[aus: Naturwissenschaftliche Thatsachen und Probleme. Populäre Vorträge von W. Preyer.; Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel. 1880.; Seiten 121-152]





DIE GRENZEN DER SINNLICHEN





WAHRNEHMUNG.





Vortrag, gehalten in Berlin am 25. Februar 1876.





Unwissenheit erzeugt öfter Zuversicht als Wissen: nicht die viel wissen, sondern die wenig wissen sind es, welche so entschieden behaupten, dieses oder jenes Problem werde niemals von der Wissenschaft gelöst werden.

Charles Darwin.



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» E rkenne Dich selbst!« lautete die Inschrift in der Vorhalle des Delphischen Tempels am Parnass, wo kluge Priester in vieldeutigen Orakelsprüchen über kommende Ereignisse Auskunft gaben. Eben dieser Spruch des weisen Chilon war es, den Sokrates als höchste Aufgabe der Philosophie vermachte. Aber auch die Naturwissenschaft hat ein Anrecht an das Problem der Probleme, und die Glanzepochen ihrer eigenen Geschichte bezeichnen zugleich die Meilensteine auf der fortschreitenden Bahn der Selbsterkenntniss.

Denn nicht die blosse Vermehrung des Wissens durch viele und grosse Entdeckungen, nicht das Anwachsen empirischen Materials ist es, was jene Epochen charakterisirt, sondern der neu gewonnene Einblick in die Natur des Menschengeistes, die neue Methode der Forschung und die Selbstvertiefung.

Darum steht Copernicus einzig da, weil er nur durch die logische Kraft des Verstandes die Welt gewissermaassen aus den Fugen hob, indem er der Menschheit zeigte, dass sie nicht der Natur gegenübersteht als Zuschauer, sondern eine sie bestimmende Rückwirkung ausübt. Und das grösste Verdienst Galilei's besteht nicht darin, dass er das Gesetz in dem fallenden Stein und den Schwingungen des Pendels ebenso sicher auffand, wie unter den Sternen des Toscanischen Himmels, so gross auch diese Leistung ist, und nicht in dem berühmten »Sie bewegt sich doch!«, sondern in der Methode. Er war es, der zuerst mit der vollen Ursprünglichkeit des gesunden Menschenverstandes die Aristotelische Scholastik mannhaft abschüttelnd, auf die Erscheinungen selbst direct einging, indem er experimentirte und so die Wissenschaft der Mechanik schuf.

Nicht weniger selbständig trat Descartes auf, den Bruch mit [123/124] der Vergangenheit vollendend, indem er das Selbstdenken wieder in seine Rechte einsetzte, als Mathematiker ganz neue Operationen des Verstandes begründete, die Psychologie reformirte.

Den letzten entscheidenden Schritt vorwärts auf dem mühseligen Pfade der Selbsterkenntniss that Kant, der mit echt Copernicanischer Autonomie, statt wie die Früheren den menschlichen Geist von den Erscheinungen abhängen zu lassen, vielmehr umgekehrt die Erscheinungswelt in ihrem ganzen Umfange sich um »die Sonne der Vernunft« bewegen liess.

So haben im Laufe der Jahrhunderte die verschiedensten Disciplinen, Astronomie und Mechanik, Psychologie und Mathematik, denen in der Gegenwart die morphologischen Naturwissenschaften sich anreihen, sofern sie den Menschen als Theil eines Theiles, als ein auf natürliche Weise entwickeltes Wesen erkennen lassen, die bedeutendsten Beiträge zur Selbsterkenntniss geliefert. Nur diejenige Lehre, welche sich die Erklärung der Lebenserscheinungen zur Aufgabe macht, also auch die organischen Bedingungen für den Erkenntnissprocess selbst ausfindig zu machen sucht, die Physiologie, insonderheit die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung, blieb zurück, weil erst viele andere Wissenschaften da sein mussten, ehe sie sich ausbilden konnte. Gerade sie hat aber eine gewichtige Stimme in dieser Untersuchung, welche auch in weiteren Kreisen wohl gehört zu werden verdient.

Eine der grössten Errungenschaften der Physiologie des neunzehnten Jahrhunderts besteht in der Erkenntniss, dass alle Eigenschaften der Dinge in der ganzen Welt Zustände der sie wahrnehmenden Beobachter sind, also von der Beschaffenheit der Sinne abhängen.

In der That: wem beide Sehnerven, beide Hörnerven, beide Riechnerven durchschnitten, desgleichen die Geschmacksnerven durchtrennt und die Endigungen sämmtlicher Tastnerven unempfindlich gemacht werden, dem wird kein Körper mehr erscheinen können. Es ist undenkbar, dass für einen solchen die Welt noch existirte, auch wenn das Gehirn noch in Thätigkeit bliebe. Sie hat nur existirt, so lange die Sinne gesund waren. Nun ist neben dem Ohrenbrausen und den Lichtblitzen von den [124/125] Schnittwunden nur noch ein Erinnerungsbild, ein Welttraum geblieben, wenn nicht sogleich nach dem Aufhören aller gewohnten peripheren Nervenerregungen traumloser Schlaf eintritt oder das Leben erlischt. Auch dem Schlafenden, dessen Sinne ruhen, verschwindet allnächtlich die gegenständliche Welt. Sie wird jeden Morgen von dem Erwachenden auf's Neue entdeckt.

Aber man braucht sich die Sinnesempfindungen nicht ganz oder theilweise wegzudenken, um ihren die Welt bestimmenden Einfluss zu würdigen; auch wenn sie sich nur wenig verändern, verändert sich mit ihnen zugleich die Natur. Einem grünblinden Auge werden die Wälder und Wiesen im Frühling roth statt grün. Der Fiebernde findet die umgebende Luft kalt, auch wenn sie wärmer als gewöhnlich ist. Und wenn man nur wenig die Thierreihe hinabsteigt, erkennt man leicht, wie sehr sich das Weltbild ändert. Anders ist es den tauben und blinden Bewohnern der dunkeln Meerestiefe, die aber trefflich tasten, anders den im heiteren Sonnenschein lebenden Wesen mit verschiedenartigen Augen. Schon die eine Thatsache, dass völlig blindgeborene Kinder vom Lichte nichts ahnen, auch im Traume niemals sehen, sondern erst nach glücklichen Operationen, nachdem sie sehen gelernt haben, anfangen, mit den Worten Licht und Farbe einen Sinn zu verbinden, beweist, dass nichts von der sichtbaren Welt, ja nicht einmal Geträumtes, ohne die Vermittlung des Sehorgans da ist. Ebenso giebt es nichts Lautes ohne Ohren es zu hören, und keine Wärme und Kälte ohne Haut sie zu fühlen. Je vielseitiger dagegen und je feiner abgestuft die Wahrnehmung ist, um so mehr Verschiedenheiten sind vorhanden, um so vollständiger wird die Weltkenntniss, um so breiter die Grundlage alles Wissens. In erster Linie kommt Alles auf die Sinneswahrnehmung an. Ohne sie zerfliesst die laute, bunte, warme Welt in nichts. Darum ist es von weittragender Bedeutung, zu ergründen, wie weit das Wahrnehmungsvermögen überhaupt reicht.

»Menschliches Wissen ist Stückwerk, und Stückwerk wird es bleiben« ist ein grosses und wahres Wort. Auch die begabtesten Geister sind endliche Wesen, in ihrem Thun und Denken beschränkt. Abhängig und begrenzt ist der ihnen zukommende [125/126] Spielraum. Dieses bezweifelt Niemand. Aber die Frage ist: »Wo sind die Grenzen? Welcher Art sind die ursprünglichen, schon beim lernenden Kinde vorhandenen Schranken der Wahrnehmung, über welche der geübteste Forscher mit allen Instrumenten zur Zeit nicht hinauskommt, weil die Organisation ihre Dienste versagt?« So schwierig diese Aufgabe wird, wenn Alles, was dazu gehört, vorgenommen werden soll, so einfach gestaltet sie sich, wenn nur das allen sinnlichen Wahrnehmungen Gemeinschaftliche, allen Unerlässliche und zugleich ihnen allein Zukommende betrachtet wird. Die unbefangene Selbstbeobachtung zeigt nämlich leicht, dass allem Wahrgenommenen etwas Empfundenes zu Grunde liegt, und dass dem Empfundenen ausnahmslos irgend eine Stelle im Raum und irgend ein Augenblick in der Zeit entspricht. Das Licht, welches ein Auge empfindet, ist in jedem Falle irgendwo und irgendwann. Diese drei Elemente, Empfindung, Zeit und Raum sind in jeder Wahrnehmung enthalten, als drei nothwendige Factoren aller Erkenntniss. Sie reichen für sich nicht aus, aber sie sind unersetzlich und der Wahrnehmung allein eigen. Wenn nur einer fortfällt, ist kein Wahrnehmen mehr möglich und alles Erkennen hört auf.

