Die materielle



Grundlage des Seelenlebens.








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Die



Materielle Grundlage



des



Seelenlebens



von



R. R. Noel




Nach dem Englischen



Vom Verfasser besorgte deutsche Ausgabe



Durchgesehen und bevorwortet



von



Bernhard von Cotta











Leipzig



Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber



1874




[III/IV] [IV Leerseite/V]


VORWORT.



Auf meinen Rath hat der Verfasser die nachstehende Abhandlung, welche 1873 bei Longmans in London englisch erschien, selbst übersetzt und durch einige Zusätze vermehrt, während ich die sprachliche Correctur übernahm. Mir erschien diese neue Auffassung und Darstellung der Phrenologie höchst interessant und durchaus der geistigen Zeitströmung entsprechend, als eine unbefangene, klare Darstellung des Fortschrittes auf dem Gebiete der Erklärung des Geisteslebens.
Wenn es sich nicht verkennen lässt, dass die Entdeckungen und Lehren Gall's bisher häufig, sowohl über- als unterschätzt, und sogar leichtsinniger Weise missbraucht worden sind, was um so leichter möglich war, da es ihnen ihrer ganzen Natur nach zum Theil noch an derjenigen exacten [V/VI] Begründung fehlte, welche man für jeden Zweig der Naturwissenschaft zu verlangen berechtigt ist, so scheint mir gegenwärtig, besonders durch die höchst wichtigen Entdeckungen und Beobachtungen der Herren Richardson und Ferrier in dieser Beziehung ein grosser Fortschritt gewonnen zu sein. Man darf daher wohl hoffen, es werde unter diesen neuen Gesichtspunkten auch die strenge Naturforschung es nicht mehr verschmähen, der Lehre von den Gehirnfunctionen, welche jedenfalls das allgemeinste menschliche Interesse beanspruchen können, ihre Theilnahme zu gewähren, und ihr behülflich zu sein, eine immer bestimmtere wissenschaftliche Form und Begründung zu erlangen.


Freiberg, im Februar 1874.

Bernhard von Cotta.


[VI/VII]



Erklärung der Abbildungen.





Tafel I.



Fig.  1.Ansicht des Gehirns (Cerebrum ) von oben. Durch einen horizontalen Schnitt sind der obere Theil des Schädels und die Hirnhäute entfernt worden.
A. A. Die beiden Hemisphären und deren Furchen und Windungen;
a der Stirnlappen;
a' der mittlere Lappen;
a'' der hintere Lappen.
1. Hinterhauptbein; 1' Nath zwischen Hinterhauptbein und Seitenwandbein;
2. Seitenwandbein; 2' Nath zwischen Seitenwandbein und Stirnbein;
3. Stirnbein; 3' Stirnbeinhöhlen (Sinus frontales).
Fig.  2.Die Basis des Gehirns von unten gesehen.
A. A, a, a', a'', wie bei Fig. 1.
a''' Die Sylvische Furche, wodurch die Stirn und die Schläfenlappen getrennt sind.
B.B. Das Kleinhirn (Cerebellum) mit dessen beiden Hemisphären und Furchen.
C . Das verlängerte Mark (Medulla oblongata). Durch eine Längsfurche ist es in zwei Seitenhälften geschieden; der Spalte zunächst liegend sieht man die Pyramidenkörper [VII/VIII] (Corpora pyramidalia), die hauptsächlich aus Fasern des vorderen Rückenmarksstranges gebildet sind; seitlich davon liegen die Olivenkörper (Corpora olivaria), hauptsächlich aus Fasern des seitlichen Stranges gebildet, und hinter diesen die strickförmigen Körper (Corpora restiformia) , welche vorherrschend Fasern des hinteren Stranges des Rückenmarks enthalten.
D . Die Brücke (Pons varolii), Verbindungstheil, wovon Fasern zu beiden Hemisphären des Kleinhirns, so wie auch zu denen des Grosshirns, hinlaufen.
b der Riechnerv und dessen Kolben;
c der Sehnerv;
d der Gehörnerv;
e ein dem Geschmacksinn angehörender Nerv (Glossopharyngeus).


Tafel II.



Fig.  1 u. 2. Die Grundtheile von zwei horizontal aufgeschnittenen Schädeln, von oben gesehen.
A. Die vordere Grube (oberer Augenhöhlentheil), worauf der Stirnlappen ruht.
B. Die mittlere (Keil-Schläfenbein-) Grube, worauf der mittlere Lappen ruht.
C . Die hintere Grube, worauf das Kleinhirn ruht.
D. Das grosse Hinterhauptsloch (Foramen magnum), die Verbindungstheile des Gehirns und Rückenmarks enthaltend.
a das Stirnbein;
a' der Jochbogen (arcus zygomaticus);
b das Keilbein (os sphenoideum);
c das Schläfenbein ( os temporum);
d der Felsentheil des Schläfenbeins, worin die Gehörorgane liegen und wodurch die mittleren und hinteren Schädelgruben getrennt werden;
e das Hinterhauptbein; [VIII/IX]
f die schräge Abdachung des Grundbeins ( Clivus ), worauf das verlängerte Mark und die Brücke ruhen.
Fig.  1.Der Grundtheil des Schädels eines Menschen von sehr beschränkten intellectuellen Fähigkeiten. In Folge davon wurde er, obwohl der Brandstiftung überwiesen, nur zur Gefängnissstrafe verurtheilt.
Fig.  2.Der Grundtheil eines Menschen von guten intellectuellen Fähigkeiten. Die vorderen Gruben dieser beiden Schädel zeigen einen auffallenden Grössenunterschied, obwohl die anderen Gruben von ziemlich gleicher Grösse sind.


Tafel III.



Fig.  1.Ansicht des Gehirns des berühmten Mathematikers Gauss.
Fig.  2.Ansicht des Gerhirns eines deutschen Handwerkers. Diese Figuren sind einem populären Werk: „Der Leib des Menschen", von Professor Reclam entlehnt worden; sie zeigen einen grossen Unterschied in Betreff der Zahl und Richtungen der Gehirn-Wülste oder Windungen.
Fig.  3.Abbildung nach dem Kopfabguss des Professors B. von Cotta, eine ausgezeichnet gute Entwickelung des vorderen Gehirnlappens zeigend.
Fig.  4.Abbildung nach dem post mortem - Kopfabguss eines sächsischen Buchbindergesellen und Selbstmörders (aus dem Jahre 1838).


Tafel IV.



Fig.  1 u. 2. Die Vorder- und Seitenansichten eines Kretins aus Hallstadt im Salzkammergut.
Fig.  3.Seitenansicht des Schädels des grossen Dichters Schiller. (Nach einem Originalabguss, den ich durch besondere Güte aus Weimar 1838 erhielt.) Die Sternchen auf [IX/X] der Seitenansicht des Kretin-Schädels und auf dem mittleren Theil des Schädels Schiller's, bezeichnen die innere Ausdehnung des Sitzes der respectiven vorderen Lappen. Die beiden anderen Sternchen auf dem Schädel Schiller's geben die Verknöcherungspunkte der Stirn- und Scheitelbeine an.
Fig.  4.Ansicht des Kopfes des berühmten Theologen u. s. w. Dr. von Ammon, nach einem, 1840, während seines Lebens, von mir genommenen Abguss. Die vorderen oberen Kopftheile zeigen eine vorzüglich gute Entwickelung. Die intellectuellen und moralischen Fähigkeiten des grossen Theologen und Predigers sind hinreichend bekannt.
Fig.  5.Ansicht des Kopfes von Vetter, einem unverbesserlichen Diebe, nach einem post mortem - Abguss aus meiner Sammlung. Er ist mehreremals in Sachsen zur Zuchthausstrafe, verurtheilt worden. Nach seiner letzten Verurtheilung erhängte er sich. Die verticalen Linien auf Fig. 4 u. 5 geben die Grössenverhältnisse des Stirnlappens an.
N. B. Die Ansichten der Gehirne, ausgenommen die von Gauss und des deutschen Handwerkers, so wie des Kopfes des Selbstmörders (Tafel III, Fig. 4), sind aus meinem Werke: „Grundzüge der Phrenologie" entlehnt. Die Original-Zeichnungen auf Stein sind von dem berühmten Lithographen Herrn Weinhold. In allen Fällen wo es sich um die Vergleichung von Köpfen oder Schädeln handelt, sind die Grössenverhältinsse derselben mit mathematischer Genauigkeit angegeben. [X/Tafel I bis IV]



Tafel I. Tafel I.

Tafel II. Tafel II.

Tafel III. Tafel III.

Tafel IV. Tafel IV.



Die materielle





Grundlage des Seelenlebens.








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D ie Lehren der philosophischen Schulen, welche man als „Wissenschaft des Geistes", „Philosophie des Geistes", „Psychologie" u. s. w. bezeichnet hat, sind hauptsächlich auf einseitige Erfahrungen und abstractes Denken basirt. Sehr wenig Psychologen von Fach haben die Phänomene des Seelenlebens mit Rücksicht auf die Erforschung ihrer physischen Ursachen beobachtet; noch weniger sind sie Physiologen gewesen. Ihre Lehren haben in der That einen mehr subjectiven als objectiven Charakter, begründen sich vorzugsweise auf das Selbstbewusstsein der einzelnen Denker, und sind nicht geeignet, die Probleme der menschlichen Seele im Allgemeinen zu lösen. Auch wo objektive Erfahrungen in Systeme der Psychologie aufgenommen worden sind, hat man ihnen in der Regel eine Erklärung gegeben, die in Harmonie mit vorausgedachten Theo-[3/4]rien einer übersinnlichen Seele als eines abstracten Wesens stand. Ein solches Verfahren ist nicht zweckmässig, um wahre Einsicht in die Natur der Seelenthätigkeiten zu gewinnen. Obwohl die Selbstbeobachtung, so weit sie sich frei von Eigendünkel erhält, ihren Werth haben mag, so ist doch eine vielseitigere Forschung nöthig, wobei alle Thatsachen des Seelenlebens - sowohl solche, von denen wir historische Kenntniss haben, als auch jene der eigenen Erfahrung - berücksichtigt werden müssen. Zwar lassen sich die gewonnenen Resultate zusammenfassen und ordnen, aber die Psychologie als eine praktische Lehre kann - insofern sie von der menschlichen Seele insbesondere handelt - nur dann mit Erfolg betrieben werden, wenn sie als ein Theil der Anthropologie betrachtet und naturwissenschaftlich behandelt wird.

In grossem Gegensatz zu den Lehren, auf die ich mich soeben bezogen habe, sind jene des Dr. Gall von den Anlagen der menschlichen Seele. Mit grossen Beobachtungs- und Denkfähigkeiten begabt, fielen dem Genannten schon in der Schule die Verschiedenheiten in den Charakteren und Fähigkeiten seiner Mitschüler auf; gleichzeitig wurde er dahin geführt, gewisse Coincidenzen zwischen einzelnen hervorstechenden Anlagen und besonderen Kopfformen zu bemerken. Bei diesem Gegenstande werde ich nicht [4/5] verweilen, da schon in deutscher Sprache Vieles darüber geschrieben worden ist*). Auch werde ich mich nicht dabei aufhalten, die Namen von mehr oder weniger berühmten Personen zu nennen, welche schon in früheren Perioden der Geschichte ihre Aufmerksamkeit auf die Formen des Kopfes gerichtet haben, und die - obwohl ihre Beobachtungen, sowie ihre Ideen von sogenannten Kräften der menschlichen Seele sehr unbestimmt waren, doch geglaubt haben, dass die letzteren im Kopfe localisirt seien**). In dieser Beziehung hat Gall also Vorläufer gehabt, aber er ist der Erste gewesen, der erkannt hat, dass die Form des Kopfes keine physiologische Bedeutung haben kann, wenn sie nicht mit der Entwickelungsform des Gehirns übereinstimmt und ein Licht auf die Functionen dieses Organs wirft. Gall's grosse Beobachtungsgabe und seine Vorliebe für Naturgeschichte veranlassten ihn bald, den geistlichen Stand, für welchen er bestimmt war, aufzugeben und sich dem medicinischen Fach zu widmen. Seine Bestrebungen gingen nun dahin, die feinere Anatomie des


*) Siehe unter Anderem „Geschichte und Wesen der Phrenologie" aus dem Englischen von Bernhard von Cotta. Dresden und Leipzig 1838.
**) Siehe hierüber „Grundzüge der Phrenologie" von R. R. Noel. Leipzig und Dresden 1847. S. 24 f. [5/6]

Gehirns zu studiren, und die Anatomen seiner Zeit haben es vorzüglich Gall zu danken, dass ihre fehlerhafte Methode, das Gehirn von oben schichtweise abzutragen, ausser Gebrauch kam, und an deren Stelle das physiologisch richtigere Verfahren trat, das Gehirn von unten zu untersuchen, und in Berücksichtigung seines Zusammenhanges mit dem Rückenmark, den Verlauf seiner Fasern zu erforschen. Auch hat Gall auf die Wichtigkeit der Oberfläche des Gehirns, auf die Windungen und deren graue Substanz, besondere Aufmerksamkeit hingelenkt. In letzterer Hinsicht, sowie auch was die Ausbreitung der Gehirnfasern betrifft, ist zwar Gall ebenfalls nicht ohne Vorläufer gewesen. Willis (1664) hat die Bedeutung der Windungen, und Varol den Verlauf der Hirnfasern zum Theil erkannt; dass aber die Lehren der medicinischen Schulen über die Anatomie des Gehirns vorzüglich durch Gall's Bemühungen und Entdeckungen umgestaltet worden sind, ist eine bestimmte Thatsache, die von vielen deutschen Physiologen anerkannt worden ist. Spätere Forschungen über die Anatomie des Gehirns und die Entwickelungsgeschichte desselben, sind, obwohl sie Manches ans Licht gefördert haben, was Gall unbekannt geblieben war, dennoch durchaus nicht in Widerspruch mit dem Hauptprincipe seiner Lehre in Betreff der Locali-[6/7]sation der Seelenthätigkeiten gerathen wie aus dem Nachfolgenden hervorgehen wird.

