. Unsere Vorstellungen von den Dingen können gar nichts anderes sein als Symbole, natürlich gegebene Zeichen für die Dinge, welche wir zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen. Wenn wir jene Symbole richtig zu lesen gelernt haben, so sind wir im Stande mit ihrer Hilfe unsere Handlungen so einzurichten, dass dieselben den gewünschten Erfolg haben, d. h. dass die erwarteten neuen Sinnesempfindungen eintreten. Eine andere Vergleichung zwischen den Vorstellungen und den Dingen giebt es nicht nur in Wirklichkeit nicht - darüber sind alle Schulen einig - sondern eine andere Art der Vergleichung ist gar nicht denkbar und hat gar keinen Sinn. Dies letztere ist der Punkt, auf den es ankommt, und den man einsehen muss, um aus dem Labyrinthe widerstreitender Meinungen heraus zukommen. Zu fragen, ob die Vorstellung, welche ich von einem Tische, seiner Gestalt, Festigkeit, Farbe, Schwere u. s. w. habe, an und für sich, abgesehen von dem praktischen Gebrauche, den ich von dieser Vor-[14/15]stellung machen kann, wahr sei und mit dem wirklichen Dinge übereinstimme, oder ob sie falsch sei und auf einer Täuschung beruhe, hat gerade soviel Sinn als zu fragen, ob ein gewisser Ton roth, gelb oder blau sei. Vorstellung und Vorgestelltes sind offenbar zwei ganz verschiedenen Welten angehörig, welche ebensowenig eine Vergleichung unter einander zulassen als Farben und Töne oder als die Buchstaben eines Buches mit dem Klang des Wortes, welches sie bezeichnen".
Von dieser anderen Welt, welche der materiellen oder der Welt der sinnlichen Anschauung als eine transcendente oder metaphys[is]che, nicht in den Formen von Raum, Zeit und Causalität begriffene, gegenübersteht, können wir absolut nie etwas durch unsern Verstand erfahren, aber von ihrer Existenz können wir überzeugt sein, denn sie liegt ja eben der am Faden der Causalität sich abwickelnden Welt der Vorstellung zu Grunde.
Da die Dinge an sich vollkommen unzugänglich sind, so können wir auch nicht einmal ihren Einfluss auf das anschauende Subjekt, welcher eben die Empfindungen zur Folge hat, in seinem wahren Wesen erkennen. Wohl aber können wir eine andere hierauf bezügliche Untersuchung in Angriff nehmen. In der anschaulichen Welt der Körper finden wir nämlich solche, welche für die Erscheinunsformen bewusster Subjekte zu nehmen wir allen Grund haben. Vor allen andern gilt dies vom eigenen Leibe sofern er räumlich angeschautes Objekt ist, sodann auch von den übrigen Organismen, welche mit dem eigenen Liebe[Leibe] eine durchgreifende Aehnlichkeit zeigen. An diesen angeschauten Objekten können wir nun füglich nach denjenigen Vorgängen forschen, von denen wir berechtigt sind anzunehmen, dass ihnen im zugehörigen Subjekte das Entstehen von Empfindungen und Vorstellungen entspricht.
Mit dieser Untersuchung befinden wir uns ganz auf dem Boden, auf welchem die Hülfsmittel unseres Verstandes, Raum, Zeit, Causalität anwendbar sind, denn hier ist nicht die Rede von dem zu Grunde liegenden übersinnlichen Ding an sich, sondern lediglich von Erscheinungen und ihren gesetzlichen Beziehungen aufeinander - von einem organischen Leibe nämlich und von den Körpern, welche darauf wirken. [15/16]
Wir befinden uns, genauer gesprochen, mit der in Rede Stehenden Untersuchung auf dem Boden der Wissenschaft, welche wir in diesen Stunden mit einander zu behandeln haben - auf dem Boden der Physiologie.
In der That, die Erforschung derjenigen materiellen Vorgänge, welchen vom subjektiven Standpunkte betrachtet das Entstehen der Empfindungen und Vorstellungen entspricht, ist die Aufgabe der Physiologie der Sinne, mit welcher ich diesmal unseren Cursus zu beginnen gedenke.


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