Die Empfindung kommt zuerst in Betracht. Es ist bekannt, dass nur das Sichtbare, Hörbare, Tastbare nebst dem Riechbaren und Schmeckbaren die ganze sinnlich wahrnehmbare, d. h. die Erscheinungs-Welt zusammensetzt, also das gesammte Material der eigentlichen Naturforschung in sich schliesst. Sehr wenig und doch Alles! Denn was überhaupt gewusst wird, muss auf die eine oder andere Art vor kürzerer oder längerer Zeit in der Empfindung gewesen sein: schliesslich muss Alles, worauf das Wissen beruht, das Thor der Sinne passirt haben. Der ganze Inhalt aller Wissenschaft ist in letzter Instanz auf dem sinnlich Empfundenen aufgebaut, und zwar durch die von Alters her bekannten fünf Sinne vermittelt, welche dem Lichte, dem Schall, der Schwere und Wärme und der chemischen Affinität entsprechen. Für die Elektricität und den Magnetismus ist bis jetzt kein besonderer Sinn entdeckt worden. Wohl ist es wahr, dass eine Reihe von Empfindungen ausser den genannten existirt, wie [126/127] die Müdigkeit, der Hunger, die Bewegungsempfindungen, aber diese Empfindungen sind nicht Werkzeuge des Wissens, wie die des Sehens und Hörens, vielmehr selbst erst noch aufzuklärende Gegenstände der Untersuchung. Diese Gemeingefühle sind nicht Zustände, deren Ursachen in eine Aussenwelt verlegt werden, sondern Zustände, deren Ursachen der sie empfindende Beobachter in den eigenen Körper verlegt.

Zu den fünf Classen sinnlicher Empfindung, welche das ursprünglich gegebene Erfahrungsmaterial enthalten, tritt die Einordnung in Zeit und Raum, die sich gleich bleiben für alle Sinne, hinzu. Um aber zu erfahren, wieviel sich in jedem Gebiete unterscheiden lässt, ist es nothwendig, den Inhalt der reinen Empfindung möglichst von allem Räumlichen und Zeitlichen zu befreien. Wird ihr in Gedanken Alles genommen, was ihr genommen werden kann, ohne dass sie selbst verschwindet, so bleibt schliesslich nur zweierlei übrig: die Empfindungsstärke und die Empfindungsart. Jedes Sinnesgebiet hat eine ihm eigene Stärke oder Intensität und Art oder Qualität, über welche man wohl allerlei Speculationen aufgestellt hat, welche aber beide an sich in ihrem Wesen undefinirbar sind. Man kann sie nicht beschreiben, man muss sie eben empfinden, um zu wissen, was sie sind. Dann erst haben die Bezeichnungen der Sprache einen Sinn. Diese Bezeichnungen sind zwar bekannt genug, werden aber oft nicht in die richtige Beziehung zueinander gesetzt. Beim Sehsinn heisst die Intensität Helligkeit, die Qualität Farbe, beim Hörsinn die Intensität Schallstärke, die Qualität Tonhöhe; beim Tastsinn ist man noch nicht einig über das, was Stärke und das, was Art der Empfindung ist. Ich finde, dass man sich von den Thatsachen die befriedigendste Rechenschaft geben kann, wenn hier repräsentirt wird die Intensität durch den Druck, die Qualität durch die Temperatur. Beim Geschmack und Geruch, deren Empfindungen noch nicht gründlich untersucht worden sind, ist keine besondere sprachliche Bezeichnung für Stärke und Art der Empfindung im Allgemeinen vorhanden.

Bei allen Sinnen giebt es zahlreiche Ausdrücke für die Grade [127/128] der Stärke sowohl, als der Art. Beide bilden in jedem Sinnesgebiete Reihen oder Empfindungslinien. Man hat für das Auge in verschiedenen Abstufungen hell und dunkel als Grade der Stärke der Lichtempfindung, und unterscheidet in der natürlichen Farbenreihe als Grade der Qualität die warmen Farben die dem Braun, Roth und Gelb verwandten auf der einen Seite, von den kalten grünblauen und blauen Farben auf der anderen. Reines Grün steht in der Mitte. Neben Roth ist es kalt, neben Blau warm. Beim Ohr beziehen sich die Ausdrücke laut und leise nur auf die Stärke der Empfindung. Die Töne sind aber zugleich entweder hoch oder tief und schreiten in der natürlichen Tonlinie von den tiefsten auf der einen Seite in Perioden regelmässig vor zu den höchsten auf der anderen. Beim Tastsinn bezeichnet einerseits hart und weich, andererseits schwer und leicht die Grade der Empfindungsintensität, warm und kalt die der Qualität. In Betreff der ersteren ist jedoch zu bedenken, dass die Empfindung der Härte und Schwere nicht ohne Muskelbewegungen aufzutreten pflegen und wahre Widerstandsempfindungen sind, daher es vorzuziehen ist, den beiden gemeinschaftlichen Begriff der Berührungsempfindung für die Intensität zu wählen und deren Grade als Druck zu bezeichnen, welcher auch ohne Muskelbewegungen stattfinden kann, wie die Licht- und Schallempfindung ohne Bewegungen der Augen und Ohren. Die Geruchs- und Geschmacksempfindungen hat bis jetzt noch niemand in eine den Thatsachen gerecht werdende Reihe gebracht. Die Reihe laugenhaft, bitter, metallisch, salzig, süss, sauer scheint noch am ehesten haltbar. Freilich über die Geschmacksempfindung ist es misslich, Bestimmtes zu sagen, aber noch schwieriger scheint es, eine Übereinstimmung in Betreff der Geruchsempfindungen zu erzielen. Die Reihe der Qualitätsgrade brenzlich, faulig, modrig, würzig, geistig, ranzig (oder sauer) enthält noch mehr Willkür als die Geschmackslinie. Für solche Empfindungen reicht die Sprache der Wörter nicht aus, und Zeichen, wie etwa die Noten, wurden dafür noch nicht erfunden. Aber selbst für die Reihe der Farben ist noch keine Einstimmigkeit herbeigeführt worden, und die der Temperaturen [128/129] entbehrt sogar der sprachlichen Bezeichnung, wenn es sich um die Stufen zwischen heiss, warm, lau, kühl, kalt handelt. Da müssen schon die Thermometergrade eintreten. Nur die Tonreihe ist vollständig in der Empfindung und Sprache zugleich geordnet.

Solche Mängel hindern jedoch keineswegs die Begründung des Satzes, dass alle Empfindungen im gewöhnlichen Sinne, die in den Wahrnehmungen enthalten sind und das Material für die Denkarbeit, wie für alle Vorstellungen und Handlungen des täglichen Lebens abgeben, sich zusammensetzen aus den reinen Empfindungen, welche nur ihrer Qualität und Intensität nach unterschieden und in ungleicher Weise in die Zeit und den Raum eingeordnet sind.

Alle Farben der Natur sind Mischfarben und Weiss kommt nur zu Stande, wenn mindestens zwei einfache Farbenempfindungen gleichzeitig da sind. Schwarz erhält man, wenn die Helligkeit irgend einer Farbe oder Mischfarbe so abnimmt, dass letztere nicht mehr erkannt werden können, und Grau ist ein Weiss von geringer Helligkeit. So ergiebt sich auch die Empfindung der Sättigung oder Reinheit einer Farbe aus dem Zusammensein von wenigstens zwei einfachen Farbenempfindungen, indem das Gemisch beider um so weniger rein, um so weisslicher oder ungesättigter wird, je mehr ihr Abstand auf der Farbenlinie einem gewissen Werthe (nämlich dem Abstand der complementären Farbenpunkte) sich nähert. Es steht fest, dass die ganze sichtbare Welt aus einfachen Farbenempfindungen von wechselnden Helligkeitsgraden zusammengesetzt ist; alles, was man sehen kann, kommt schliesslich durch deren Combinationen zu Stande.

Für die gesammte hörbare Welt gilt Ähnliches. Die meisten Geräusche, und alle Klänge, auch die gesprochenen Worte, welche ein Gemisch beider sind, beruhen auf mannigfaltigem Zugleichsein und Wechseln einfacher Tonempfindungen. Denn fast in jedem Geräusche und in jedem Klanggemisch, kann man die einzelnen sie zusammensetzenden elementaren Töne heraushören. Schon ist es geglückt, auch umgekehrt manche der verwickelten Erzeugnisse des Kehlkopfs und Mundes aus ihren einfachen Bestand-[129/130]theilen künstlich zusammenzusetzen. Es giebt schlechterdings nichts Klingendes, das nicht schliesslich sich zurückführen liesse auf die ungleich starken und ungleich hohen einfachen Töne, die in der Empfindung ursprünglich gegeben sind. Namentlich die Empfindungen der Klangfarbe und der Consonanzen und Dissonanzen sind nur möglich - hierin mit gewöhnlichen Geräuschen übereinstimmend - wenn wenigstens zwei einfache Tonempfindungen schon da sind, ähnlich wie die Mischfarbe oder das Weissliche der Farbe oder Weiss, gleichsam ein Farbengeräusch, nur entsteht, wo mehr als eine einfache Farbe ist.