Es wird nun nöthig zu erklären, was Gall wirklich gethan hat, um das Studium der menschlichen Seele auf naturgeschichtliche und physiologische Erfahrungen zu basiren. Obwohl vor ihm einige Physiologen, Naturforscher und Menschenkenner das Gehirn als das Organ oder Werkzeug der Seele angesehen haben, so hielten sie doch letztere sammt allen ihren Kräften und Vermögen, für immateriell, und lehrten, dass die Seele als Gegenstand der Vorstellung und Beweisführung ganz unabhängig von körperlichen Organen sei. Hier kann ich mich jedoch auf die Thatsache berufen, dass in der Praxis viele grosse Dichter und Dramatiker - Shakespeare insbesondere - bei ihren Entwürfen und Darstellungen der Charaktere und Handlungen der Menschen die Wörter „Seele" und „Gehirn" oft als gleichbedeutend angewandt haben. Auch in den Sprüchwörtern und Redensarten aller civilisirten Völker giebt es viele Anspielungen auf den Kopf, auf die Grösse und Form desselben, als Zeichen von geistiger Kraft im Allgemeinen, sowie auch von besonderen Seeleneigenschaften. An solchen Anspielungen ist die deutsche Sprache besonders reich, und einige davon, die besondere Talente und Triebe mit besonderen [7/8] Kopfformen in Zusammenhang bringen, stimmen ungefähr mit den Erfahrungen Gall's überein.

Es gehörte jedoch, wie gesagt, zu den Lehren seiner Zeit, dass die menschliche Seele - und zwar ist hier nicht von einem abstracten philosophischen Begriff von Seele oder Geist an und für sich die Rede - sich ganz unabhängig von der Materie erkennen und untersuchen liesse, und dass die Kräfte oder Eigenschaften der menschlichen Seele etwas ganz Anderes seien, als alle jene Phänomene des Lebens, die man gewohnt ist für Functionen körperlicher Organe zu halten. Nach den Lehren dieser Schulen waren daher das Gedächtniss, das Bewusstsein, die Einbildungskraft, die Sympathie, die Aufmerksamkeit, der Wille u. s. w. besondere Kräfte, Vermögen oder Fähigkeiten des Geistes, und Gall, auf den Erfahrungen seiner Jugend, sowie auf seinen späteren Beobachtungen und vielen historischen Daten fussend, ist der Erste gewesen, der einleuchtend dargelegt hat, dass solche Kräfte, Vermögen oder Fähigkeiten des Geistes nur abstracte Begriffe sind, die keine Einsicht in die concreten Thatsachen des Seelenlebens gewähren, und nicht die verschiedenen Arten oder Formen von Gedächtniss u. s. w., und die speciellen Capacitäten der Individuen dafür erklären. Er berief sich z. B. auf die Erfahrung, dass bei dem einen [8/9] Menschen eine lebhafte Auffassung, ein starkes Bewusstsein und ein gutes Gedächtniss für musikalische Töne und deren Combinationen gefunden wird, dass er auch viel Urtheils- und Einbildungskraft in diesen Beziehungen zeigen kann, während er doch nur eine schwache Auffassung, ein schwaches Gedächtniss u. s. w. für die Formenverhältnisse äusserer Gegenstände besitzt, für welche hinwiederum die Auffassungsbefähigung und das Gedächtniss eines anderen Menschen ganz auffallend sein können. In solchem Grade variiren in der That die natürlichen Gaben der Auffassung und des Gedächtnisses in den genannten Richtungen, so dass der eine Mensch ein angeborenes Genie für die Musik, der andere für die plastische Kunst haben kann. In ähnlicher Weise berief sich Gall auf die Erfahrung, dass die erwähnten und andere abstracte Kräfte des Geistes, wo sie beobachtet werden, allemal in bestimmten Formen, z. B. mit Fähigkeiten für Sprachen, für die Mathematik, die Mechanik u. s. w. verbunden zum Vorschein kommen, und dass, wo Grosses in Künsten und Wissenschaften geleistet wird, man die Ursache davon nie der Erziehung eines Individuums allein zuschreibt, sondern vor Allem als die Folge von speciellen angeborenen Anlagen ansieht.

Nicht allein wurden von Gall intellectuelle [9/10] Gaben mit Rücksicht auf ihre Grundbestandtheile und organischen Bedingungen beobachtet und untersucht, sondern auch alle Aeusserungen von Gefühlen, sogenannten Gemüthseigenschaften, Affecten, Trieben u. s. w. sind von ihm auf ähnliche Weise erforscht worden. Gall war durchaus abgeneigt, Alles theoretisch erklären und in ein System bringen zu wollen*), und es war gut so, denn wäre er von der Theorie irgend eines speculativen Psychologen eingenommen gewesen, so hätte er nicht so scharf und unbefangen beobachten können, wie er es that. Statt den menschlichen Geist von einem transscendentalen Gesichtspunkte aus zu betrachten, verfolgte er muthig und ohne Rücksicht auf seinen persönlichen Vortheil, die naturwissenschaftliche Methode der Untersuchung, erkannte als leitendes Princip den Zusammenhang der menschlichen Natur mit der der Thiere im Allgemeinen, und suchte die niederen und einfacheren Formen des Seelenlebens zu erkennen, ehe er nach Einsicht in die höheren und complicirten strebte. Da er bei jedem Falle von hervorstechenden Fähigkeiten, Leidenschaften u. s. w., den er



*) „Je suis plus glorieux de la découverte de la plus mince vérité que de l'invention du plus brillant système": Gall, Sur les fonctions du cerveau etc., tom. VI, p. 502. [10/11]

beobachtete, auch genaue Rücksicht auf die Kopfform des Individuums nahm, und womöglich sich Gipsabgüsse von Köpfen merkwürdiger Personen, Schädel von Mördern und anderen grossen Verbrechern verschaffte, so blieben seine Forschungen und Ansichten durchgehend objectiv, frei von jenen auf sogenannte Intuition basirten, subjectiven Speculationen, und von jenen theologischen Dogmen, welche zu so vielen abweichenden Theorien und Controversen über die menschliche Seele geführt haben. Auf diese Weise glaubte er nach und nach, wie sich seine Erfahrungen vermehrten, Einsicht in die menschliche Seele erlangt, und viele primitive oder Grund-Anlagen derselben als Hauptquellen der menschlichen Handlungen erkannt zu haben. Mehrere solcher Grundfähigkeiten hielt Gall in Folge seiner Beobachtungen für den Thieren und Menschen gemeinsame, andere, z. B. die zu Bildung und Fortschritt so nothwendige Gabe der articulirten Sprache, für den Menschen allein angehörend; und wieder andere, z. B. die Fähigkeiten des abstracten Denkens und des sogenannten Gewissens, zeigten sich bei den höheren Thieren - wenn sie ihnen auch nicht gänzlich abzusprechen waren - im Vergleich mit den Menschen nur in einem sehr rudimentären Zustande. Seine Ansichten über das Seelenleben der Menschen und der Thiere fand er [11/12] ferner durch die vergleichende Anatomie ihrer Gehirne bestätigt.

Gall's Lehre, dass die moralische Seite der Menschennatur, die edelsten Empfindungen der Seele, ebenfalls angeboren, d. h. organisch bedingt seien, hat den Metaphysikern und Theologen mehr Aergerniss gegeben, als die gleiche Lehre über die intellectuellen Fähigkeiten. Eine genaue Berücksichtigung von Thatsachen wird jedoch zeigen, dass die eine Kategorie des Seelenlebens ebenso sehr mit körperlichen Zuständen verknüpft ist und von Gehirnthätigkeiten abhängt, als die andere. In Beziehung auf diesen Punkt führe ich hier die Worte eines grossen Menschenkenners, des grossen deutschen Dichters an, der in seinem „Wilhelm Meister" Natalie Folgendes von dem Abbé erzählen lässt: „Er behauptete das Erste und Letzte am Menschen sei Thätigkeit, und man könne nichts thun, ohne die Anlage dazu zu haben, ohne den Instinct, der uns dazu treibe. Man giebt zu, pflegte er zu sagen, dass Poeten geboren werden, man giebt es bei allen Künsten zu, weil man muss und weil jene Wirkungen der menschlichen Natur kaum scheinbar nachgeäfft werden können, aber wenn man es genau betrachtet, so wird jede, auch die geringste Fähigkeit uns angeboren, und es giebt keine unbestimmte Fähigkeit". [12/13]

Es ist nun vor allem nöthig, eine Definition von Grund- oder primitiven Fähigkeiten zu geben, wobei zu erklären ist, dass ich für meinen Theil, angesichts der nun viel besprochenen Frage von der Entstehung der organischen Species - den Menschen mit eingerechnet - jene Ausdrücke nur im beschränkten Sinne, d. h. nur in Bezug auf historische Thatsachen anwende. Grundfähigkeiten (oder Grundanlagen) sind jene angebornen und erblichen Dispositionen zu besondern Formen von Seelenthätigkeiten (sogenannte Affecte, Gemüthstriebe, Leidenschaften, Talente u. s. w.), welche in der menschlichen Natur im Allgemeinen wurzeln - zum Theil auch, wie schon bemerkt, in der der Thiere -, welche sich von Kindheit an instinctartig und als psychische Reflex-Actionen äussern, und bei Erwachsenen sich am Leichtesten in den Handlungen von wilden Völkern, und in civilisirten Ländern in denen von sehr impulsiven Personen, beobachten lassen. Das kleine Kind, wie allgemein bekannt, äussert seinen Nahrungstrieb auf instinctartige Weise. Es lächelt - als psychische Reflex-Action - auf Liebkosungen, während eine unsanfte Behandlung deprimirend, und selbst Furcht erregend, auf seine junge Seele einwirkt. Indem das Kind aufwächst, werden verschiedene Dispositionen und psychische Reflex-Actionen mani-[13/14]festirt. Es wird sich freudig erregt zeigen, wenn es gelobt, wird empfindlich erröthen, oder auch ärgerlich werden, wenn es getadelt wird; es wird Aengstlichkeit äussern, wo die geringste Gefahr droht, wird Liebe mit Zuneigung erwidern u. s. w. Auch bei der zarten Jugend kann man einerseits Neigungen zu Gefrässigkeit, zu Habsucht, zu Falschheit, zu Stolz und Eitelkeit, zu Leidenschaftlichkeit, oder aber zu Niedergeschlagenheit bei Hindernissen, zur Befriedigung von Begierden u. s. w. bemerken; anderseits sieht man natürliche Liebenswürdigkeit - sogenannte Herzensgüte -, Bereitwilligkeit mit den Freuden und Leiden Anderer zu sympathisiren, Freigebigkeit, Wahrheitsliebe, Frömmigkeit u. s. w. sich äussern. Theils aus inneren organischen Thätigkeiten, theils als bestimmte Reactionen auf besondere Bewegungen von Aussen, kommen verschiedenartige Seeleneigenschaften zum Vorschein, welche nicht allein von individuellen angebornen Neigungen Zeugniss geben, sondern auch von Seelenanlagen, die dem Menschen im Allgemeinen angehören. Bei einem jeden Menschen, füge ich noch hinzu, sind sein ganzes Leben hindurch psychische Reflex-Actionen mehr oder weniger bemerkbar; sogar bei Personen, die durch Erziehung und Ausbildung des Verstandes die Macht der Selbstbeherrschung erworben haben - eine Macht, die nebenbei gesagt, auch [14/15] ihre physische Grundlage hat. Einige Menschen sind nicht im Stande, ihren angebornen Stolz zu verläugnen; andere zeigen sich durchgehends als eitel, tapfer, furchtsam oder wohlwollend, ohne hier von den vielen anderen wohlbekannten Thätigkeitsäusserungen des natürlichen Charakters zu reden.

Auf der einen Seite wird der Mensch das Geschöpf seiner Umgebung und Verhältnisse genannt; auf der anderen Seite, einem alten deutschen Sprüchwort zufolge, „hat ein Loth von der Mutter mehr Werth als ein Pfund aus der Schule". Eine jede dieser Ansichten enthält viel Wahres. Das zweite ist gewiss das Wichtigere, was die angeborne Disposition und Befähigung eines Individuums betrifft, aber wenn wir die Entwickelungsgeschichte des Menschen im Ganzen und Allgemeinen und die verschiedenen Menschenracen die es auf der Erde giebt, in Betracht ziehen, so erkennen wir, wie viel Wahrheit doch auch in der ersteren Ansicht liegt.

Der natürliche Charakter eines Menschen, wie er sich in der Jugend zeigt, ändert sich nicht gründlich, obschon besondere Umstände, das Alter und die Erfahrungen, die Thätigkeitsäusserungen selbst hervorstechenden Anlagen bedeutend modificiren. Ist einmal der natürliche Charakter eines Menschen gut erkannt, so wird man in der That ziemlich sicher voraussagen können, [15/16] wie er unter gegebenen Verhältnissen handeln wird. Es war, wie erwähnt, in Folge besonderer Beispiele von hervorstechenden Charaktereigenschaften u. s. w. und den vergleichenden Untersuchungen von Köpfen, dass Gall am Ende sich berechtigt glaubte, siebenundzwanzig Grundanlagen der Seele anzunehmen und, aus der Entwickelungsform des Schädels auf die des Gehirns schliessend, ihre Sitze oder Organe - wenn man das Wort hier anwenden darf - im Gehirn anzudeuten.