Auch für die drei anderen Sinne gilt durchweg, dass alles durch sie Empfundene aus einigen wenigen einfachen oder reinen Empfindungen sich zusammensetzt, so alles Tastbare aus einfachen, ungleich starken Berührungs- und Temperaturempfindungen. Was zu diesen in den Wahrnehmungen mittelst des Tastsinns hinzukommt, ist durch complicirte Besonderheiten, namentlich Bewegungen und Verschiedenheiten der Haut bedingt, ist nicht mehr einfach, wie beispielsweise die Empfindung des Nassen. Nass ist diejenige Flüssigkeit, welche die Haut so vollständig berührt, dass die Luft aus den kleinen Vertiefungen der Hautoberfläche verdrängt wird, trocken dagegen sind diejenigen Körper, welche bei der Hautberührung die Luft nicht verdrängen. Eine trockene Flüssigkeit ist Quecksilber. Auch die Empfindungen des Rauhen, Klebrigen sind complicirte Berührungsempfindungen. Werden also die Grenzen für die fünf ursprünglichen Intensitäts- und Qualitäts-Reihen bestimmt, so ist damit zugleich eine Grenze aller Wahrnehmung bestimmt.

Zuvörderst die Stärke. Hier ist die untere Grenze immer dann erreicht, wenn das Sinnesorgan ruht. In ganz finsterer Nacht, in lichtleeren Höhlen oder in den Tiefen der Erde ist die geringste Helligkeit ebenso vorhanden, wie in dem Auge, das im hellsten Tageslicht durch lichtdichte Tücher verdeckt wird, also ruht. Niemand ist im dunkeln Schacht im Stande, das Schwarze der Finsterniss zu unterscheiden von dem Schwarz im Gesichtsfeld des verschlossenen Auges. Also auch ohne dass man irgend einen Gegenstand sieht, ist im wachen Zustande stets eine Licht-[130/131]empfindung vorhanden, nämlich die Empfindung des Augenschwarz, d. h. der geringsten Heiligkeit. Man sieht die Finsterniss. Diese Empfindung, welche übrigens keineswegs immer dieselbe ist - hellgrau, dunkelgrau, tiefschwarz - rührt her von den Erregungen des Sehnerven aus inneren Gründen. Im Auge fliesst warmes Blut, ein nicht unbedeutender veränderlicher Druck herrscht im Inneren des Augapfels, die Nervenenden der Netzhaut werden schon hierdurch afficirt und die Erregung, welche so schwach ist, dass sie beim gewöhnlichen Sehen garnicht gemerkt wird, ist immer da. Es ist klar, dass Alles, was weniger hell leuchtet, als dieses Schwarz, unmöglich direct gesehen werden kann. Es muss, um sichtbar zu werden, zuvor nothwendig stärker leuchtend gemacht sein. Wenn in einem dunkeln Zimmer ein Eisendraht ausgespannt ist, durch welchen ein elektrischer Strom geht, so wird, falls die Stärke desselben zunimmt, der Draht nach und nach warm. Ein Mensch sieht aber den warmen Draht ebensowenig wie den kalten. Nimmt nun die Stärke des elektrischen Stromes immer mehr zu, so wird der Draht heiss und fängt schliesslich bei etwa 300° an zu glühen. Dann sieht man ihn, sieht ihn glühen. Es lässt sich wohl denken, dass andere Augen schon bei 20° im Dunkeln das Metall am Leuchten erkennen. Ein solches Auge würde die Sommernächte prachtvoll erhellt und in den Tiefen der Erde die Gesteine wie junge Lava feurig erglänzen sehen; menschliche Augen können das nicht; sie unterscheiden Kaltes und Warmes im Dunkeln nicht, bis die Bewegung so stark wird, dass die Körper heller erscheinen, als das Schwarze des Auges. Dagegen ist es möglich, dass Nacht- und Dämmerungs-Thiere allerdings den Draht schon früher leuchten sehen. Nur wird es nicht leicht festzustellen sein.

Für das Ohr gilt eine ähnliche Einschränkung wie für das Auge, obwohl sie noch nicht allgemein anerkannt wird. In lautloser Ruhe, im vollen Genusse desjenigen Zustandes, welchen man die Stille nennt, hat man doch immer eine Gehörsempfindung, und zwar die schwächste, welche im wachen Leben vorkommen kann. Die zarten Enden der Hörnerven liegen in einer Flüssigkeit in nächster Nähe von warmem, strömendem Blute, wodurch [131/132] sie in fortdauernder schwacher Erregung erhalten werden. Diese Erregung eben ist es, welche die Empfindung der Stille giebt. Alles was gehört wird, wird dadurch gehört, dass es lauter ist, als dieses im Innersten des Ohres stets vorhandene entotische Geräusch. Man wird leicht, weil diese Erregung immer da ist, verleitet zu meinen, sie sei nicht da und die Stille sei keine Empfindung, vielmehr das Fehlen jeder Empfindung, denn es ist eine allgemeine Regel, dass nicht beachtet wird, was immer da ist, oder woran man sich gewöhnt hat, sondern nur die Veränderung. Aber schon die eine Thatsache, dass die Empfindung der lautlosen Ruhe durchaus nicht immer sich selbst gleich ist, wie man bei gespanntester Aufmerksamkeit bald herausfindet, beweist unwiderleglich, dass sie eine wahre Empfindung ist. Man hört die Stille. Manchmal scheint es, als ob sehr leise, ganz gleichmässig anhaltende hohe Töne im Ohr erklingen, wenn es vollkommen still ist, andere Male ist ein daneben hörbares, gleichmässig anhaltendes, sehr leises Geräusch deutlicher. Hält man die Ohren mit den Handflächen zu, so wird der Pulsschlag sogar in seinen einzelnen Phasen, sowie die Muskelzusammenziehung als ein sehr tiefer Ton wahrgenommen. Aber auch ohne dass man die Ohren verschliesst, giebt angestrengte Selbstbeobachtung Kunde von anderen Schallerscheinungen im Ohre, welche in Krankheiten leicht zunehmen. Diese sind jedoch zu trennen von der eigentlichen Empfindung der Stille. Sie entsprechen den entoptischen Funken, dem Lichtnebel, den Phosphenen im geschlossenen Auge, das gedrückt wird, während, die reine Empfindung der Stille der völligen Finsterniss oder dem reinen Augenschwarz correspondirt. Wie dieses erhalten wird durch Abnahme der Helligkeit irgend einer Farbe oder des Weiss, so wird die Stille erhalten durch Abnahme der Schallstärke irgend eines Tones oder Geräusches. Soll also der leiseste noch hörbare Schall bestimmt werden, so wird er immer noch lauter als das ununterbrochene entotische Geräusch sein. Daher haben die Versuche, bei denen man Korkkügelchen aus geringer Höhe, nahe am Ohr, auf Glasplatten fallen liess und das Geräusch zu hören sich bemühte, wenig Werth. Und wer in einer Entfernung von zehn [132/133] Meter das Tiktak einer Taschenuhr, oder auf dem Meere eine zwei geographische Meilen entfernte menschliche Stimme oder zwanzig Meilen entfernten Kanonendonner gerade noch hört, weiss darum keineswegs, wie leise das leiseste eben noch hörbare Geräusch im Ohre selbst ist. Um dieses zu finden, müsste man viel genauer vorgehen und das wahrzunehmende Geräusch erst dem entotischen Geräusch ähnlich machen.

Auch der Tastsinn ist, wie das Gesicht und Gehör, immer in Thätigkeit, obwohl nicht immer Tastempfindungen gemerkt werden. Nicht nur giebt die Berührung der Haut mit der Luft und den Kleidern dauernd Anlass, die Enden der Tastnerven zu erregen, die Haut hat selbst eine namentlich von der Menge und Temperatur des sie ernährenden Blutes abhängige Spannung. Hierdurch allein schon muss eine gewisse Druck- oder Spannungsempfindung zu Stande kommen, welche so lange nicht beachtet wird, als sie nahezu unverändert bleibt. Sowie sie durch Berührung mit oder ohne Abkühlung oder Erwärmung sich verändert, ist die Empfindung da. Demnach leuchtet ein, dass alle Versuche, die Stärke der leisesten Berührung zu bestimmen, darauf hinauslaufen, zu finden, wieviel stärker als die gewöhnliche Empfindung der gesunden Haut die schwächste Berührungsempfindung sein muss. Man hat gefunden, dass kleine, aus Hollundermark geschnitzte Stäbchen auf die Stirn gelegt, eine eben merkliche Berührungsempfindung geben, wenn sie zwei Milligramm wiegen; am Arme wird nach Verdopplung des Gewichts die Berührung noch nicht gemerkt, und für die meisten anderen Theile der Hautoberfläche nehmen, wie Aubert beobachtete, die eben spürbaren Gewichte bedeutend zu, so dass auf den wenig empfindlichen Fingernagel etwa ein Gramm gebracht werden muss, um eine Berührungsempfindung herbeizuführen. Fällt bei geschlossenem Auge ein Papierstückchen von weniger als fünf Milligramm auf den Handteller, so wird es, wie ich finde, nicht gemerkt. Man fühlt auch den gewöhnlichen Staub in der ruhigen Luft nicht, weil die stets vorhandene Hautspannung zu stark dagegen ist.

Für den Geschmack und Geruch gilt Entsprechendes. Immer [133/134] ist durch das Salz in der Mundflüssigkeit eine schwache Geschmackserregung da, und bei Prüfungen der Feinheit des Schmeckens und Riechens wohl zu erwägen, dass schon vor der Prüfung die Schmeck- und Riech-Nerven warm und allein schon durch die Bewegung des sie ernährenden Blutes afficirt sind. An die hierdurch bedingte Empfindung hat man sich aber gewöhnt; sie wird als uninteressant vernachlässigt, weil sie immer da ist, und Körper, welche keine stärkere Empfindung als diese geben, heissen eben geschmacklos und geruchlos.

So können also diejenigen Dinge durch das Auge nicht direct wahrgenommen werden, welche dunkeler, als das Schwarze im Auge sind; durch das Ohr lässt sich der Schall nicht erkennen, welcher leiser als der entotische Schall ist; mittelst der Haut sind die Körper nicht zu fühlen, welche weniger als die Haut selbst drücken, und was die Riech- und Schmecknervenenden nicht stärker erregt, als ihre gewöhnliche Umgebung, wird durch diese Nerven nicht erkannt.

Hiermit ist eine sehr bestimmte unübersteigliche, weil in der Organisation selbst begründete Grenze der directen sinnlichen Wahrnehmung, nämlich die untere Grenze für die Stärke aller Empfindung gegeben. Überall ist auch eine obere leicht im Allgemeinen zu finden, freilich in Zahlen auch noch nicht genau angebbar. Wenn das Licht der unbewölkten Mittagssonne im Hochsommer direct nur kurze Zeit in das Auge gelangt, so wird die Endausbreitung der Sehnerven schnell zerstört, und Galilei soll sogar das Augenlicht verloren haben, weil er zu eifrig die Sonnenflecken betrachtete. Schon das blendende elektrische Licht ist ungeschwächt in der Nähe zu hell für menschliche Augen. Ferner ist bekannt, dass ein einziger starker Knall völlige Taubheit herbeiführen kann, dass ein Stoss oder eine Quetschung, die Haut zerstörend, alle Tastempfindung unmöglich macht. Wer endlich Vitriolöl schmecken oder concentrirte, ätzende Gase riechen wollte, würde bald durch die Abstumpfung oder Vernichtung der betreffenden Nerven auch diese Sinnesthätigkeiten aufheben. Überall ist schnell eine Höhe der Nervenerregung erreicht, wo Schmerz, Abstumpfung, Zerstörung des Organes eintreten. Denn [134/135] wer von hellem Licht geblendet oder von dem schrillen Pfiff der Maschine in nächster Nähe überrascht wird, empfindet ebenso Schmerz wie der durch einen Stich Verwundete. Immer ist es eine zu starke Nervenerregung, welche der Zerstörung vorangeht. Also alle Sinnesempfindung hat in Betreff der Grade ihrer Stärke neben der unteren auch eine obere Grenze. Und wenn auch durch Vorsichtsmaassregeln und Instrumente die Annäherung an dieselbe gefahrlos bewerkstelligt wird, so ist es doch schlechthin unmöglich, sie zu beseitigen, da jede Art Empfindung über eine gewisse Stärke hinaus nicht ohne Schädigung der Nerven gesteigert werden kann.

Nun liesse sich denken, dass vielleicht innerhalb dieser Schranken die Wahrnehmbarkeit von Unterschieden keine bestimmte Grenze habe. Die Erfahrung lehrt, dass solches durchaus nicht der Fall ist. Vielmehr tritt hier eine Eigenthümlichkeit der Wahrnehmung zu Tage, welche, so nützlich sie auch für das Leben ist, als eine Einschränkung oder Fehlerquelle beim Erforschen der Naturvorgänge nicht selten sich geltend macht. Durch viele Experimente hat sich zunächst für das Licht herausgestellt, dass die geübtesten und schärfsten Augen unter den allergünstigsten Umständen nicht im Stande sind, zu unterscheiden, ob von zwei Lichtern das eine 1/300 heller oder dunkeler, als das andere ist. Erst bei 1/286 wird ein Unterschied der Helligkeit erkennbar und zwar für gelbes Licht, unter gewöhnlichen Umständen im Tageslicht meistens erst bei 1/100 oder 1/60. Dabei besteht die Eigenthümlichkeit des Wahrnehmungsvermögens darin, dass es ziemlich gleichgültig ist, ob die beiden verglichenen Lichteindrücke an sich sehr hell oder nur mässig hell sind, ob man also zwei Sterne oder zwei Lampen, zwei weisse Wolken oder zwei graue Papiere vergleicht; immer kommt nahezu derselbe Bruchtheil der Lichtstärke als eben erkennbar beim Experimente zum Vorschein, bis das Licht so hell wird, dass es blendet, oder so dunkel, dass es nicht mehr genügend vom Augenschwarz unterschieden werden kann. Man empfindet also in keinem Falle den wahren Unterschied, sondern das Verhältniss der Lichtstärken. Wenn eine Flamme die Lichtstärke 100, eine andere 101 hat, so [135/136] dass die letztere eben noch heller erscheint, so wird man zwei Flammen, von denen die eine die Lichtstärke 1000, die andere die Lichtstärke 1001 hat, nicht im Geringsten verschieden hell finden, sondern erst, wenn das Verhältniss 1000 : 1010 erreicht ist. Im ersteren Falle beträgt der wahre Unterschied 1, im letzteren 10 und doch sind beide in der Empfindung ganz gleich, nämlich beide eben merkbar, indem das Verhältniss 1000 : 1010 = 100 : 101. Diese Regel wurde von Gustav Theodor Fechner, dem Begründer der Psychophysik, in eine mathematische Form gebracht, welche es ermöglicht, geradezu die Stärke der Empfindung selbst zu messen. Die Thatsache ist aber auch ohne diese wichtige Folgerung schon darum von grosser Bedeutung, weil sie [l]ehrt, dass, wo die Unterscheidungsgrenze der Wahrnehmung erreicht wurde, keineswegs in Wirklichkeit die für gleich gehaltenen kleinsten Unterschiede gleich sind; was man also das Kleinste nennt, kann von verschiedener Kleinheit, kann auch sehr gross sein.

Die psychophysische Regel gewinnt noch dadurch an Interesse, dass sie auch für andere Wahrnehmungsgebiete gilt. So ist es bekannt, wie schwer das Hören in geräuschvoller Umgebung wird. Bei gleichzeitigem lautem Sprechen vieler Personen in einer lebhaften Gesellschaft, z. B. einer Versammlung von mehreren hundert Börsenmännern, von denen etwa die Hälfte spricht, während die andere Hälfte im Zwiegespräch zuhört, macht es keinen merklichen Unterschied, ob zehn oder zwanzig Stimmen mehr oder weniger schweigen, während man in kleinerer Gesellschaft den Ausfall sogleich wahrnehmen würde. In der Börse bleibt das Geräusch der vereinigten Stimmen, trotz des Wechsels der Personen, der Bewegungen, der gesprochenen Laute nahezu dasselbe, wenn man von oben, etwa von der Galerie aus, zuhört. Die Experimente, bei denen die Schallstärke gemessen wurde, haben denn auch gezeigt, dass in dieser Beziehung das Ohr durchaus nicht fein unterscheidet. Man erkennt zwei gleichartige Schalle erst dann jedesmal sicher als verschieden, wenn der eine um wenigstens ein Viertel lauter als der andere ist, wobei aber nicht viel darauf ankommt, ob beide Geräusche sehr laut oder ziemlich [136/137] leise sind. So merkt auch nach meinen Versuchen das geübte Ohr erst dann, ob die Taschenuhr, welche es in 23 Fuss Entfernung deutlich ticken hört, ihm genähert wird, wenn die Annäherung wenigstens 3 Fuss beträgt. Statt des Tiktak der Uhr hat man auch das Aufschlagen von Kugeln auf Metallplatten zu diesen Versuchen benutzt und gleichfalls gefunden, dass der eine Schall nur dann sicher von dem anderen unterschieden wird, wenn das Verhältniss der Intensitäten höchstens wie 3 : 4 ist. Auch hier wird nie der wahre Unterschied, sondern das Verhältniss desselben zum vorhandenen Schalleindruck wahrgenommen.

Genauer ist nach dieser Richtung untersucht der Drucksinn und zwar zuerst von Ernst Heinrich Weber, dann von Fechner, welcher, um die von ersterem gefundene Gesetzmässigkeit zu prüfen, mehr als 25,000 Versuche über Hebung von Gewichten ausgeführt und berechnet hat. Es ergab sich mit aller nur wünschenswerthen Genauigkeit, dass auch der Drucksinn innerhalb gewisser Grenzen sehr wohl das Verhältniss zweier Gewichte, nicht aber den wirklichen Unterschied derselben sicher erkennt. Wenn jemand eine grosse Last in der Hand hält, so merkt er es nicht, ob man eine kleine hinzufügt oder wegnimmt, welche deutlich die Empfindung der Schwere ändert, wenn die anfängliche Last klein war. Hier zeigt sich der Grenzwerth für eben erkennbare Unterschiede, die Unterschiedsconstante, sehr ungleich, je nach der Art, wie man prüft. Werden auf den Handrücken zehn einzelne Dreier übereinander gelegt, so können drei fortgenommen werden, ohne dass die Druckempfindung abnimmt, ruht die kleine Säule aber auf der Stirn, so folgt auf die Wegnahme von einer Münze schon Erleichterung. Anders die Empfindlichkeiten anderer Hautstellen. Sie sind sehr gering im Vergleiche zu den für gehobene Gewichte erhaltenen. Für das Heben kann man bei Geübten etwa l/24 als Grenze setzen. Wer 24 Loth in der Hand hält, wird eben einen Unterschied merken, wenn 1 Loth hinzukommt. Wer aber 24 Pfund in der Hand hält, merkt 1 Loth mehr oder weniger nicht, sondern hat eine Unterschiedsempfindung erst bei Fortnahme von etwa 30 Loth, bei 24 Kilo erst bei Fortnahme von 60 Loth. Immer ist die Grenze des Unterscheidbaren überschritten, [137/138] wenn das Verhältniss des hinzutretenden Empfindungseindrucks zum gerade vorhandenen eine gewisse Grösse nicht erreicht. Diese Grösse heisst, wenn noch keine andere Empfindung als die des ruhenden Sinneswerkzeuges da ist, die Schwelle der Empfindung, wenn es sich dagegen um den eben wahrnehmbaren Unterschied der Stärke zweier Empfindungen handelt, die Unterschiedsschwelle.