Gall's Nachfolger haben seine Lehren weiter ausgebildet, und Ein „System der Phrenologie" - von dem ich später reden werde - ist daraus entstanden. Ich bemerke hier nur, dass das Wort Phrenologie (Geisteslehre) weder geeignet ist, Gall's psycho-physische Forschungen, noch seine cranioskopischen Erfahrungen zu bezeichnen. Ihm selbst missfiel die Anwendung des Wortes sehr, und seine beiden grossen Werke in französischer Sprache führen die Titel: „Anatomie et Physiologie du système nerveux en général et du cerveau en particulier", und „Sur les fonctions du cerveau et sur celles de chacune de ses parties". Einer seiner Schüler, Dr. Forster, war es, der das Wort Phrenologie zuerst einführte, um, wie er meinte, eine neue Wissenschaft des Geistes, wie sie aus Gall's Erfahrungen im Ganzen genommen hervorging, zu bezeichnen. [16/17] Ein anderer Schüler und zeitweiliger Mitarbeiter Gall's, Dr. Spurzheim, nahm die Bezeichnung an, und durch seine vielen Schriften, Reisen und Vorlesungen in Frankreich, England und Amerika ist sie allgemein in Gebrauch gekommen. Einerseits mag dies zu bedauern sein, andererseits aber scheint mir, wenn man in die Begründung und das Wesen der Phrenologie näher eingeht, und bedenkt, dass es andere Zweige der Naturwissenschaften giebt, die nicht ganz passend benannt sind -, z. B. die Geologie und selbst die Physiologie - dass es nicht nöthig ist ein Wort zu verwerfen, welches sich bereits ein Bürgerrecht in vielen Ländern erworben hat.

Im Anfang classificirte und benannte Gall allerdings die Grundanlagen die er entdeckt zu haben glaubte, auf eine empirische und wenig umfassende Weise, und hierdurch schien die Beschuldigung seiner Gegner, dass er einen rohen Materialismus lehre, und die Seele derartig zersplittere, dass jeder Begriff ihrer Einheit verloren gehe, zum Theil gerechtfertigt zu sein. Da er z. B. an den Köpfen von vielen Mördern und andern sehr grausamen Menschen einen Theil des Schläfenbeins besonders hervorstehend fand, und Aehnliches an den Schädeln von fleischfressenden Thieren bemerkte, so bezeichnete Gall, in Uebereinstimmung mit seinen Erfahrungen [17/18] - und abgeneigt, wie er gegen voreilige Versuche Alles theoretisch zu erklären war - den von der erwähnten Schädelwölbung bedeckten Hirntheil als den Sitz eines Hanges zu tödten und zu morden („ Instinct carnassier; penchant au meurtre "). Sofort wurde ein Geschrei gegen ihn erhoben, und er wurde beschuldigt gelehrt zu haben, dass der Mensch ein geborener Mörder, folglich unverantwortlich für eine seiner schlechtesten Handlungen sei. Und dies Missverständniss seiner Lehren dauert noch immer fort. Was aber aus den Gall'schen Erfahrungen einfach hervorging, war Folgendes: Es giebt, meinte er, im Gehirne des Menschen einen besondern Theil, der, wenn stark entwickelt, und wenn seine Thätigkeitsäusserungen (oder Functionen) nicht durch die von anderen Anlagen, moralischer und intellectueller Natur, modificirt werden, oft bei so beschaffenen Menschen einen Hang zum Tödten (Zerstören) verursacht. In seinem Werke über die Functionen des Gehirns hat Gall die Naturgeschichte der fraglichen Anlage gegeben, und durch Hinweisen auf historische Daten, zumal die Kriegs- und Criminalgeschichten aller Länder, hat er gezeigt, dass der Mensch unleugbar eine angeborene Neigung hat, nicht allein, wie es die Carnivoren hauptsächlich thun, Thiere aus Nahrungsbedürfniss zu tödten, sondern auch, sich oft zu [18/19] sehr grausamen Handlungen hinreissen zu lassen. In vielen Fällen bemerkte er ferner, dass der Mensch ein positives Vergnügen an Schlachten, Metzeleien u. s. w. und an den Martern seiner Opfer empfindet*); wie es nicht nur bei religiösen und politischen Fanatikern klar bekundet, sondern auch von vielen einzelnen Mördern noch am Richtplatz aufrichtig bekannt worden ist.

Spurzheim, Vimont, Broussais, Felix Voisin**) und andere Anhänger der Gall'schen Lehre haben zu den zahlreichen Facten auf die sich Gall berief, viele neue hinzugefügt; auch haben sie die verschiedenen Thätigkeitsformen eines grossen Zerstörungssinns (wie die fragliche Anlage nunmehr genannt wird) nicht allein analytisch auseinandergesetzt, sondern auch, synthetisch verfahrend, das Seelenleben als Ganzes in Betracht gezogen, und den Einfluss eines Zerstörungstriebes, im Verein mit anderen angeborenen Anlagen, auf die Handlungen der Menschen nachgewiesen.

Die Ansichten der genannten Herren, auf Thatsachen und Induction basirt, verdienen jedenfalls


*) Die sogenannte „Wollust der Grausamkeit", die einige deutsche Psychologen besprochen haben.
**) „De l'homme animal", Paris 1839. Ein werthvolles Werk, insbesondere weil darin der Zusammenhang des Menschen mit den Thieren klar erwiesen wird. [19/20]

volle Aufmerksamkeit, indem sie die unbestreitbaren und fürchterlichen Beweise der grausamen und blutdürstigen Handlungen des Menschen, von denen die Geschichte strotzt, naturgemässer und viel befriedigender erklären, als es die Theorien von Metaphysikern und Moralisten thun. Noch will ich bemerken, dass manche Mörder nach ihrer Einkerkerung, und wenn sie die Macht ihrer Leidenschaften nicht mehr empfinden, ihre schlechten Thaten nicht anders haben erklären können, als sie im guten Glauben den Einflüsterungen des Teufels zuzuschreiben. Und fromme Menschen haben solchen Ideen Glauben geschenkt.

Um praktische Lehren im Einklang mit physiologischen Grundsätzen für die Veredlung des Menschengeschlechts zu gewinnen, ist es nöthig, wie Gall gelegentlich des Instinctes zu tödten sehr richtig bemerkte, solche Thatsachen zu berücksichtigen.

Auf die Geschichte der Thiere und des Menschen, auf seine eigenen psychologischen und cranioskopischen Beobachtungen - wie bei dem Zerstörungssinn - hat sich Gall auch berufen, um andere thierische Instincte in der menschlichen Seele nachzuweisen. Da aber mein Hauptstreben in dieser Abhandlung dahin geht, das Princip der Localisation von Seelenanlagen im Allgemeinen festzu-[20/21]stellen, so begnüge ich mich, hier auf die zahlreichen Thatsachen in den Werken Gall's hinzuweisen, auf welche er seine Lehre stützt. Und hier mag die Bemerkung erlaubt sein, dass in Deutschland, wie in England, die Werke Gall's wenig Leser gefunden haben. Sehr Viele die von ihm mit Geringschätzung sprechen, haben, indem sie im Tone einer apodiktischen Gewissheit seine Lehren verwerfen, zugleich ihre Unkenntniss und ihr Missverstehen derselben klar bekundet. In einer Zeit, wo so viele Naturforscher Deutschlands den Lehren Lamarck's und Darwin's zugethan sind, sollte man doch in seinem Vaterlande den Verdiensten Gall's eine gerechte Anerkennung nicht vorsagen, wäre es auch nur, weil er ein muthiger Vorkämpfer für das Princip des Zusammenhangs im Seelenleben des Menschen und der Thiere gewesen ist.

Aus dem was bisher über Grundanlagen gesagt worden ist, darf man nicht schliessen, dass Gall dieselben jemals vereinzelt in ihrer Thätigkeit zu sehen glaubte. Er trachtete stets darnach, das Seelenleben im Ganzen und Grossen zu überblicken und das Zusammenwirken verschiedener Anlagen zu erkennen, wobei er aber den bestimmenden Einfluss einzelner derselben auf die menschlichen Handlungen beobachtete und hervorhob. Auch war er [21/22] denkender Physiolog, und als solcher forschte er nach dem Einfluss aller übrigen körperlichen Organe auf das Gehirn, und folglich auf das Seelenleben. Dass es aber trotz seiner Bemühungen doch Lücken und Unvollkommenheiten in seiner Lehre gab, hat er selbst aufrichtig bekannt.

In der That ist volle Einsicht in das Seelenleben des Menschen sehr schwer zu erlangen. Nicht allein giebt es gewisse ererbte Seelenanlagen, welche in den Entwickelungsverhältnissen des Gehirns begründet sind, sondern es ist auch die ganze physiologische Constitution, die Beschaffenheit der Eingeweide, ihre Beziehung zu und Wechselwirkung mit dem Gehirn in Betracht zu ziehen, will man das Seelenleben allseitig zu erforschen streben - ohne hier von dem Einfluss der Erziehung zu reden. Aber so nothwendig es daher sein mag, die erwähnten und andere Umstände zu berücksichtigen, muss ich doch nochmals behaupten, dass in den Handlungen der Menschen irgend welche vorherrschenden positive Motive, Impulse oder Triebfedern zu erkennen sind, und Gall wurde bei seiner Aufstellung von Grundfähigkeiten durch die Beobachtung von hervorstechenden Seelen-Eigenschaften - bei grosser Mannigfaltigkeit in den physiologischen Constitutionen und äusseren Lebensverhältnissen der Indi-[22/23]viduen - und durch gleichzeitige Beobachtung der Coincidenzen in ihren Kopfformen geleitet.


Es ist heutzutage nicht nothwendig, Autoritäten in der Physiologie zu citiren, um zu beweisen, dass das Gehirn nun allgemein als das specielle Seelenorgan anerkannt ist. Einige Physiologen ziehen es zwar noch vor, das Gehirn „das materielle Substrat für die Manifestation von Seelenthätigkeiten" zu nennen. Dies ändert aber nichts an der Hauptsache, nämlich dass die Erscheinungen des geistigen Lebens allemal sich als organische Thätigkeiten erweisen*). Der berühmte deutsche Physiolog Johannes Müller hat gesagt: „Was das Princip des Gall'schen Systems betrifft, so ist gegen dessen Möglichkeit im Allgemeinen a priori Nichts einzuwenden". Er verwarf aber die speciellen Lehren Gall's, und sagte unter Anderem. „Es lässt sich keine Provinz des Gehirns nachweisen, worin das Gedächtniss, die Einbildungskraft u. s. w. ihren Sitz hätten". Wie ich schon bemerkt habe, muss es eben so sein, will man das Gedächtniss, die Einbildungskraft u. s. w. als Einheiten ansehen; und


*) Auch der jetzt in England unter den Schülern von Helmholtz Mode gewordene Satz: „Jedes Phänomen des Geistes hat sein physisches Correlat", ändert Nichts an den factischen Beobachtungen, auf die ich mich im Texte beziehe. [23/24]

die anderen psychologischen Einwendungen Müller's gegen die Gall'schen Lehren beruhen ebenfalls darauf, dass er sich den menschlichen Geist nur als metaphysische Wesenheit vorstellen konnte. Angesichts der Thatsache, dass die angeborene Begabung des Menschen so verschieden ist, hat aber Valentin die theoretische Nothwendigkeit einer Localisation von Seelenfähigkeiten anerkannt*). Ein anderer berühmter deutscher Physiolog, Rudolph Wagner, sagt: „Aus den Untersuchungen scheint das merkwürdige Resultat hervorzugehen, dass die mechanischen Apparate (Gehirn) für die in Erscheinung tretenden Seelenthätigkeiten bei verschiedenen Menschen in ihren Unterlagen und embryonalen Entwickelungen schon nachweisbare geschlechtliche und individuelle Eigenschaften zeigen, welche für die Ausbildung des Geistes in den späteren Lebensjahren von bestimmendem Einflusse sind, so dass man mit gehöriger Limitation sagen kann: Idioten und Genies werden auch im anatomischen Sinne geboren, wie die Entwickelungsgeschichte ihres Gehirns zeigt"**).

Diese Anerkennung des Hauptgrundsatzes der


*) „Lehrbuch der Physiologie des Menschen", Braunschweig 1844, Bd. II, S. 816.
**) „Göttinger gelehrte Nachrichten", 1861, Stück 49, Nr. 22, S. 392. [24/25]

Gall'schen Lehre von Seiten eines eminenten Physiologen - dem man nicht vorwerfen kann Anhänger sogenannter materialistischer Ansichten zu sein - ist besonders wichtig, indem, was für extreme Fälle gilt, wohl auch nothwendig für Zwischenstufen gelten muss, und Thatsache ist, dass ein jeder Mensch seinen angeborenen Charakter, seine Individualität hat, so wenig auffallend sie auch für oberflächliche Beobachter sein mögen.