Es leuchtet ein, dass beide Schwellen durch noch soweit getriebene Übung nur etwas verkleinert, aber niemals beseitigt werden können, so dass man unendlich kleine Gewichtsunterschiede wahrnehmen könnte mit den Sinnen. Diese sind nur dem geistigen Auge zugänglich. Sie sind gedacht und schon wegen der zwar zum Theil sehr feinen, aber nie unbegrenzt empfindlichen Organe des Körpers schlechterdings unwahrnehmbar. Das liegt in ihrem Wesen. Denn die unendlich kleinen Unterschiede sind solche, welche zwar nicht gleich der Null sind, aber im Begriff stehen, gleich der Null zu werden. Man darf nicht der Hoffnung sich hingeben, als wenn es jemals möglich sein würde, durch Vervollkommnung der Instrumente, etwa der Wagen eine solche Grösse sinnlich zu erfassen; denn sie existirt überhaupt nicht in dem ganzen Gebiete des Wahrnehmbaren. Das unendliche Kleine ist ein Erzeugniss des denkenden Verstandes und wird erst auf die Natur und die Empfindung angewendet, nicht in ihr gefunden. Alle Helligkeiten und Gewichte, alle Geräusche, kurz, alle Empfindungen sind von endlicher Stärke. Mit den unendlich kleinen Unterschieden der Empfindungsstärken kann man wohl rechnen, man kann sie sich denken, aber sie kommen in der fertigen Wirklichkeit nicht vor.


Nun könnte man aber meinen, dass die andere Seite des Empfundenen, die Qualität, Art, Beschaffenheit, Energie, oder wie man sonst dieses unbeschreibliche, nur empfindbare Etwas nennen will, nicht wie die Intensität begrenzt, sondern unendlich feiner Abstufung fähig wäre, wenn nur die günstigsten Umstände sich ermitteln liessen. Angesichts der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Natur könnte in der That der Glaube aufkommen, es [138/139] entspreche ihr eine Unendlichkeit von Empfindungsarten und damit von Wahrnehmungen, indem zwar die Grade der Stärke begrenzt, aber die der Arten des Eindruckes unbegrenzt seien. Der wahre Thatbestand widerspricht einer solchen Meinung. Auch die Grade der Qualität aller Sinne sind keiner in das Unmessbare und Unzählbare gehenden Vervielfältigung fähig. In allen Gebieten ist auch hier eine untere, eine obere und eine Unterscheidungsgrenze nachweisbar, die bei Farben, Tönen und Temperaturen bereits ziemlich genau bestimmt wurde.

Die wenigen einfachen Farben, aus welchen alle Lichtempfindung sich zusammensetzen lässt, unterscheiden sich bei gleicher Helligkeit physisch nur durch eine ungleiche Schwingungsgeschwindigkeit. Die mit gleicher Schwingungszahl stehen dem Roth, die mit grosser dem Blau, die mit mittlerer dem Grün nahe. Sind nun alle einfachen Farben mit ihren Übergängen im künstlichen Regenbogen oder Spectrum nebeneinander ausgebreitet, so ist nicht ohne nähere Prüfung zu erkennen, wo der leuchtende farbige Streifen begrenzt ist. Man kann durch geeignete Vorrichtungen in dem dunkeln Licht an den beiden Enden, wo die Schwingungen am langsamsten und wo sie am schnellsten sind, noch etwas sichtbar machen. Wenn man an dem unteren Ende nach Abblendung aller Farben die dunkeln Strahlen auf Kohle im luftleeren Raume sammelt, wie Tyndall es that, so glüht die Kohle und jetzt sieht man das vorher zu langsam schwingende, darum unsichtbare überrothe Licht, weil es nun schneller schwingt, durch Calorescenz. Und wenn an dem oberen Ende des Farbenspectrums die zu schnell schwingenden dunkeln übervioletten Strahlen durch gewisse Mittel, z. B. eine Chininlösung, gehen, bevor sie in das Auge treten, so leuchten sie durch Fluorescenz, wie Stokes fand, indem sie nun langsamer schwingen. Aber in beiden Fällen kommt man sehr bald an eine Grenze, wo kein Mittel mehr ausreicht und alles dunkel bleibt, wie im geschlossenen Auge, weil die durchsichtigen Theile des Auges, selbst wenn es an empfindenden Elementen nicht fehlen sollte, nicht genügend durchgängig sind für die Lichtstrahlen, welche am langsamsten und für die, welche am schnellsten schwingen. [139/140]

Der Weg, welchen die schwingende Bewegung während der Dauer einer Schwingung zurücklegt, nämlich die Wellenlänge, giebt, da er genau gemessen wurde, ein bequemes Mittel ab, die einzelnen Farben in Bruchtheilen des Millimeters, statt in Wörtern, und die genannten Grenzpunkte in Zahlen auszudrücken. Werden diese Grenzen möglichst weit genommen, so ergiebt sich, dass alles Sichtbare in der ganzen Welt eingeschlossen ist zwischen den Wellenlängen 0,0003 und 0,0009 Millimeter. Was also Lichtstrahlen in das Auge sendet von weniger als drei und mehr als neun Zehntausendtel Millimeter Wellenlänge, wird nicht gesehen, sondern erscheint so dunkel wie das Schwarze im lichtdicht verschlossenen Auge. Ausserdem ist aber auch innerhalb dieses Intervalles das Unterscheidungsvermögen für die Übergänge der Farben ineinander begrenzt. Am besten werden die gelben und grüngelben Nüancen unterschieden. Hier ist die äusserste bisher erreichte Grenze 1000 : 1001. Zwei Farben werden nämlich noch eben als verschieden empfunden, bei gleicher Helligkeit und Reinheit, wenn die eine 549 1/2, die andere 550 1/8 Billionen Schwingungen in einer Secunde macht, was jenem Verhältniss entspricht. Diese Bestimmung gilt aber nur für Gelb. Für alle anderen Farben ist die Unterschiedsempfindlichkeit viel geringer, am geringsten für Roth. Auch die Mischung der Farben untereinander und mit Weiss führt überall schnell an einen Punkt, wo der eine Bestandtheil nicht mehr gesehen werden kann. Wird eine reine Farbe mit viel Weiss gemischt oder ihre Helligkeit bedeutend gesteigert, so kann sie nicht mehr erkannt werden.

Da also alle Lichtempfindung nach allen Seiten begrenzt ist, so folgt nothwendig, dass die Art-Zahl der Farbenempfindungen nicht unendlich gross, sondern nur sehr gross ist. Denn ihre Elemente lassen sich zählen. Dasselbe gilt für den Schall.

Die Elemente aller Klänge, die einfachen Tonempfindungen, sind zählbar. Die tiefsten Töne geben noch 16 bis 24 Schwingungen der Luft in einer Secunde, wie ich mit Stimmgabeln fand. Man muss sich zu solchen Grenzbestimmungen nur einfacher pendelartiger und sehr starker Schwingungen bedienen. [140/141] Bei noch langsameren Schwingungen, 8 bis 15 in einer Secunde, wird, wenn sie sehr stark sind, nie ein einfacher (reiner) Ton gehört, sondern ein hauchendes Reibungsgeräusch, welches aus kurz dauernden, sich regelmässig wiederholenden Luftstössen zusammengesetzt ist. Diese unterbrochenen leisen Geräusche sind für das Ohr, was die intermittirenden Lichteindrücke, etwa der rhythmisch flackernden Gasflamme, für das Auge sind, und können die untere Grenze aller Tonempfindung nicht hinausschieben. Auch nach oben versagt das Gehör, wenn der einfache Ton mehr als 41,000 Doppelschwingungen in einer Secunde macht, vollständig bei vielen, bei einigen, namentlich älteren, schon bei 16,000. Dieser Ton ist den meisten, die ihn deutlich hören können, schmerzhaft; die sieben- und achtgestrichenen Töne von 20,000 an sind gleichfalls höchst unangenehm und greifen das empfindliche Ohr stark an. Es ist bis jetzt nicht geglückt, die kleinste Stimmgabel noch mehr zu kürzen, so dass sie noch mehr als 40,960 Schwingungen, die dem achtgestrichenen e entsprechen, ausführte, und es ist fraglich, ob dann noch etwas gehört werden würde, weil die Theile des Ohres vielleicht nicht beweglich genug sind, darauf anzusprechen, da für viele gute Ohren die factische Grenze tiefer liegt.