Mit dem Ausdruck „Individualität" meine ich aber nicht Homogenität. Die menschliche Seele im Allgemeinen zeigt, in viel auffallenderem Grade als die der höchsten Thiere, eine sogenannte „Vielheit in der Einheit", eine „Einheit von Gegensätzen", wie einige deutsche Psychologen in Betreff der Seele sich ausdrücken; und auf die auffallenden Abwechselungen von Empfindungen und Neigungen, auf die gegensätzliche Natur der Gefühle, welche bei einem und demselben Menschen, nicht allein in verschiedenen Epochen seines Lebens, sondern auch in verschiedenen Momenten eines und desselben Tages zu bemerken sind, kann ich mich berufen, um eine Mehrheit von Seelenanlagen zu behaupten, welche - wenn das Gehirn das anerkannte Seelenwesen ist - ihre besondere Localisation darin haben müssen. Wäre es anders, und wären alle Theile des Gehirns bei allen Seelenzuständen gleichmässig thä-[25/26]tig, so müsste es unerklärlich bleiben, dass so gegensätzliche Empfindungen, wie z. B. die der Liebe und des Hasses, bei derselben Person, oft in schneller Aufeinanderfolge, geäussert werden können. Jede Empfindung äussert sich überdies in dem Ausdruck des Antlitzes, den Augen, der Stimme, in den Bewegungen des Körpers als psychische Reflexaction, unabhängig von dem Willen. Psychische Reflexactionen äussern sich in der That ganz unwillkürlich, und oft trotz der Missbilligung des Verstandes, nicht allein nachdem die sie veranlassenden Ursachen vorübergegangen sind, sondern auch oft in den Momenten ihrer Thätigkeiten, indem wir zugleich wissen und bedauern, dass wir Anderen unsere Gefühle verrathen.

Um das Princip einer Mehrheit von Seelenfähigkeiten ferner zu bekräftigen, füge ich hinzu, dass Wilde und viele Bewohner civilisirter Länder, deren Seelenleben im Ganzen sehr untergeordnet ist, doch nicht in allen Beziehungen Mangel an Geisteskräften zeigen. Gewisse Leidenschaften und Begabungen äussern sich oft bei ihnen mit viel grösserer Energie, als bei Personen die im Allgemeinen auf einer viel höhern Stufe stehen. Und bei Letzteren werden mitunter eine oder einige Seelenfähigkeiten sehr mangelhafte fast nur in rudimentärem Zustand der Entwickelung gefunden. [26/27] Von Personen die doch rühmlich in der Geschichte dastehen, ist es z. B. bekannt, dass sie keinen Sinn für die Musik, für die Poesie, für die Arithmetik u. s. w. besassen - um hier nicht von dem sehr auffallenden Mangel eines moralischen Sinnes (Gewissenhaftigkeit) zu reden, wie er insbesondere in der Lebensgeschichte des ersten Napoleon klar bekundet wurde. Es lässt sich in der Regel nachweisen, dass die Mängel an gewissen intellectuellen Capacitäten oder Charaktereigenschaften, auf die ich mich hier beziehe, angeboren, und nicht blos die Folge einer vernachlässigten oder einseitigen Erziehung gewesen sind. In der That sind oft die grössten Bemühungen von Seiten der Eltern, bei ihren Kindern Talente hervorzurufen oder moralische Eigenschaften anzuerziehen, umsonst gewesen. Andererseits sehen wir, dass letztere, wenn sie von Hause aus stark sind, sich selbst unter sehr ungünstigen Verhältnissen entwickeln.

Auch stimmen die Unterschiede in den Köpfen der beiden Geschlechter mit den Grundsätzen der Gall'schen Lehre überein. Die Köpfe von Männern sind in der Regel grösser und ihre Gehirne schwerer als die der Frauen*); und es sind besondere


*) Ein Wiener Arzt, Dr. Weisbach, der in neuerer Zeit Untersuchungen über die Schädelcapacitäten von Männern und Frauen angestellt hat, giebt in Bezug auf deutsche Schädel als Resultat an, [27/28]

Unterschiede in den Formenverhältnissen der Köpfe beider Geschlechter bemerkbar, welche im Einklang mit dem allgemein anerkannten Unterschiede in ihren natürlichen Anlagen stehen. Im Ganzen und Allgemeinen betrachtet, tritt die Empfindungssphäre des Seelenlebens verhältnissmässig viel stärker bei Frauen als bei Männern auf. Diese Thatsache stimmt mit einer relativ grösseren Entwicklung des mittlern Kopfwirbels, so wie des mittlern Theils des Hinterhauptes bei Frauen überein. Es ist jetzt jedoch, besonders in England, fast zur Mode geworden, die Unterschiede in den Charakteren und Fähigkeiten der beiden Geschlechter, in so fern diese Unterschiede nicht zum Vortheil der Frauen ausgelegt werden, der Tyrannei der Männer zuzuschreiben, und von einigen Verfechtern der „Frauenrechte" wird prophezeit, dass in der relativen Befähigung und den socialen Stellungen der Geschlechter bald ein Umschwung stattfinden werde. In gewissen Beziehungen ist dies wohl möglich. Die dahin zielenden Folgerungen, die man aus geschichtlichen Daten und gegenwärtigen Erfahrungen gezogen hat, sollen jedoch hier unerörtert bleiben.


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 27] dass die der Frauen sich zu denen der Männer, dem Cubikinhalt nach, wie 878 : 1000 verhalten. „Archiv für Anthropologie", Bd. III, S. 59 u. f. [28/29]


Träume lassen sich ebenfalls am besten erklären, nimmt man eine Mehrheit von angeborenen Anlagen in der menschlichen Seele an, von denen einige im Schlaf vorherrschend thätig sind, während andere verhältnissmässig ruhen. In den Träumen werden nicht allein die Lebenserfahrungen und verschiedene grössere oder kleinere Tageszufälligkeiten der Individuen, oft in bizarren Formen und Combinationen, reflectirt, - wobei in der Regel die mehr anregenden als ermüdenden Begebenheiten den Träumer beeinflussen - sondern man wird auch vor Allem finden, wenn man die Träume eines Menschen im Ganzen und Grossen betrachtet, dass seine ererbten Dispositionen, seine vorherrschenden Anlagen, eine bestimmte Rolle spielen, dass sie seinen Träumen einen oft wiederkehrenden Charakter verleihen.

Monomanien, Hallucinationen und sogenannte fixe Ideen, bei welchen gewisse Fähigkeiten sich in einem Zustande krankhafter Thätigkeit zeigen, können ihrerseits zur Unterstützung der Gall'schen Lehre dienen.

So lange die Intelligenz für eine einheitliche Kraft gehalten wurde, hat man von Alters her bis in die neuere Zeit Versuche gemacht, den Schlüssel zur Intelligenz der Thiere, so wie zur geistigen Superiorität des Menschen, in der Grösse und dem [29/30] Gewicht des Gehirns, in dem Verhältniss desselben zur Grösse des Körpers im Allgemeinen, oder aber zu dem Gesammtvolumen der Nerven insbesondere, zu finden. Kein derartiger Versuch hat zu befriedigenden Resultaten geführt*). Weder absolut, noch im Verhältniss zu seinem Körper oder zu seinen Nerven, hat der Mensch das grösste Gehirn. Die Elephanten und manche Wallfischarten haben grössere Gehirne als die Menschen. Einige Vögel und Affenarten haben grössere Gehirne im Verhältniss zu ihren Körpern. Die Affen, die Delphine und viele kleine Vögel haben grössere Gehirne im Verhältniss zu ihren Nerven, als der Mensch. Nur durch die Embryologie, durch das vergleichende Studium der Entwickelungsgeschichte des Gehirns, wird die successive Vervollkommnung und Differenzirung dieses Organs bei den Thieren bis hinauf zum Menschen erwiesen, und die geistige Superiorität des Letztern anatomisch erklärlich.

Bei den am tiefsten stehenden Wirbelthieren, den Fischen, anfangend, und bis zum Menschen aufsteigend, findet man eine stufenweise Entwicklung des Gehirns, im Einklang mit einer stufen-



*) In meiner Schrift „Die Begründung und das Wesen der Phrenologie" Dresden, 1852, ist der oben berührte Gegenstand ausführlich besprochen. [30/31]

weisen Vermehrung des Seelenlebens. Die elementaren Theile des Gehirns - die Fortsetzungen des Rückenmarks - welche den Stamm oder Keim des Gehirns bilden, so wie verschiedene cerebro-basilare ganglienartige Körper, und die Gehirnhöhlen (Ventrikeln), sind bei allen Menschen ziemlich gleich, und ähnliche Theile sind bei fast allen Wirbelthieren, besonders den höher stehenden, erkennbar. Die elementaren Theile des Gehirns werden allmälig bedeckt, jenachdem die Thiere in der Scala aufsteigen, in den dem Menschen zunächst stehenden Thieren am meisten, bis sie zuletzt beim Menschen selbst durch ein eigenartiges System von Fibern und Zellen, das man den Mantel ( Pallium ) des Gehirns genannt hat, vollkommen bedeckt werden. Es ist dies eigenartige, erhöhte und schön gewölbte System - auch das Cerebrum genannt - welches fünf Sechstel der Gesammthirnmasse ausmacht. Durch eine vom vorderen unteren bis in den hinteren Theil des Gehirns, und mitten auf der Oberfläche verlaufende Spalte, wird das Gehirn in zwei Seiten-Hälften getheilt, welche den Namen von Halbkugeln oder Hemisphären führen. Die zwei Hälften stehen jedoch mit einander in Verbindung, hauptsächlich durch eine grosse Commissur oder ein System von Querfasern, welche der Balken ( Corpus callosum ) genannt werden. Die Oberfläche [31/32] des Gehirns wird ferner mehrfach eingetheilt durch mehr oder weniger tiefe Einschnitte, und die verschiedenen Theile worden als Lappen und Wülste - wovon bald mehr gesagt werden wird - bezeichnet. Hier bemerke ich noch, dass die Gehirne der Catarrhin-Affen der alten Welt (der Chimpanzeen und Orang-Utangs) dem des Menschen am nächsten stehen. Mikrocephale Idioten haben fötale Hirne, eine Hemmung der Entwicklung und Armuth in den Windungen oder Wülsten bekundend. In einigen Beziehungen stehen sie den höchsten Affen nach.

Es würde nicht im Einklang mit dem Zwecke dieses Schriftchens stehen, in die Anatomie des Gehirns und des Nervensystems sehr ausführlich einzugehen. Ich beschränke mich auf einige Auszüge aus anatomischen Werken, und vorzüglich auf solche, die auf Specialitäten der Nervenfunctionen und auf jene Theile des Gehirns Beziehung haben, welche speciell den seelischen Functionen vorstehen. Es giebt zwei Formen von Nervensubstatnz, die eine fibröser, die andere zelliger Beschaffenheit. Die erstere ist vorzugsweise von weisser, die andere von grauer Farbe. Man spricht deshalb allgemein von weisser und grauer Nervensubstanz. Fibern gleichen sehr zarten Fäden von verschiedenen Stärkegraden, aber alle von grosser Feinheit; sie variiren von 1 / 500 bis [32/33] 1 / 50 Mm. Dicke, und manche davon verlangen eine 400- bis 500malige Vergrösserung, um deutlich gesehen zu werden. Jede Nervenfaser besteht wenigstens aus zwei Elementen, einem sogenannten Axen- oder Primitiv-Cylinder, und einer zarten Membran oder Hülle, Neurilema genannt. Die zartesten Nervenfasern zeigen ebenfalls diese Zusammensetzung, doch bei den stärkern soll noch eine Substanz - Nervenmark - zwischen den primitiven Cylindern und deren Hüllen gefunden werden. Die Nervenfasern im Allgemeinen sind als Leitorgane anerkannt. Das Rückenmark und dessen peripherische Ausbreitungen bestehen aus Systemen von centripetalen oder sensorischen, und von centrifugalen oder motorischen Fasern, und es giebt auch, wie erwähnt, noch ein besonderes peripherisches, doch nicht absolut getrenntes System von Zellen und Fasern (Ganglien- oder sympathisches System), dessen Faserausstrahlungen sich den Rückenmarksnerven beigesellen. Da das sympathische System hauptsächlich sogenannten vegetativen Functionen dient, nämlich der Ernährung des Körpers insbesondere, und nur mittelbar mit dem Seelenleben zu thun hat, ziehe ich es nicht in nähere Betrachtung.

Motorische Fasern bilden den vordern, sensorische den hintern Strang des Rückenmarks; sie [33/34] ziehen sich bis zur Oberfläche desselben in gesonderten Bahnen hin, und die ersteren sind etwas stärker als die letzteren. Es werden aber auch Seitenstränge unterschieden, welche sowohl motorische wie sensorische Fasern, doch hauptsächlich erstere enthalten. Das Innere des Rückenmarks besteht aus grauer Substanz, aus zahllosen, unentwirrbaren, nach allen Richtungen durch einander geschlungenen Nervenfasern und zwischen ihnen gelagerten Nervenzellen. Die Entwickelungsgeschichte des Rückenmarks ( Medulla spinalis ) zeigt, dass die Bildung des grauen Kerns derjenigen der weissen Rinde vorangeht. Letztere lagert sich nachträglich an seiner Aussenseite ab, doch nicht gleich von Anfang an als ununterbrochene Schicht, sondern in zwei getrennten Massen, einer hinteren kleineren, welche dem späteren hinteren Strange entspricht, und einer vorderen grösseren, welche als die gemeinschaftliche Anlage des späteren vorderen und seitlichen Stranges zu betrachten ist. „Bei voller Entwickelung erscheint das Rückenmark äusserlich glatt und regelmässig gerundet. Durch zwei tiefe, seiner vordern und hintern Mittellinie folgende Längsspalten ( Fissura longitudinalis ant. und post. ) zerfällt seine Markmasse in symmetrische Seitenhälften, deren einander zugewendete Flachseiten etwas vor ihrer Mitte durch einen schmalen Mark-[34/35]streifen, die sogenannte Commissur, in gegenseitigem Verbande erhalten werden. Die gewölbten Aussenseiten lassen seitlich in je doppelter Längsreihe die Wurzeln der peripherischen Nerven hervortreten, und spalten sich dadurch in je drei Längsstreifen, einen vorderen, seitlichen und hinteren, die als der Ausdruck ebenso vieler, gleich benannter Stränge ( Funiculi ) aufgefasst werden, und von denen der seitliche die anderen an Breite übertrifft*)." Die centrifugalen und centripetalen Fasern vereinigen sich, nachdem sie das Rückenmark millionenweise verlassen haben, zu Bündeln, und verlaufen nach allen Theilen des Körpers in gemeinsamen Bahnen. Erst bei der Annäherung an die Peripherie des Körpers spalten sich die Primitivfasern in sehr feine Aeste aus. Auf ihren Bahnen zur Peripherie werden die Fasern jedoch mehrmals als knotige Anschwellungen (Ganglien) vereinigt, wo sie dann reichlich mit Nervenzellen in Verbindung treten.