Im Unterscheiden ungleich hoher Töne haben sich sowohl Musiker als Physiologen geübt. Für die meisten liegt die Grenze bei 1000 : 1001, d. h. zwei Töne, von denen der eine 1000, der andere 1001 ganze Schwingungen in der Secunde macht, werden beim Nacheinandererklingen eben noch vom Gleichklang sicher unterschieden. Einige Bestimmungen reichen aber weiter. So fand A. Seebeck, dass er noch sicher zwei Stimmgabeln unterschied, von denen die eine 440, die andere 339 2/3 [recte 439 2/3] Schwingungen machte. Dieses entspricht dem Verhältniss 1209 : 1210. Ich habe den Versuch wiederholt und dasselbe gefunden. Ein geübtes und empfindliches Ohr unterscheidet aber, wie ich ferner fand, jedes Mal richtig zwei gleich laute gleichartige Töne, von denen der eine 1000 und der andere 1000 1/2 Schwingungen in der Secunde ausführt. Dieses entspricht dem Verhältniss 2000 : 2001. Damit ist aber auch die äusserste Unterscheidungsgrenze nicht erreicht. [141/142] Denn wenn nicht so hohe Töne verwendet werden, lassen sich noch etwas feinere Unterschiede wahrnehmen. In den tiefen und hohen Lagen wird nicht so genau unterschieden, wie in den mittleren, und es ist die Unterschiedsempfindlichkeit am grössten in dem Bereich der wenigen Töne, welche allen menschlichen Singstimmen gemeinschaftlich zukommen. Die vom Alt und Tenor leicht, vom Bass einerseits und Sopran andererseits schwerer erreichbaren Töne der eingestrichenen Octave sind hier die bevorzugten. Entsprechendes fand ich bei den Farben; denn die grünen und gelben Nüancen liegen gerade in der Mitte der natürlichen Farbenreihe des gewöhnlichen Augengebrauches, und gerade sie geben die grösste Empfindlichkeit für Unterschiede.

Noch deutlicher tritt dieselbe Beziehung zu Tage bei Schätzungen von Temperaturdifferenzen. In der Region der gewöhnlichen Hautwärme, die weder warm noch kalt genannt wird, und etwas darüber lässt sich 1/10 Grad des Thermometers deutlich fühlen, unterhalb und weiter oberhalb aber wird die Wahrnehmung sehr schnell ganz unsicher. Wasser von 5° erscheint ebenso kalt, wie solches von 6° , solches von 49° ebenso heiss wie solches von 50°; beide erregen schon Schmerz. Noch weniger unterscheidet das Gefühl ein Eisstück von -10° von einem solchen von -15°, oder 90° warmes Wasser von 95° warmem. Ausserdem ist die Temperaturunterscheidung höchst ungleich entwickelt an verschiedenen Hautstellen, an der Rückenhaut am unsichersten. Am genauesten fallen die Bestimmungen aus, wenn man einen oder zwei Finger in ungleich warmes Wasser taucht. Dabei macht sich der Einfluss der Übung in erstaunlicher Weise schon nach einigen Versuchen geltend.

Für den Geschmack- und Geruchsinn liegt die erforderliche Anzahl von Experimenten nicht vor. Jedoch lässt sich bereits mit Wahrscheinlichkeit behaupten, dass die kleinsten Unterschiede beim Schmecken des Salzigen, dann des Sauren und Süssen gefunden werden, zuletzt kommt der Geschmack des Bittern. Handelt es sich aber nicht um Unterschiede verschieden starker und verschiedenartig schmeckender Lösungen, sondern um die kleinsten überhaupt zur Erregung einer Geschmacksempfindung nöthi-[142/143]gen Mengen, so nimmt das Saure und Bittere die erste, das Süsse die letzte Stelle in. Denn Strychnin schmeckt bitter in mehr als millionenfacher Verdünnung, Schwefelsäure noch in hunderttausendfacher sauer, wogegen Salz in der fünfhundertfachen Wassermenge nicht mehr und Zucker in der fünfzigfachen kaum geschmeckt werden kann, auch wenn beliebig viel der so verdünnten Flüssigkeiten gekostet wird.

So bestimmt sind für den Begleiter des Geschmacks, den oft mit ihm verwechselten Geruchsinn, die äussersten Grenzwerthe nicht angebbar. Schmecken lassen sich ausschliesslich nur flüssige, riechen nur gasförmige Körper. Die kleinsten Mengen der letzteren, welche gerade erkannt werden können, sind aber so klein, dass im Ernste behauptet worden ist, sie seien unendlich klein, oder wenigstens es sei unmöglich, die kleinsten Mengen riechbarer Körper anzugeben, weil sie eben zu klein seien. Allerdings wenn man erwägt, dass nur an dem Dufte einzelne Jahrgänge alter Rheinweine augenblicklich erkannt, dass die Spielarten der Rose nur durch den Wohlgeruch sofort unterschieden werden können, so könnte die Meinung aufkommen, hier lasse alle Zahlenbestimmung im Stich. Indessen für einige Fälle ist schon die Grenze ermittelt und nichts berechtigt zu der Annahme, dass auch nur in einem einzigen Falle die Grenze unbestimmbar sei.

Fasst man alle derartigen Bestimmungen, wie die bisher betrachteten, für alle Sinne zusammen, so folgt unabweisbar, dass die eine Seite jeder Wahrnehmung, nämlich die reine Empfindung, überall von angeborenen Schranken eingeschlossen ist. Die Stärke und Art der reinen Empfindung sind nicht unendlich feiner Abstufung fähig, soviel lässt sich beweisen. Es fragt sich, ob die andere Seite jeder Wahrnehmung, Raum und Zeit, sich anders verhalten.

Da die möglichen Arten aller Empfindung und die Abstufungen ihrer Stärke beschränkt sind, so kann die thatsächliche Mannigfaltigkeit alles Erlebten, so kann die verwirrende Fülle aller Erscheinungen der wahrgenommenen Welt nur durch ungleich sich wiederholende Anordnung des Materials der Empfindung in der Zeit und im Raume bedingt sein. Dass die ganze grosse [143/144] wechselvolle Wirklichkeit, und mit ihr das Interesse jedes Einzelnen am Leben, schliesslich auf der Wiederholung einfacher Empfindungen in immer anderer Reihenfolge, d. h. in immer anderer räumlicher und zeitlicher Vertheilung beruht, kann nicht bezweifelt werden.

Aber mit der Anerkennung dieser Unbestimmtheit in der räumlichen und zeitlichen Anordnung ist nichts ausgesagt über die Wahrnehmung von Zeit und Raum selbst. Der Gedanke reicht wohl unermesslich weit, aber die gewöhnliche Erfahrung und die wissenschaftliche Beobachtung lehren, dass die Sinne überall weit hinter ihm zurückbleiben. Überall und immer sind die einzelnen Dinge begrenzt in der Erfahrung in der wirklichen Welt, und doch drängt sich unwiderstehlich der Begriff des Unendlichen und Ewigen ein, sowie die Zeiten und Räume sehr gross oder sehr klein werden. Wie klein und wie gross sind nun die kleinsten und grössten Zeiten und Entfernungen, welche überhaupt noch wahrgenommen werden können?

Man ist, um die Zeit zu messen, glücklicherweise nicht mehr auf die ganz trügerische, subjective Schätzung oder die Zählung der Herzschläge und Athemzüge angewiesen, vielmehr dient vorzugsweise das Pendel und die Bewegung der Erde zur Eintheilung der Zeit. Aber auch die allerbesten Instrumente geben immer nur eine Annäherung und keine vollkommene Genauigkeit. Zur Messung der Zeit, welche die Granate im Geschützrohre braucht, um von der Ladestelle bis zur Mündung des Laufes zu eilen, sind Uhren construirt worden, die bis zu ein Milliontel Secunde angeben. Schon vor 30 Jahren hat Wheatstone mit seinem elektromagnetischen Chronoskop die Zeit direct bestimmt, welche für eine Kugel erforderlich ist, um nur 1 Zoll hoch herabzufallen, ja man kennt sogar die Dauer des elektrischen Funkens, welche je nach der Stärke zwischen 7 und 29 Milliontel Secunde beträgt (mit einem Fehler von weniger als 1 Milliontel Secunde nach Lucas und Cazin 1869), und auch die Dauer des Gedankens ist bestimmt worden, aber alle diese Messungen sind nur annähernd richtig, wie alle Messungen, welche wirklich ausgeführt werden. Nichts berechtigt zu der Annahme, dass es gelingen [144/145] werde, später immer kleinere Zeittheilchen genau zu messen, ohne dass ein Ende absehbar sei. Aus zwei Gründen ist eine solche Meinung unhaltbar.

Erstlich kann es niemals gelingen, vollkommen fehlerfreie, d. h. mathematisch genaue Instrumente herzustellen, weil durch die Bedingungen der Construction jeder Uhr nothwendig Fehler eingeführt werden, die der Natur der Sache nach nicht vollständig, sondern nur annähernd corrigirt werden können. Der Einfluss der Temperatur, Feuchtigkeit, Reibung, Erschütterung lassen sich zwar zum grössten Theil unschädlich machen, aber nicht ganz, selbst wenn eine Garantie dafür gefunden werden könnte, dass alle Fehlerquellen bekannt sind. Eine solche fehlerfreie Uhr existirt nur in der Idee.

Aber selbst angenommen, es gebe ein Chronoskop, das mit absoluter Genauigkeit die Zeit bis auf eine Trilliontel-Secunde genau eintheilte, so würde doch eine solche Anzeige unzuverlässig sein, weil - und dieses ist der zweite Grund - immer Menschen dazu gehören, um das Instrument zu handhaben. Auch bei der denkbar grössten Geschicklichkeit ist niemand im Stande, die Muskeln des Armes und Auges so vollkommen zu beherrschen, wie es ein solcher Apparat verlangen würde. Auge, Ohr und Hand sind, so Erstaunliches sie auch leisten, keineswegs fehlerfrei. Schon die Ablesung der Zeit, vor Allem die Einstellung der Uhr, wird durch den Beobachter selbst fehlerhaft, und die Fehler betragen mehr, als der zu messende Bruchtheil, wenn dieser sehr klein wird. Sollen zwei Zeiten miteinander genau verglichen werden, so muss für beide die Uhr und der Beobachter durch die Arbeit selbst nicht verändert werden, sonst können sie nicht gleichmässig correct arbeiten. Bliebe nun auch der Apparat nach der ersten Messung unverändert, so würde doch der Beobachter sich verändern und zwar um so viel, dass so kleine Zeiten, wie etwa die Dauer einer Lichtschwingung, schlechterdings nicht direct wahrgenommen werden können. Man kann sie mit grosser Annäherung berechnen, mit ihnen rechnen, aber nicht sie unmittelbar wahrnehmen, wie die Schwingung des Secundenpendels. Ohne Instrumente kann durch das specifische [145/146] Organ des Zeitsinns, das den Tact und Rhythmus in bewundernswerther Weise markirende Ohr, die Erkennung kleiner Zeittheile auch nicht soweit getrieben werden, da das Unterscheidungsvermögen, wie vorhin dargethan wurde, eine bestimmte Grenze hat. Dasselbe gilt für das Auge, welches nicht einmal zwei Blitze zweifach wahrnimmt, wenn auch der eine 1/50 Secunde später als der andere erscheint.

Für die Unsicherheit im Messen kleinster Zeittheile entschädigt nicht eine grössere Sicherheit im Grossen. Denn wenn auch in der That die astronomischen Zeitbestimmungen höchst genau und zuverlässig sind, man z. B. weiss, dass ganz gewiss alle künftigen Venusdurchgänge bis in das fünfte Jahrtausend nur in den Monaten Juni und December stattfinden werden, so können derartige Berechnungen doch nicht auf Millionen von Jahren mit gleicher Zuverlässigkeit ausgedehnt werden, weil keine Bürgschaft existirt, dass in so langer Zeit nicht unbekannte Störungen auftreten, die entweder neu entstehen, oder, schon vorhanden, erst in vielen Jahrtausenden merkbar werden könnten. Die Geschichte der Astronomie giebt genug Zeugnisse dafür, dass diese Garantie fehlt. Daher sind auch die Prophezeihungen über das Schicksal der Welt oder auch nur der Erde, obgleich sehr berühmte Namen sich neuerdings an sie knüpfen, durchaus in die Luft gebaut. Es giebt Infusionsthierchen, welche in einem Nachmittage sich um das Hunderttausendfache vervielfältigen können. Wäre ein in der Dämmerung geborenes Wesen der Art mit menschlicher Intelligenz begabt, so würde es aus der zunehmenden Dunkelheit während der halbstündigen Dauer seines Lebens schliessen können: da ich und alle meine Zeitgenossen und meine Vorfahren bemerkt haben, dass es während unseres Daseins immer dunkeler wird, so muss in einer gewissen Zukunft die ganze Welt in ewige Nacht gehüllt sein. Ein solcher Fehlschluss, der den Sonnenaufgang vergisst, ist ziemlich ähnlich der Folgerung: dass in einer gewissen Zukunft alle Körper der Welt dieselbe Temperatur haben werden, was einem allgemeinen Welttode gleich käme. Man darf aus den paar Dutzend Jahrhunderten, in denen beobachtet worden ist, nicht auf Millionen Jahrhunderte hinaus schliessen und [146/147] von dem winzig kleinen Raum, in dem beobachtet wird, nicht auf das unermessliche Weltganze.

Denn Entsprechendes wie von der Zeit, gilt vom Raum im Kleinsten und Grössten. Sehr scharfsinnige Männer haben sich dem Gedanken hingegeben, dass eine immer weiter gehende Vervollkommnung der Vergrösserungsgläser auch eine unabsehbar weitgehende Wahrnehmung des Kleinsten herbeiführen werde. Und in der That schienen die grossartigen Leistungen der Riesenteleskope und der Mikroskope in den jüngst vergangenen Decennien eine solche Hoffnung zu nähren. Aber die gleichfalls bedeutend fortgeschrittene Theorie der optischen Instrumente hat neuerdings mit Bestimmtheit erwiesen, nicht nur dass, sondern auch welche Grenzen der Vergrösserung gesetzt sind. Abbe hat festgestellt, dass die überhaupt brauchbare Vergrösserung bereits in vielen Fällen thatsächlich überschritten wurde, indem er darthat, dass, was man bei zweitausendfacher Vergrösserung sicher sieht, auch bei achthundertfacher gesehen wird, was man aber mehr zu erkennen glaubt, nicht mehr Abbild des vergrösserten Gegenstandes ist, sondern durch die Beugung des Lichtes zu Stande kommt. Diese Entdeckung ist um so sicherer, als später Helmholtz zu demselben Resultate gelangte. Auch er spricht es mit Entschiedenheit aus, dass die mit zunehmender Vergrösserung wachsende Dunkelheit und Beugung des Lichtes aller mikroskopischen Wahrnehmung eine unübersteigliche Schranke setzt. Die Theorie ergab beiden Forschern, dass man nicht weiter kommen kann, als bis zur Unterscheidung zweier Punkte, deren Abstand gleich ist der Wellenlänge des Lichts bei gerader, und der Hälfte derselben bei schräger Beleuchtung. Also kleinere Entfernungen als ein viertausendtel Millimeter darf man, wenn nicht die ganze Optik umgeworfen wird, mit dem Mikroskop zu sehen, nicht hoffen. Alle Angaben, welche weiter reichen, beruhen auf Täuschungen. Diese Thatsache ist von immenser Tragweite. Denn es ist klar, dass nun alle Messungen der Schwere, der Wärme, des Magnetismus, der Elektricität oder was sonst man messen mag, wobei das Auge schliesslich die Messung vornimmt oder vollendet, nur bis zu einem gewissen bestimmbaren [147/148] Grade verfeinert werden können. Die alte traumhafte Hoffnung, dermaleinst nicht mehr theilbare, einfache oder Urkörperchen zu sehen, zerfliesst vollends in Nichts, da sogar die Theilmaschinen, ebensoweit, wenn nicht schon weiter als die Wahrnehmbarkeit reichen. Denn Nobert konnte bereits zehntausend Striche innerhalb einer Pariser Linie mit Diamant auf Glas schneiden.

Besonderes Interesse erhält diese Grenzbestimmung, wenn man sie vergleicht mit der Messung der kleinsten Gegenstände, die durch das unbewaffnete Auge eben noch erkannt werden können. Zuverlässigen Berichten zufolge sind in klaren Nächten des Sibirischen Nordens die Trabanten des Jupiter mit blossem Auge gesehen worden. Solche Beobachtungen und viele Hundert physiologische Experimente konnten früher mit den anatomischen Messungen der Augentheile nicht in Einklang gebracht werden. Jetzt ist aber die Übereinstimmung vollkommen, seitdem Max Schultze die Grösse der kleinen Mosaikfelder der Netzhaut, d. h. der äussersten Endflächen derjenigen zapfenförmigen Sehnervenenden, welche an der Stelle des deutlichsten Sehens liegen, genauer ermittelt hat. Er fand den Durchmesser der kleinsten Felder gleich 0,0005 bis 0,0007 Millimeter, also beiläufig gleich der Wellenlänge des Lichtes. Nun lehrt die Physiologie des Sehens, dass von einem solchen Element stets nur ein Eindruck wahrgenommen werden kann, auch dass zwei Nachbarelemente von je einem Lichtpunkte getroffen, nur einen einfachen Eindruck geben, welcher gleich ist dem Eindruck durch Erregung der Grenze zwischen beiden durch einen Lichtpunkt. Folglich müssen auch die allerkleinsten eben noch sichtbaren Abstände gesehener Dinge, mögen sie nahe oder fern sein, zwei Sterne oder zwei Spinngewebsfäden, zwei Punkte oder zwei Linien trennen, im Bilde auf der Netzhaut zum Mindesten ein Element umspannen, d. h. also mindestens doppelt so gross sein, als die Wellenlänge des Lichtes. In der That entsprechen alle Bestimmungen, welche besonders zahlreich von Volkmann ausgeführt wurden, dieser Anforderung, wie eine kritische Zusammenstellung mir gezeigt hat. Denn auch die allerkleinsten erkannten Abstände der Punktbilder auf der Netzhaut sind, selbst nach Abrechnung der Zerstreuungs-[148/149]kreise grösser, als 0,0011 Millimeter. Nur durch anhaltende Übung werden diese äussersten Grenzen erreicht. Kinder, bei denen die Netzhautelemente etwas kleiner als bei Erwachsenen sind, scheinen sie jedoch ohne besondere Übung leichter als diese wahrnehmen zu können.