Bündel der Primitiv-Nerven, in ihren gemeinsamen Hüllen, sind das was man schlechtweg die Nerven nennt. In populären Schriften werden sie mit Bündeln von den feinsten Glasfäden verglichen. Von den Fasern der motorischen und sensorischen



*) Aeby, „Der Bau des menschlichen Körpers", Leipzig 1871, S. 816 u. f. [35/36]

Nerven, die gemeinsam in ihren Hüllen verlaufen, ist es durch Experimente, erwiesen, dass sie verschiedene Leitfunctionen haben, doch absolut sind Grenzlinien der verschiedenen Fasern anatomisch nicht erweisbar.

Die centripetalen oder sensorischen Nervenfasern leiten die Eindrücke, welche sie durch Vermittlung der peripherischen Sinnes-(Fühl-)Organe empfangen, dem Rückenmarke und dem innern ganglienartigen Theile des Gehirns zu, von wo aus die Eindrücke nach der Oberfläche dieses Organs verbreitet werden, und in bewusste Empfindungen übergehen; die centrifugalen oder motorischen Fasern führen den Muskeln von central-gelegenen Organen Reize (Impulse u. s. w.) zu, die entweder von einem einfachen automatischen Reflex-Charakter sind, vom Innern des Rückenmarks ausgehend, oder von einem instinctartigen psychischen Reflex-Charakter und den bewussten Willen reflectirend, von dem Gehirn, insbesondere von der Oberfläche desselben ausgehend, deren graue Lager von feinen Zellen und Fibern jetzt ziemlich allgemein für die wichtigsten Grundlagen des Seelenlebens gehalten werden. Auch sind es diese oberflächlichen Theile des Gehirns, welche durch ein complicirtes Netzwerk von feinen Gefässen am reichlichsten mit Blut versehen werden.

Die speciellen Sinnesnerven, wovon die des [36/37] Gesichts, des Gehörs, des Geruchs und des Geschmacks dem Kopf allein angehören, bestehen, wie alle andern Nerven, aus Primitivfasern. Die zwei erstgenannten Sinnesnerven sind, wie bekannt, mit äussern Organen, besonderen Apparaten oder Vorrichtungen in Verbindung (das Auge, das Ohr wo sich auch Nervenzellen befinden), für die Aufnahme bestimmter Eindrücke (Licht- und Schallwellen) - ihre sogenannten adäquaten Reize - geeignet. Gaumen, Zunge, Nase bilden die Eindrücke aufnehmenden Vorrichtungen für die andern Kopfsinnesnerven. Alle Eindrücke werden den innern Gebilden des Gehirns, und dann den oberflächlichen Theilen zugeleitet. Da jede bewusste Empfindung und Vorstellung, das Gedächtniss u. s. w. nur im Gehirn selbst von Statten geht, so werde ich nicht weiter von den speciellen Sinnesnerven und ihren Leitfunctionen sprechen, wie sie sowohl angeboren, als durch Uebung gestärkt, zur Erscheinung kommen.

Nervenzellen sind von verschiedenen Formen und Grössen. Es giebt kugelige, ovale, birn- und nierenförmige Ganglienzellen. Die kugeligen ohne Fortsetzungen werden apolare, die mit Ausläufern werden unipolare, dipolare und multipolare Ganglienzellen genannt*). Die kugelige Form wird für


*) Frey, „Histologie und Histochemie des Menschen". [37/38]

die primäre oder Grund-Form der Zellen gehalten. Zusammenhäufungen oder Knoten von Nervenzellen, die reichlich mit Primitivfasern und anderen von noch feinerer Structur untermischt sind, - letztere als Ausläufer der Zellen betrachtet - bilden, wie schon gesagt, die Ganglien, und es werden zwei Gruppen von Ganglien unterschieden, jenachdem dieselben räumlich an einen central entstehenden Nervenstrang sich anlehnen, oder aber in selbstständiger Gestaltung auftreten (Sympathisches System). Beide Gruppen darf man vielleicht als kleine Stationen ansehen, wo verschiedene Eindrücke von Innen und Aussen aufgenommen und weiter verbreitet, und von wo aus Fasern gebildet und renovirt werden. Auch dienen sie wahrscheinlich als Sammel- oder Aufbewahrungsplätze für das sogenannte „Nervenprincip" - sei dies elektrischer oder anderer imponderabler Natur. Obwohl die Ganglien unzweifelhaft ihre besondern Lebensfunctionen besitzen, wodurch die Centralisation im Nervensystem keine absolute ist, so wird uns doch gelehrt, dass „alle ausser dem Gehirn gelegenen Anhäufungen oder Ganglien nicht allein einen sehr beschränkten Wirkungskreis besitzen, sondern auch vielfältig durch Bande der Abhängigkeit mit ihm verknüpft sind" *).


*) Aeby, „Der Bau des menschlichen Körpers", Leipzig 1871, S. 813. [38/39]


Alle weissen Fasern der Rückenmarksstränge ziehen sich zum Gehirn hin, wo sie, wie erwähnt, dessen Stamm oder Keim bilden. In dem das Gehirn und Rückenmark unmittelbar vereinigenden Theile, dem verlängerten Marke (Medulla oblongata) werden die Fasernzüge sehr unter einander vermischt und neu vertheilt, ehe sie sich nach verschiedenen Richtungen hin ausbreiten. Fasern des vordern Stranges ziehen sich bis in die Vierhügel (Corpora quadrigemina), von wo aus sie insbesondere nach dem Vorderlappen des Gehirns sich ausbreiten; auch sind sie im Kleinhirn repräsentirt. Nur die Fasern des hintern Stranges verlaufen hauptsächlich in den ihnen zunächst liegenden Theil des Gehirns, das Hinterhirn; aber im Gross- so wie im Kleinhirn sind alle Fasern der Rückenmarksstränge vertreten. Es ist noch nöthig zu bemerken, dass die graue, Zellen führende Substanz, die sich im Rückenmark im innern Theil desselben befindet, im Gehirn hauptsächlich auf der Oberfläche liegt.

Die Zelle im Allgemeinen hat man geraume Zeit für das organische Element gehalten. Im physiologischen Sinne wird sie aber nicht mehr als solches angesehen, sondern man hält die Zellen jetzt für eigene Organismen. Aber auch diese zähe, teigartige Masse, mit zahlreichen sehr feinen Mole-[39/40]külen eines Proteinkörpers versehen, wird von vielen Autoritäten in der Anatomie und Histologie des Menschen nicht als der wahre Urstoff des Körpers angesehen. Was immer auch weitere Forschungen hinsichtlich des letzten oder des Grund-Elementes der Organismen ans Licht fördern werden, so sind doch jedenfalls die Nervenzellen für alle höheren Lebens- und seelischen Thätigkeitsäusserungen von der grössten Bedeutung. Die Embryologie lehrt, dass nicht allein im Rückenmark, sondern überhaupt im Nervensystem, die Bildung der Zellen der der Fasern vorausgeht. Letztere scheinen in der That ihren Ursprung nur in Zellen zu haben. Es wird uns jetzt auch gelehrt, dass „Bewegung auf innern Antrieb, oder die Fähigkeit, von sich selbst aus die Gestalt zu verändern, eine Eigenschaft aller Zellen ist"*). Sie vermehren sich auch durch Theilung. Ferner wird gesagt: „Unter Umständen zeigen nach künstlicher Theilung einer Zelle die einzelnen Theile derselben die gleichen Lebenserscheinungen, nämlich Athmung, Bewegung, Ernährung und Vermehrung"**).


*) Aeby, „Der Bau des menschlichen Körpers", Leipzig 1871, S. 26.
**) Vortrag des Professor Preyer aus Jena „über die Erforschung des Lebens" bei dem 50jährigen Jubiläum der Versammlung deutscher Aerzte und Naturforscher 1872. [40/41]


Ich habe jetzt genug gesagt, um die Wichtigkeit der Nervenzellen darzuthun, und wir werden nun einen Blick auf, die Entwickelungsgeschichte des Gehirns werfen, um zu sehen, wie sie sich zu diesem Organe verhalten.

„Die erste Anlage desselben ist eine sehr einfache. Sie ist weiter nichts als eine bläschenförmige Anschwellung am oberen, geschlossenen Ende des cylindrischen, Rückenmarksrohres. Anfänglich einfach, zerfällt sie schon frühzeitig durch eine doppelte quere Einschnürung in drei besondere, jedoch in offener Verbindung stehende Abtheilungen, eine vordere eine mittlere und eine hintere. Die ganze weitere Entwickelung ist damit unabänderlich vorgezeichnet. Die drei Bläschen bilden den festen Rahmen, innerhalb dessen alle Umgestaltungen, und zwar in einem jeden in eigen, artiger Weise sich vollziehen. Sie werden dadurch zur Grundlage für eben soviele typische Abschnitte des Gehirnes, für das Vorderhirn (Prosencephalon), das Mittelhirn (Mesencephalon) und das Hinterhirn (Epencephalon).

Von den drei genannten Bläschen bleibt nur daß mittlere einfach. Das vordere und hintere dagegen erfahren eine bedeutsam Erweiterung, indem ihre vorderen Enden sich nach auf- und rückwärts blindsackartig aufstülpen, und dadurch dem [41/42] Hauptbläschen ein Nebenbläschen beigesellen, das, da es mit der Zeit zu einem besondern Hirntheile heranwächst, als eine weitere typische Gliederung der ersten Anlage zu betrachten ist. Beide Nebenbläschen sind Anfangs klein und unansehnlich, bald aber überwuchern sie die zugehörigen Hauptbläschen in so bedeutendem Maasse, dass nur ein kleiner Theil derselben, nämlich der Boden, von ihnen unbedeckt bleibt. Sie erzeugen dadurch den sogenannten Mantel ( Pallium ) des Gehirns, - im Gegensatze zu dessen Stamm - der ausser den Hauptbläschen des Vorder- und Hinterhirns auch das gesammte Mittelhirn in seinen Bereich zieht.

Die weitere Entwickelung zeigt für die Stammbläschen die Eigenthümlichkeit, dass beim vorderen und hinteren die Decke in ihrer Mitte der Länge nach entzwei reisst, und eine umfängliche Eröffnung der bisher geschlossenen Binnenhöhlen veranlasst. In beschränkter Ausdehnung wiederholt sich dadurch ein Verhältniss, wie es früher für die ganze Länge nicht blos der Gehirn-, sondern auch der Rückenmarksanlage bestanden hatte"*).

Ausser der schon erwähnten Eintheilung des Gehirns in Hemisphären, werden im Verlauf des


*) Aeby, „Der Bau des menschlichen Körpers", Leipzig 1871, S. 821. [42/43]

fötalen Lebens desselben viele kleine Einschnitte oder Furchen auf der Oberfläche gebildet. Manche der zuerst gebildeten sind nur temporär und verschwinden wieder. Aber im neunten Monate der fötalen Entwickelung soll das menschliche Hirn ein schematisches Bild von Spalten oder Furchen ( Sulci ), von Wülsten oder Windungen ( Gyri ) darstellen, das für die spätere Unterscheidung derjenigen Windungen die primär und typisch sind, von den secundären oder Neben-Windungen, besonders lehrreich ist. Die primären Furchen gehen bedeutend tiefer als die secundären. Die Windungen werden als Falten auf der Oberfläche des Gehirns angesehen, welche derselben beim erwachsenen Menschen eine zwölffache Vermehrung geben, und dadurch den Nervenzellen grössere Oberflächen zur Verfügung stellen. Es ist einleuchtend, dass die Ausbreitungen der Fasern, die von dem verlängerten Mark ausgehen, und die Richtungen die sie nehmen, mit den specifischen Hirnzellen und Fibern in Zusammenhang stehen. Je grösser die Fasercomplexe, und je weiter sie sich in irgend einer Richtung erstrecken, um so grösser in jener Richtung werden die Oberflächen und folglich die Lagen, welche den Zellen zur Verfügung stehen. Hierin ist die Bedeutung - bei einer guten physiologischen Constitution - von grossen Köpfen im Allgemeinen, oder von eini-[43/44]gen grossen Regionen des Kopfes insbesondere, zu suchen.

Die Windungen im Allgemeinen entstehen vermuthlich, weil das Wachsthum des Mantels schneller vor sich geht, als die Knochen sich auszudehnen vermögen. Eine Hemmung der räumlichen Ausdehnung des Gehirns wird natürlich, wo Bildungsenergie vorhanden ist, Falten verursachen. Diese Ansicht bezieht sich insbesondere auf jene secundären Windungen, welche sich bilden nachdem die Schädelknochen einander berührt, Consistenz erlangt, und einige davon sich fest zusammengefügt haben. Im vorderen Lappen des Gehirns sind die Windungen verhältnissmässig kleiner, zahlreicher und enger beisammen als in andern gleichgrossen Theilen der Gehirnoberfläche. Das Wachsthum der verschiedenen Theile des Mantels wird von vielen Anatomen für relativ angesehen; d. h. sie entwickeln sich weder räumlich noch zeitlich gleichmässig.

Es ist vorgeschlagen, jene getrennten Abschnitte der Gehirnoberflächen die zwischen den primären Furchen liegen, „Wülste" zu nennen, und die Bezeichnung Windungen für die secundären geschlängelten Oberflächen-Abschnitte, die durch Theilungen der ersteren als Falten entstehen, zu gebrauchen*).


*) Dr. Ad. Pansch, „Ueber die typische Anordnung der Fur-[44/45]

Mit Ausnahme einer Grenzlinie zwischen den Stirn- und Schläfen-Lappen, - wovon später gesprochen werden wird - stimmen die aus Wülsten und Windungen bestehenden Complexe des Gehirns nicht genau mit den üblichen Eintheilungen des Gehirns in Lappen überein. Es ist eine unzweifelhafte Thatsache, - von der ich vielfach Gelegenheit gehabt habe mich zu überzeugen - dass die Gehirne von Menschen die wegen ihrer geistigen Befähigung bekannt waren, viel zahlreichere und asymmetrische Windungen mit tieferen Zwischenfurchen haben, als die Gehirne von gewöhnlichen Menschen. Es giebt in der That in europäischen Ländern einen bedeutenden Unterschied in dieser Hinsicht bei den hand- und bei den kopfarbeitenden Classen, nicht allein was die Zahl und Asymmetrie der Windungen*) bei letzteren, sondern auch was die verhältnissmässig grössere Entwickelung des Stirnlappens bei ihnen betrifft.

Die Ansichten jener politischen Schwärmer,


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 44]chen und Windungen auf den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Affen". Archiv für Anthropologie, dritter Band, S. 252. Eine Arbeit, welche, wie auch die von Professor A. Ecker in derselben Zeitschrift, von grossem Werthe für das vergleichende Studium des behandelten Gegenstandes ist.
*) Vergleiche Tafel III, Figuren 1 u. 2. Auch sollen die Gehirne kleiner Kinder und mancher Negerracen grosse Symmetrie in beiden Hemisphären zeigen. Todd's „Encyclopaedia of Anatomy and Physiology", Vol. III, p. 697. [45/46]

welche sich einbilden, dass ein Bruch mit der Vergangenheit und die Einführung ganz neuer Institutionen nicht allein allgemeine Glückseligkeit, sondern auch allgemeine Gleichheit der Menschen (in Bezug auf geistige Fähigkeiten) zur Folge haben würde, finden keine Unterstützung bei der Physiologie. Gleichheit im moralischen Sinne kann und wird es niemals geben. Indessen können die Nachkommen der jetzt lebenden Menschen gewöhnlichen Schlages, - ja sogar der geistig-trägen unter ihnen - wenn ihre geistigen Fähigkeiten durch eine Reihe von Generationen gehörig ausgebildet worden, mit der Zeit so gut-entwickelte Köpfe bekommen wie die Kopfarbeiter unserer Generation; wohingegen diese letzteren, vorzüglich diejenigen unter ihnen die ihr Gehirn überarbeiteten, möglicherweise untergeordnetere Menschen als die ersteren zu Nachkommen haben werden.

Ich habe bisher nur vom Grosshirn gesprochen, aber das Kleinhirn ( Cerebellum ) muss hier ebenfalls einer kurzen Betrachtung unterworfen werden. Wie das Grosshirn, besteht es aus zwei Hemisphären mit Furchen, Lappen und Windungen, deren blätterige Formen jedoch sehr verschieden, und auf beiden Seiten symmetrischer sind, als beim Grosshirn. Die Oberfläche des Kleinhirns ist grau, und die Farbe wird nach dem Innern zu etwas dunkler. Es liegt [46/47] auch viel weisse Mark-Substanz darin, die in jeder Hemisphäre beim senkrechten Durchschnitt sehr regelmässig geästelte Figuren zeigt, weshalb dieser Erscheinung der Name Lebensbaum (Arbor vitae) gegeben wurde. Das Kleinhirn enthält Fasern von allen Rückenmarkssträngen, und besitzt auch sein eigenes System von Zellen von verschiedenen Formen und Grössen, und von zarten Fibern. Die zwei Gehirne stehen mit einander in enger Verbindung durch ein System von Querfasern, die sogenannte Brücke (Pons varolii), die um den vorderen und oberen Theil des verlängerten Marks hinläuft*).

In Beziehung auf das gesammte Ast- und Blätterwerk des Kleinhirns sagt Professor Aeby, dass „zur Zeit eine Verwerthung desselben im morphologischen oder physiologischen Sinne noch ganz unmöglich sei**)". Viele Autoritäten in der Physiologie behaupten dass dies Organ nichts mit der Intelligenz zu thun habe, sondern dass es hauptsächlich als Coordinator von körperlichen Bewegungen zu betrachten sei, wie auch aus Vivisectionen hervorgehe***). Aus der Structur dieses Organs


*) Tafel I D.
**) A. a. O., S. 840.
***) Aus den Experimenten des Professors D. Ferrier - die ich später ausführlich besprechen werde - scheint sich bisher nur er-[47/48]

darf man auf eine Mehrheit von Functionen schliessen, wovon eine Hauptfunction, wie ich fest überzeugt bin, zu der geschlechtlichen Liebe in enger Beziehung steht. Da das Kleinhirn in der niedrigsten Grube des Hinterkopfes seine Lage hat, und dessen Grösse im Allgemeinen bei lebenden Menschen sehr leicht zu erkennen ist, so habe ich mich durch zahlreiche Beobachtungen (positiver so wie negativer Natur) fest überzeugt, dass, wie Gall lehrte, der Geschlechtstrieb („Instinct de la propagation, instinct vénérien") zu den Functionen dieses Gehirntheils gehört. Auch scheint es mir, dass, obwohl die eigentlichen Impulse zu den Bewegungen des Körpers vom Grosshirn ausgehen, dennoch die Bewegungen selbst - wie, z. B. beim Spazierengehen und bei allen rhythmischen Bewegungen - durch das Kleinhirn geregelt werden. Es ist bekannt, dass körperliche Uebungen in der Jugend zu den besten Mitteln gehören, die zu frühen Thätigkeitsäusserungen des Geschlechtstriebes zu hemmen, so wie auch, dass bei Erwachsenen die zu starke Befriedigung dieses Triebes Muskelschwäche und Unfähigkeit die Bewegungen der Glieder gehörig zu reguliren zur Folge hat, wie man es oft in dem schlotternden


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 47]geben zu haben, dass das Kleinhirn Coordinator von Muskelthätigkeiten und nothwendig für die Erhaltung den körperlichen Gleichgewichtes ist.

Gang von Wüstlingen beobachtet. Das Rückenmark ist aber ebenfalls bei geschlechtlichen Verhältnissen betheiligt, und leidet auch durch deren Excesse. Die Liebe bei den beiden Geschlechtern hat zwar in den höheren Ausdrucksformen derselben individuelle Färbung, jenachdem die Dispositionen und Charaktere der Menschen im Ganzen beschaffen sind, dennoch ist ein besonderer Geschlechtstrieb als specielle Gehirnfunction anzuerkennen. Als eine physische Reflex-Action des Geschlechtssinnes kann ich auf den eigenthümlichen Ausdruck in den Augen von Verliebten aufmerksam machen. Die Seh- und anderen Augennerven wurzeln im innern Gehirnkörper (Kniehöcker, Sehhügel, Vierhügel), die in besonderer Verbindung mit dem Kleinhirn stehen. Hierdurch wahrscheinlich wird der verliebte Blick, auf den ich mich bezogen habe, seine anatomische Erklärung finden.

Nachdem ich Alles gelesen habe, was gegen Gall's Lehre in Betreff der erwähnten Hauptfunction des Kleinhirns geschrieben worden ist, muss ich bemerken, dass ich Nichts gefunden habe, was seine Erfahrungen widerlegte*). Bei Frauen im Allgemeinen ist


*) In einem Werke, das dazu bestimmt ist, von beiden Geschlechtern gelesen zu werden, würde es nicht gut sein, auf [49/50]

das Cerebellum verhältnissmässig kleiner als bei Männern. Ein Theil des Grosshirns hingegen (mittlerer Theil der Hinterhauptwülste), der sich äusserlich durch eine etwas spitzig gerundete Hervorneigung des Hinterhauptes über der Mitte des Kleinhirns zu erkennen giebt, ist bei Frauen relativ grösser. Nach der Lehre Gall's ist hierdurch bei Frauen weniger Sinnlichkeit und mehr Kinderliebe als bei Männern, organisch bedingt. Seine Erfahrungen in dieser Beziehung habe ich durch hundertfache eigne Beobachtungen bestätigt gefunden.

Es ist nun an der Zeit, vom Schädel und der allgemeinen Uebereinstimmung der Formenverhältnisse desselben mit denen des Gehirns zu reden; denn bestünde nicht eine solche Uebereinstimmung,


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 49]den angeführten Gegenstand tiefer einzugehen, so wie von meinen speciellen Beobachtungen und anatomischen Erfahrungen zu reden. Ich verweise auf ein Werk von Dr. A. Combe und G. Combe: „On the Functions of the Cerebellum, by Gall, Vimont and Broussais" (London, Longmans & Co., 1838), so wie auf ein deutschem Werk: „Ueber die Functionen des kleinen Gehirns" von Dr. Liedbeck (Carlsruhe 1846). In Folge seiner eignen Forschungen, so wie des Studiums der Werke Gall's und seiner Gegner (deren von Flourens insbesondere), und nach Berücksichtigung aller bekannten Experimente mit dem Kleinhirn (Vivisectionen u. s. w.) und der pathologischen Erfahrungen vieler Physiologen hat Dr. Liedbeck gefunden, dass sowohl der Geschlechtstrieb als die Coordination von Körperbewegungen zu den Functionen des Kleinhirns gehören. Er hat ferner gefunden, dass die äusseren grauen Theile des Kleingehirns den ersteren, die tiefer liegenden den letzteren Functionen vorstehen. [50/51]

so würde Gall's Methode die seelischen Functionen des Gehirns zu erforschen, allen Werth verlieren. Diese allgemeine Uebereinstimmung wird von allen Anatomen anerkannt. Professor Aeby sagt: „Das Gehirn erfüllt den Schädelraum nahezu vollständig, und kann deshalb der äussern Form nach im Ganzen und Grossen als dessen Ausguss angesehen werden"*). Die innere Fläche des Schädels zeigt zahlreiche Eindrücke der Windungen und. Blutgefässe des Gehirns, wodurch der Einfluss derselben auf die Knochen - deren Festigkeit in der That nur eine relative ist - bekundet wird.

Jede Entwickelung geht von Innen nach Aussen. Bei der Geburt sind die Knochen weich, und viele sind nur durch elastische Membranen in Verbindung. Nach und nach vereinigen sich einige der Knochen vollständig; andere bleiben durch Näthe (Suturen) in Verbindung, wodurch der Hirnschädel sich leichter ausdehnen kann. Im hohen Alter schrumpft das Gehirn zusammen, und der Schädel wird allmälig kleiner und relativ weniger hoch. Wasserkopfkrankheiten (Hydrocephalon) , abnorme Knochenbildungen und Knochenkrankheiten ausgenommen, zeigt der Schädel im Ganzen und Allge-



*) A. a. O., S. 820. [51/52]

meinen in jedem grossen Abschnitte des Lebens gewisse normale Formen- und Consistenz-Verhältnisse. Daneben sind zwar stets auch individuelle Unterschiede zu bemerken, und bei gehöriger Vorsicht lässt sich nahezu in allen Perioden des Lebens die Entwicklungsform des Gehirns aus der äussern Form des Kopfes erkennen.

Einige Anatomen, z. B. Professor Aeby, lehren, dass der ausgebildete Schädel, mit Ausschluss der Gesichtsknochen, aus drei Wirbeln*) und sieben verschiedenen Knochen bestehe - die sogenannten Worm'schen oder Schaltknochen (Ossa intercalaria) nicht mitgerechnet.

Die Schädelknochen an und für sich müssen aber auch vom Standpunkt der Mechanik und Architektur aus betrachtet werden. Es giebt besondere Theile der Knochen, die stets stärker als andere sind, z. B. die verschiedenen Höcker oder Muskelansätze, und die Verknöcherungspunkte (von wo der Process des Knochenwachsthums ausgeht),


*) Diese Wirbeltheorie, welche aus der wirklichen oder vermeintlichen Aehnlichkeit der Schädelbildung mit der der Wirbelsäule des Rückgrats entstanden, ist zuerst von Oken ausgegangen und von Goethe angenommen worden. Auch hat sie Carus adoptirt, und darauf seine sogenannte „Wissenschaftliche Cranioskopie" gegründet. Er meinte aber auch, dass der sogenannte Schläfenwirbel in enger Beziehung zu dem Vierhügel stehe - welchem Körper er grossen Einfluss auf die Gemüthssphäre der Seele zuschrieb. [52/53]

unter welchen namentlich die auf den Stirn - und Scheitelbeinen besonders wichtig sind. Auch liegen nicht überall die beiden Knochenplatten, aus denen das Schädeldach besteht, einander ganz parallel. Es giebt dazwischen kleine Höhlen, von denen jene des Stirnbeins (Sinus frontalis) die bedeutendsten sind. Hauptsächlich durch die grosse Thätigkeit der Kaumuskeln sind die Schläfenbeine und ein Theil des Keilbeins besonders dünn; auch zeigen diese Knochen keine doppelte Plattenbildung. Ohne hier in alle Einzelheiten einzugehen, habe ich wohl genug gesagt, um zu zeigen, dass ein specielles Studium der Schädelknochen zu allen Perioden des Menschenlebens nothwendig ist, ehe man aus der äussern Form des Kopfes auf die des Gehirns mit gehöriger Sicherheit schliessen kann. Als besonders wichtig muss ich hervorheben, dass die Grundtheile oder der Boden des Schädels eine genaue Berücksichtigung verlangen. Die relative Grösse der drei Gruben (Fossae), auf denen eben so viele grosse Abtheilungen, sogenannte Lappen, des Gehirns liegen, ist für das Seelenleben besonders wichtig. Von den vordern Gruben, auf welchen der Stirnlappen ruht, werde ich sogleich sprechen, und bemerke hier nur noch, dass das Verhältniss derselben zur mittleren Grube, worin der Schläfenlappen liegt - die relative horizontale Höhe dieser Gruben - [53/54] durchaus in Betracht gezogen werden muss, ehe man auf die verhältnissmässige Entwickelung der sogenannten thierischen und intellectuellen Fähigkeiten eines Menschen schliessen kann.