Alle anderen Sinne stehen hinter dem Sehsinn in Bezug auf räumliche Wahrnehmung zurück. Bemerkenswerth ist indessen, wie ausserordentlich geringe Unterschiede in der Dicke von Drähten, Fasern, Glasplatten, sogar Coconfäden, mittelst des tastenden Fingers erkannt werden können. Hierüber muss noch viel experimentirt werden, desgleichen über die eben unterscheidbaren Winkelgrössen, Krümmungen von Linien und Flächen. Auch die langsamste und die schnellste eben wahrnehmbare Bewegung ist noch genauer festzustellen und die Zahl der Punkte, die in einem Blick, oder in der kürzesten zum Sehen eben erforderlichen Zeit, oder bei instantaner Beleuchtung durch den elektrischen Funken gezählt werden können. In Betreff der Bewegung ist bekannt, dass man den Minutenzeiger einer Taschenuhr gerade noch direct sich bewegen sehen kann, den Stundenzeiger nicht. Die abgeschossene Pistolenkugel kann niemand direct durch die Luft fliegen sehen, ebenso niemand das Wachsen des Grashalmes unmittelbar wahrnehmen. Die eine Bewegung ist zu schnell, die andere zu langsam. In Betreff der in einem Momente zählbaren Punkte ist der Einfluss der Anordnung beachtenswerth. Sind sie unregelmässig vertheilt, so wird es auch nach anhaltender Übung und bei der höchsten Anspannung der Aufmerksamkeit sehr schwer 25 bis 30 Punkte annähernd richtig zu zählen. Nur der bekannte Rechenkünstler Dahse traf jedesmal richtig in einem einzigen Augenblicke bis zu 33. Sind aber die nur für den einen Blick momentan beleuchteten Punkte symmetrisch geordnet, so lernt man ohne besondere Anstrengung fehlerfrei noch mehr aufzufassen, wie geübte Domino- und Kartenspieler. Derartige Messungen des Anschauungsvermögens lassen sich auch auf das Grosse übertragen.

Schon mancher versuchte vergebens die Sterne am Himmel zu zählen. Aber selbst wenn die Annahme Argelanders eine [149/150] richtige Annäherung gäbe, dass man mit dem unbewaffneten Auge vier bis fünftausend Sterne sieht und, wie Heis meint, mit Fernröhren alles in allem anderthalb Milliarde gesehen werden, so wäre begreiflicher Weise damit nichts anderes ausgesagt über die wirkliche Zahl der im Weltraume schwebenden Körper, als dass sie grösser ist. Schon die Thatsache, dass nur Körper von einer gewissen Lichtstärke, welche grösser als die Lichtstärke des Augenschwarz sein muss, überhaupt Lichtempfindung erregen, macht es klar, dass die in unmessbarer Ferne befindlichen schwach leuchtenden Sterne nicht gesehen werden können. Aus diesem Grunde erscheinen die Zwischenräume zwischen den Sternen dunkel. Daher ist die Meinung unzulässig, dass die Zahl der Himmelskörper eine begrenzte sei, weil sonst das Firmament überall von ihrem Lichte erglänzen müsste. Sir John Herschel ermittelte auf Grund seiner photometrischen Untersuchungen, dass eben noch sichtbare Sterne der Milchstrasse 2000 Jahre brauchen, um den ersten Lichtstrahl, das Zeichen ihres Daseins, den Erdbewohnern zuzusenden. Legt das Licht 42,000 Meilen in der Secunde zurück, so ergiebt sich hieraus eine Entfernung von weit über 2 1/2 Tausend Billionen Meilen. Für einige deutlich zu sehende Nebelsterne sind seitdem noch viel grössere Entfernungen berechnet worden, nämlich bis gegen 13 1/2 Trillionen Meilen oder 300,000 Sternweiten, so dass man schliesslich an Sterne kommt, deren Lichtstrahl soviel Zeit braucht zur Erde zu reisen, dass sie selbst längst nicht mehr sind, wenn sie gesehen werden. Und niemand kann die Möglichkeit leugnen, dass es dunkele Weltkörper, erloschene Himmelslichter in ungemessener Ferne und in unzählbarer Menge giebt.

Sowie man ernstlich versucht für das Ganze Grenzen zu finden, so findet man keine. Aber der schon von Aristoteles gehegte Gedanke, dass die wirkliche Welt nicht unendlich gross sei, lässt sich dennoch schlechterdings nicht beseitigen. Ganz sicher ist nur, dass die Welt für menschliche Wahrnehmung unbestimmt gross ist. Der Seemann auf hohem Meere, wenn er in der nebeligen Ferne die ersehnte Küste nicht erkennen kann, sagt darum nicht, das Meer sei unendlich gross, und wenn er bei klarer Luft am Horizonte den Saum des Wassers gewahr wird, [150/151] behauptet er nicht, jene Linie sei das Ende des Meeres. So auch der Forscher auf dem Ocean des Wissens, wenn er sich umsieht und sucht, wo er beginnt und endet. Den entferntesten gesehenen Stern wird niemand für das Ende der Welt erklären und doch darf sie nicht als unendlich gross bezeichnet werden. Das wäre zu viel gesagt. Denn das Unendliche widerstreitet der vollendeten Wirklichkeit im Grossen wie im Kleinen. Es findet sich nirgends in der wahrnehmbaren Welt, ist immer nur ein Werdendes, also ein Erzeugniss des Denkens. Nur das Gewordene ist wahrnehmbar.

Gerade diese Producte des reinen Verstandes aber, die höheren Begriffe, zu denen vor Allem der Unendlichkeitsbegriff gehört, sind es, welche aller durch die Begrenztheit der sinnlichen Wahrnehmung bedingten Unbestimmtheit gegenüber bleiben. Als unzerreissbare Richtschnur, als entscheidende Instanz, gegen die kein Appell ist, steht fest, in allem Wandel die unbestechliche logische Kraft des Verstandes, das selbständige Denken. Wohl ändern sich die Theorien, sie schmelzen dahin vor der fortschreitenden Aufklärung wie der Schnee den stärkeren Strahlen der Frühlingssonne weicht, aber der theoretisirende Verstand selbst ist immer derselbe gewesen. Verdunkelt, von den Wolken des Irrthums umhüllt, kann zeitweilig die Vernunft sein, aber wenn sie sich in dem Gewitter einer grossen Entdeckung blitzschnell durch das Gewölk Bahn bricht, ist es immer dieselbe erhabene Klarheit, durch die sie sich kennzeichnet. Es giebt eben nur Ein logisches Denken. Und hierin liegt der Schwerpunkt aller wissenschaftlichen Thätigkeit.

Wenn auch die Schranken der Sinnlichkeit zur Zeit eng gezogen sind, sie erweitern sich mit der Umbildung der Organismen im Laufe der Generationen thatsächlich, weil der Verstand die Sinne immer mehr controlirt, immer besser bewaffnet, die Aufmerksamkeit sie immer mehr schärft. Und weit über sie erhebt sich der Gedanke. Fern davon durch die Erkenntniss seiner selbst entmuthigt zu werden, empfindet der strebende Geist nur um so grössere Genugthuung, je genauer er selbst die Leistungsfähigkeit seiner ererbten organischen Instrumente bestimmt. Ein Nachlass [151/152] der Spannkraft des ernsten Forscherthums kann aus dem Grunde schon nicht eintreten, weil der Umfang des Wahrgenommenen niemals so gross wird, wie der des wahrnehmbaren Unbekannten. Denn mit der Zunahme des Wissens wächst auch die Fragethätigkeit, und es scheint in der Natur des Menschengeistes tief begründet zu sein, dass er viel mehr zu suchen, als zu finden vermag. Das Erwachen des Intellects beim Kinde äussert sich mehr im Fragen als im Antworten, und seine Unermüdlichkeit nach Allem und Jedem neugierig zu forschen, hört nicht auf, wenn es auch später die Fragen für sich behält. Die Dinge, nach denen gefragt wird, sind nur für den Erwachsenen andere, und während der Knabe sich abfertigen lässt mit den ausweichenden Antworten der Mutter, behauptet der entwickelte Verstand, dass es garnichts giebt, was ihn nicht anginge. Hieraus entspringen dann die Wissenschaften, deren Fortbau schon darum durch alle Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung nicht aufgehalten werden kann, weil dieser selbst es ist, der immer neue Räthsel, neue Wahrheiten und neue Zweifel zu Tage fördert, indem er alte Räthsel löst, alte Wahrheiten erweitert und alte Zweifel ausmerzt.

Wer aber trotz dieser Fortentwicklung nur klagend an die Thatsache der eigenen Endlichkeit sich gewöhnen mag, der findet Trost in der schrankenlos schaltenden Phantasie. Alle Grenzen durchfliegend, die Schwere der Erde nicht achtend, Welten schaffend und vernichtend führt sie empor in das Reich der Dichtung. Eben darum ist ihre Domäne nicht mehr die Wissenschaft, sondern die Kunst.




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