Die oben erwähnten Umstände, wodurch es einerseits schwierig, und in einzelnen Fällen fast unmöglich wird, die Entwickelungsformen des Gehirns ganz genau aus der äussern Form des Kopfes zu erkennen, so wie andererseits der früher berührte Umstand, dass die Gehirne selbst in Betreff der Zahl ihrer Windungen und Zellenlagen so sehr von einander abweichen, scheinen oberflächlich betrachtet, ein zweifelhaftes Licht auf den Werth der Gall'schen Beobachtungen zu werfen. Was die erstgenannte Schwierigkeit betrifft, so habe ich jedoch genug angedeutet, um zu zeigen, dass sie für praktische Zwecke der Beobachtung von wenig Belang ist, und hinsichtlich des zweiten Umstandes ist noch zu bemerken, dass bei gesunden Individuen in der Regel alle Theile des Gehirns von derselben Beschaffenheit der allgemeinen physiologischen Constitution sind. Was die Kraft oder Energie des Seelenlebens im Ganzen und Grossen betrifft, so haben weder Gall noch irgend einer seiner aufgeklärten Nachfolger je behauptet, dass sie aus Formen- oder Grössen-Verhältnissen allein zu erkennen sei. Auf die Frage einzugehen, in wie weit [54/55] Form und Mischung in der Physiologie, und in der Natur überhaupt unzertrennlich sind, scheint mir hier nicht der geeignete Ort, aber was die Beobachtung von Kopfformen, als Mittel zur Erkenntniss der vorherrschenden angeborenen Richtungen des Seelenlebens betrifft, so wird das Gesetz der Qualität mit dem der Quantität stets so viel als möglich berücksichtigt. In Betreff des Gehirns, so wie jedes andern körperlichen Organs, wird Grösse nur ceteris paribus als Maassstab der Kraft angesehen. Um das Princip einer Localisation von Seelenanlagen im Gehirn zu begründen, kann man aber, wie ich bald nachweisen werde, das Gesetz der Qualität bei Seite lassen. Im Allgemeinen darf man annehmen, dass, wo die physiologische Constitution schwächlich ist, wo Energie im Nervenleben (Mangel an Nervenprincip oder was immer) fehlt, oder wo krankhafte Zustände der Eingeweide und des Blutes die Actionen des Gehirns herabstimmen, alle Theile dieses Organs hierdurch ziemlich gleichmässig afficirt sein werden, und in solchen Fällen wird der Schädel weder im Ganzen, noch in besondern Theilen, sich auszudehnen vermögen. In entgegengesetzten Fällen - wo Gesundheit und Nervenenergie vorhanden sind, werden jene Partien der Gehirn-Hemisphären, die von Haus aus (als ererbt und angeboren) die stärkern sind, die grösseren [55/56] Anlagen zur Thätigkeit und - in Folge, des Gesetzes des Wachsthums durch Uebung - zur grösseren Entwickelung zeigen. Ich übersehe hier nicht die Macht der Verhältnisse, einer speciellen Erziehung u. s. w., aber ich wiederhole nochmals, dass ich „das Loth von der Mutter" als das wichtigste Moment für den individuellen Charakter halte - und unter allen Umständen wird die relative Entwickelung verschiedener Kopftheile den Schlüssel zur Schätzung der relativen Entwicklung von besondern Kategorien des Seelenlebens liefern. Ich muss dieses relative, und nicht absolute Verhältniss hinsichtlich der Localisation von Seelenfähigkeiten besonders betonen, auch ist das Umgekehrte des soeben Gesagten ebenfalls begründet: Sehr ungünstige Umstände, Mangel an Reizen, an Uebung des Geistesorgans, werden dessen Grösse im Allgemeinen, oder aber in besonderen Richtungen vermindern. Dies zeigt sich im Grossen bei unterjochten Nationen, oder bei einzelnen Menschen die in Sklaverei gehalten werden - „Diminuti capitis" sagte das römische Gesetz in Beziehung auf die römischen Sklaven.

Auf die angedeutete Weise, und durch günstige geographische, klimatische und andere äussere Lebensverhältnisse, durch Zuchtwahl u. s. w. sind im Verlaufe grosser Zeiträume einige Zweige oder [56/57] Racen des Menschengeschlechts dahin gekommen, grössere und besser gebildete Gehirne und Schädel zu haben als andere.

In Beziehung auf die Grösse und das Gewicht des Gehirns, als Ganzes betrachtet, ist oft bemerkt worden, dass begabte Menschen - und namentlich solche, die nicht allein hohe Intelligenz, sondern auch starke Charakter-Eigenschaften besassen, wodurch sie sich einen grossen Einfluss auf ihre Zeitgenossen erwarben - grosse Köpfe gehabt haben. Bei solchen Individuen sind aber, soviel man aus Büsten und Porträts urtheilen kann, die Köpfe nicht nur im Allgemeinen gross, sondern alle Theile derselben sind in der Regel proportionell entwickelt gewesen. Wären nur die Grösse und das Gewicht des Gehirns, als Ganzes betrachtet und ohne Rücksicht auf die Formenverhältnisse desselben, die entscheidenden Momente für geistige Begabung im Allgemeinen, so müsste es unerklärlich sein, dass Menschen, die grosse Armuth des Verstandes, so wie aller höhern Empfindungen zeigen, und die nur sehr stark in Betreff ihrer rohen, verbrecherischen Neigungen sind, dennoch grosse Köpfe besitzen. Ich beziehe mich hier nicht auf verwahrloste Menschen, die unter sehr ungünstigen Verhältnissen aufgewachsen sind, sondern auf solche die von Haus aus einen starken Hang zum Laster und Verbrechen äussern, und die [57/58] den Strafhausvorstehern und Allen mit der Criminal-Statistik Vertrauten wohl bekannt sind. Nach den Grundsätzen der Gall'schen Lehre ist die Erklärung des eben Gesagten leicht. Obwohl bei solchen rohen, lasterhaften Menschen die Köpfe im Ganzen oft von normaler und sogar übernormaler Grösse gefunden wurden, so besteht die Grösse in einer zu starken Entwickelung der Schläfen- und Hinterhaupt-Abtheilungen des Gehirns, während die vorderen und oberen Theile dieses Organs, relativ und oft absolut, sehr klein sind.

Dass aber eine normale Grösse des Kopfes eine nothwendige Bedingung für geistige Begabung in einigen oder mehreren Richtungen ist, sieht man schlagend erwiesen, wenn man die Köpfe von mikrocephalen Idioten betrachtet. In allen Fällen wo der Umkreis des erwachsenen menschlichen Kopfes weniger als dreizehn Zoll zeigt, ist stets Blödsinn damit verbunden*).


*) Von den Gehirnen eminenter Menschen, die nach ihrem Tode gewogen worden sind, erreichte das von Cuvier 4 Pfund 11 Unzen 26 Gramme medicinisches Gewicht, und das des Wundarztes Dupuytren 4 Pfund 10 Unzen, während das eines fünfzigjährigen Idioten 1 Pfund 8 Unzen 4 Drachmen, und das eines vierzigjährigen desgl. 1 Pfund 11 Unzen 4 Drachmen im Gewicht hatte. R. R. Noel, „Grundzüge der Phrenologie", S. 51. Professor Luschka sagt, dass im Allgemeinen die Gehirne von erwachsenen mikrocephalen Idioten nur ein Drittheil des Gewichts von Gehir-[58/59]


In der Ueberzeugung, dass im Allgemeinen die Form des Schädels mit der des Gehirns übereinstimmt, und dass letzteres das geistige Organ sei, haben sich in neuerer Zeit nicht allein Physiologen von Fach, sondern auch Mitglieder von anthropologischen und ethnologischen Gesellschaften in vielen Ländern ganz besonders damit beschäftigt, Schädel zu messen, und den Cubikinhalt derselben zu schätzen, indem man Schrot oder andere Substanzen, womit man sie füllt, gewogen hat. Auch widmet man der relativen Entwickelung der verschiedenen Schädelknochen besondere Aufmerksamkeit. Solche Verfahrungsweisen würden sehr wenig Sinn haben, wenn sie keine Rücksicht auf Eigenthümlichkeiten des Seelenlebens nähmen, und in der That sehen wir hinsichtlich verschiedener Menschenracen und der beiden Geschlechter das Bestreben gewisse charakteristische Seeleneigenthümlichkeiten zu erkennen, und dieselben im Zusammenhang mit dem Bau der Schädel zu erklären. Die übliche Classification von Schädeln - als dolichocephale und brachicephale (lange und kurze) - wirft jedoch nur wenig Licht auf die charakteristischen Eigenschaften verschiedener Racen, und noch weniger auf die der Indi-

[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 58]nen gewöhnlicher erwachsener Menschen haben. Archiv für Anthropologie, Band V, S. 497. [59/60]

viduen. In Beziehung auf Racenunterschiede von Schädeln sagt Professor Aeby, dass „solche, obwohl mit zahlreichen Uebergängen zwischen den extremen Formen, vorhanden sind. Sie betreffen vorzugsweise die Breitenentwickelung der Hirnkapsel, während deren Höhen- und Längenverhältnisse mehr nur individuelle Schwankungen darbieten". Er schlägt daher vor, die Menschenracen als schmalköpfig (stenocephal) und mehr oder weniger breitköpfig (eurycephal) zu bezeichnen*). Diese Bemerkung eines berühmten Anatomen stimmt wenigstens mit meinen Erfahrungen hinsichtlich europäischer Köpfe gut überein. Ich habe auffallendere Unterschiede in den natürlichen Dispositionen von Menschen in Verbindung mit breiten und schmalen Köpfen, als mit langen und kurzen beobachtet. Ich habe langköpfige Menschen geistig beschränkt, andere hingegen sehr begabt gefunden, und ähnliche Erfahrungen habe ich in Betreff kurzköpfiger Menschen gemacht. Der längste Kopf den ich jemals gemessen habe, ist der eines sächsischen Selbstmörders, der nach den Erkundigungen die ich seinerzeit (als er sich erhängte, 1840) über ihn einzog, nur wenig Verstandeskraft besass **). Die grosse


*) A. a. O., S. 250.
**) Ich habe den Kopf des Todten nicht allein gemessen, son-[60/61]

Länge dieses Kopfes bestand aber in einer anormalen Entwickelung der Keilschläfenbein-Lappen und des Hinterhauptes, während der Stirnlappen sich sehr zurückweichend, eng und flach zeigte; was unter letzterer Bezeichnung zu verstehen ist, werde ich bald erklären. Die grosse Aufmerksamkeit welche anthropologische Gesellschaften neuerdings der Cranioskopie zuwenden, kann, obwohl bisher mehr Rücksicht auf die blos anatomischen Unterschiede der Schädel verschiedener Menschenracen, als auf das Seelenleben letzterer genommen wird, doch am Ende wichtige Thatsachen ans Licht fördern. Die speciellen Beobachtungen der Knochen aus welchen die Basis des Schädels besteht, und ihrer Verhältnisse zu den Gesichtsknochen, haben schon interessante Resultate geliefert; z. B. ist ein sehr bezeichnender Unterschied - ausser dem sogenannten Prognathismus - in den Schädeln von Negern und Europäern bemerkt worden, indem Erstere das Hinterhauptsloch ( Foramen magnum ) etwas anders, d. h. schräger nach hinten auf den Atlas (den obersten Theil des Rückgrats) gestellt haben, als die Letzteren. Hierdurch nähern sich die Neger mehr den niederen Vertebraten als die Europäer.

[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 60]dern denselben abgiessen lassen. Die grösste Länge des Kopfes betrug 9 3/8 sächsische Zoll. [61/62]


In Beziehung auf die Knochen aus welchen die Schädelbasis gebildet wird, mag hier erwähnt werden, dass ein deutscher Professor, der ein populäres Werk über die Physiologie des Menschen geschrieben hat*), den Kretinismus der zu frühen Verknöcherung der drei Theile aus welchen das sogenannte Grundbein besteht, zuschreibt. Das Grundbein soll ferner grossen Einfluss als Schlussstein, auf alle Schädelgruben, so wie auf das Gewölbe, äussern.

Eine zu frühe Verwachsung, so wie eine krankhafte Verdickung der Schädelknochen können ohne Zweifel die Entwickelung des Gehirns bis zu einem gewissen Grade hemmen. Aber was den Kretinismus betrifft, so sind viele andere Umstände ausser der zu frühen Verwachsung des Grundbeins zu berücksichtigen, will man diese Form eines krankhaft-verkrüppelten Geistes allseitig erklären. Es wird bei Kretinen im Allgemeinen ein grosser und angeborener (ererbter) Mangel an constitutioneller Kraft gefunden, und dieser Mangel zeigt sich oft als eine durch viele Generationen gehende Anhäufung von Umständen, die der Gesundheit im Allgemeinen, und namentlich der des Nervensystems und des


*) „Der Leib des Menschen" von Professor Reclam, S. 76 u. fg. Stuttgart 1870. [62/63]

Gehirns, sehr nachtheilig sind. In den Alpen findet man Kretinen oft in sumpfigen Gegenden, oder in sehr engen, wenig von der Sonne beschienenen Thälern. Schlechte Luft, grobe, hauptsächlich fettbildende Nahrungsmittel, Abgeschlossenheit und Mangel an geistiger Anregung, auch vielleicht ein sehr kalkhaltiges Trinkwasser - das bei schwachen Constitutionen Einfluss auf die Verdickung der Knochen haben mag - gehören gewiss zu den veranlassenden Ursachen des Kretinismus. Professor Reclam scheint Ursache und Wirkung zu verwechseln, und in den Schädeln von Kretinen der verkrüppelten Entwickelung des Stirnbeins insbesondere keine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Meine eigenen Beobachtungen in Gegenden wo diese Unglücklichen häufig zu sehen sind, haben mich überzeugt, dass, so grosse und verschiedenartige Abweichungen von einer normalen Bildung ihre Köpfe im Allgemeinen zeigen, der Sitz des vordern Lappens des Gehirns, als eine constante Erscheinung, sich sehr verkrüppelt zeigt*).

Ich habe bei diesem Gegenstande so lange verweilt, weil nicht allein die abnormen Schädel der Kretinen,


*) Siehe Tafel IV, Fig. 2. Ich habe diesen Schädel eines Kretins aus Hallstadt im Salzkammergut genommen, weil er mit den Schädeln vieler anderer Kretinen, die ich auf dem dortigen Gottesacker gesehen habe, im Ganzen übereinstimmte. [63/64]

sondern auch die Formen der Schädel und Gesichtsknochen gesunder Menschen den besondern Entwicklungen des Grundbeins zugeschrieben worden sind. Es scheint in der That, als wären bei den Theorien von Schädelbildungen das Gehirn und dessen Bildungsenergie ausser Acht gelassen worden. Auch scheinen andere Verknöcherungs- und Wachsthumspunkte, ausser denen auf der Basis des Schädels namentlich die auf den Stirn- und Scheitelbeinen zu wenig berücksichtigt zu werden. Bei manchen Schädeln sieht man eine bedeutende Erhöhung derselben - auf eine grosse Ausdehnung des Gehirnmantels hinweisend - über die eben genannten Verknöcherungspunkte hinausgehen, bei anderen hingegen nicht. Diese Unterschiede, die schwerlich mit den Knochenverhältnissen der Schädelbasis etwas zu thun haben, sind aber mit auffallenden Unterschieden im Seelenleben des Individuums in genauem Zusammenhange.

In den europäischen Ländern, die ich mehr oder weniger gut kenne, habe ich sowohl lange wie kurze Köpfe, doch im Ganzen die eine oder die andere Form vorherrschend gefunden. Ich habe z. B. bemerkt, dass die Köpfe der nördlichen Franzosen, der Italiener, Engländer, der keltischen und slavischen Stämme die ich kenne - die Russen nicht mitgerechnet - im Allgemeinen etwas länger [64/65] und schmäler als die der jetzigen Deutschen sind. Die Köpfe der Letzteren sind in der Regel breit und kurz, doch oft durch ihre Höhe ausgezeichnet; d. h. der Mantel des Gehirns, besonders bei den gebildeten Classen, zeigt eine schöne Erhabenheit. In allen Ländern jedoch, wo ich viele Köpfe der Eingeborenen untersucht habe, ist in allen Fällen wo ich Zuverlässiges über die Charaktereigenschaften und Befähigungen der Individuen erfahren konnte, meine Ueberzeugung von der Uebereinstimmung derselben mit der relativen Entwickelung besonderer Kopfregionen bestärkt worden.

Es ist jetzt an der Zeit, den Ausdruck flach oder schmal, den ich oben in Beziehung auf das Stirnbein und den vordern Lappen des Gehirns gebraucht habe, näher zu erklären. Hierbei werde ich Gelegenheit haben, auf einen gut bezeichneten und leicht bemerkbaren Unterschied an Schädeln, so wie an Köpfen von Lebenden, und auf die Coincidenz desselben mit einem eben so gut bezeichneten Unterschied in Betreff einer Kategorie von Seelenfähigkeiten besonders aufmerksam zu machen. Was ich in Folgendem hervorzuheben gedenke, reicht schon hin, die Richtigkeit des Princips darzuthun, dessen Beweisführung Dr. Gall sein Leben widmete, nämlich des Princips, dass verschiedene See-[65/66]lenanlagen in verschiedenen Theilen des Gehirns localisirt sind.

Die Oberfläche des Gehirns, mit Ausnahme des Kleinhirns, wird gewöhnlich in vier Lappen eingetheilt: den vorderen oder Stirn-, den Schläfen-, den Scheitel- und den Hinterhauptslappen. (Lobi ceribri, frontales, temporalis, parietalis et occipitalis.) Diesen wird noch ein fünfter, aber sehr kleiner Lappen (Lobus centralis) zugerechnet. Da er aber bei völlig entwickelten Gehirnen in der sylvischen Grube liegt, und äusserlich nicht auf der Oberfläche des Gehirns wahrzunehmen ist, so werde ich ihn hier nicht in besondere Betrachtung ziehen. Von den vier zuerst genannten Lappen ist der vordere am deutlichsten gezeichnet und am leichtesten zu erkennen, indem die sylvische Grube und deren Furchen ihn auf der mittleren Basis und eine Strecke seitwärts hinauf, sehr bestimmt von den Schläfenlappen unterscheiden. Die sylvische Furche oder Spalte ist die erste im Embryo gebildete, und mit Ausnahme der Längsspalte, durch welche das Gehirn in den Hemisphären getheilt ist, bleibt sie während des ganzens[!] Leben die grösste Eintheilung auf der Oberfläche des Gehirns. In der Stirn-Scheitel-Gegend ist allerdings eine Grenze des Stirnlappens nicht genau anzugeben, und überhaupt ist die übliche Unterscheidung von Lappen mehr oder [66/67] weniger künstlich, und hat im Ganzen nur eine oberflächliche und äusserliche Bedeutung. Die Anatomen richten heutzutage mit gutem Grund ihre Aufmerksamkeit viel mehr auf die Furchen und Wülste der Gehirnoberfläche, als auf die Lappen. Da jedoch die Basis des Gehirns einen auffallenden Unterschied in der Form und Lage der Theile, welche man als Stirn- und Schläfenlappen bezeichnet, zeigt, und ein eben so grosser Unterschied in dem Schädelgrund worauf jene Theile liegen - namentlich in den Gruben - zu bemerken ist; da ferner tausendfache Erfahrungen mich überzeugt haben, dass eine Schätzung der relativen Entwickelung des Stirnlappens bei Individuen von der grössten Wichtigkeit ist, um ihre intellectuelle Begabung zu erkennen, so finde ich demnach nöthig, noch länger bei diesem Gegenstande zu verweilen.

Bei horizontal aufgeschnittenen Schädeln sieht man, dass der unterste Theil des vorderen Gehirnlappens auf eine erhöhte Platte des Stirnbeins - die sogenannte supraorbitale Platte - oder auf das obere Dach der Augenhöhlen, zu liegen kommt. Diese Platte ist allemal höher - manchmal sogar sehr bedeutend höher - als die Grube worauf der Schläfenlappen ruht. Die innere Ausdehnung der supraorbitalen Platte nach der Mitte des Schädels zu, kann man aber, obwohl sie, wie gesagt, in [67/68] aufgeschnittenen Schädeln genau zu sehen ist, in nicht aufgeschnittenen und an den Köpfen von lebenden Menschen nur durch die folgende Methode der Beobachtung erkennen.

An allen Schädeln bemerkt man auf jeder Seite nach vorn eine kleine Einsenkung (wie eine Art Rinne), genau an die Extremitäten der Kronnähte und- auf die Keilbeine sich erstreckend. Der Theil dieser Einsenkung, wo die Kronnaht und das Keilbein sich äusserlich berühren, stimmt in der Regel ziemlich genau mit der erwähnten inneren Ausdehnung der Knochenplatte worauf der Stirnlappen liegt, überein. An Köpfen lebender Menschen kann man bei einiger Uebung die beschriebene Einsenkung mit der Fingerspitze fühlen, am leichtesten bei mageren Menschen. Es giebt aber noch einen Umstand, wodurch die Ermittelung der Lage und inneren Ausdehnung des vorderen Lappens erleichtert wird. Nachdem man den Kopf eines Lebenden in eine senkrechte Lage gebracht hat, muss man die hervorragendste Stelle des Jochbogens aufsuchen; dann eine verticale Linie den Kopf hinauf ziehen, und die innere seitliche Ausdehnung des Stirnlappens wird mit dieser Linie übereinstimmen *). Die Höhe und Breite des Vor-



*) Genauere Anweisungen über diese Untersuchungs-Methode sind enthalten in: „Grundzüge der Phrenologie", S. 132. [68/69]

derkopfes sind leicht genug zu erkennen, doch betrachtet man eine Stirn blos von vorn, so kann sie sowohl breit als hoch erscheinen, während doch ihre Tiefe sehr unbedeutend sein mag. Um die materielle Grundlage intellectueller Befähigung eines Menschen gehörig zu schätzen, ist es nothwendiger die Tiefe des vorderen Lappens - nach den Ohren zu - zu messen, als seine Höhe und Breite zu berücksichtigen. In dieser Hinsicht ist der englische Ausdruck „shallow-pated" auf dumme Menschen angewendet, nicht ohne Sinn*).

Der vordere Lappen des Gehirns erreicht seine volle Entwickelung zuletzt, und diese Thatsache stimmt mit der Erfahrung überein, dass im Allgemeinen die intellectuellen Kräfte des Menschen viel später als die Gemüthsanlagen zum Vorschein kommen. Ich habe mehrmals in Erfahrung gebracht, dass Aenderungen in den Formen- und Grössen-Verhältnissen von Köpfen Erwachsener viel mehr einem fortschreitenden Wachsthum der Stirn, als dem irgend eines anderen Kopftheiles zuzuschreiben sind**).


*) Vergleiche Taf. II, Fig. 1 u. 2. Taf. III, Fig. 3 u. 4, und Taf. IV, Fig. 2, 3, 4 u. 5.
**) Herr Paul Broca hat im vorigen Jahr der Société de l'anthropologie zu Paris seine Untersuchungen über die relative Grösse der Köpfe der Infirmiers (Krankenwärter) und der Internes (Geisteskranken) in Bicêtre mitgetheilt. Auch hat er seine vergleichenden Kopfmessungen angegeben. Er hat gefunden, dass Bildung, namentlich intellectuelle Arbeit, die Grösse des Gehirns befördert, und dass [69/70]

Auch in Beziehung auf die „Tendenz zur Verwachsung der verschiedenen Schädelwirbel" sagt Professor Aeby, „das Streben nach Freiheit erstarkt vom hinteren Ende des Schädels zum vorderen"*).

Wenn es auch vom theoretisch-psychologischen Standpunkte aus schwierig erscheinen mag, eine ganz klare Definition von intellectuellen Kräften zu geben, und sie von denen der Gefühle genau zu unterscheiden, so wird doch in der Praxis ein grosser Unterschied stets anerkannt - wie der Sprachgebrauch jedes gebildeten Volkes deutlich bekundet. Gemeiniglich glaubt man, dass die Gemüthsbewegungen, Leidenschaften u. s. w. vorzüglich mit dem Herzen zu thun haben, indem das Gehirn nur als Organ für die Vorstellungen und das Denken überhaupt dienen soll. Doch wird diese Ansicht nicht mehr von Physiologen getheilt, die jetzt allgemein das Gehirn als das Organ des Seelenlebens im Ganzen anerkennen. Ich berufe mich nur noch auf die Erfahrung, dass man die Menschen gewöhnlich als Verstandes- und Gemüthsmenschen classificirt, und dass wir häufig Beispiele von starken Leidenschaften, gepaart mit schwachem Verstande, und ebenso das Gegentheil beobachten können.


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 69] die Zunahme desselben vorzüglich im vorderen Lappen stattfindet. (Lancet 5. Juli 1878.)
*) A. a. O., S. 184. [70/71]


Zur Bekräftigung dessen, was ich über die intellectuellen Functionen der Stirn sagte, haben wir ferner die Erfahrung, dass Menschen bei denen der vordere Gehirnlappen verhältnissmässig sehr klein ist, viel weniger denken und mit Bewusstsein handeln, als Menschen deren Stirnen verhältnissmässig gross sind*). Ich berufe mich ferner auf die Erfahrung, dass das Denken an und für sich, obwohl gewöhnlich ein ganz ruhiger Geistesprocess, dennoch manchmal starke Gefühle erregt, die mit grossen Aufregungen verschiedener Organe des Körpers verbunden sind. Wenn wir z. B. nicht äusserlich beschäftigt sind, und wir in solchen müssigen Momenten, wie man zu sagen pflegt, „unseren Gedanken Audienz geben", so streifen Bilder, Erinnerungen unserer Erlebnisse u. s. w. unwillkürlich durch den Kopf. Bei diesem Vorgang kann vielleicht der Gedanke an einen grossen Schmerz oder aber an eine grosse Freude aufsteigen; z. B. an eine erfahrene Beleidigung, oder an eine zu erwartende Begegnung mit einer sehr geliebten Person. Wenn etwas dieser Art geschieht, so ist es mit der Ruhe


*) Dass auch willkürliche, bewusste Bewegungen von dem vorderen Lappen des Gehirns ausgehen, haben Gall und seine Nachfolger schon lange behauptet. Neuerlich hat Professor Ferrier durch seine Experimente diese Ansicht bestätigt, worüber ich später mehr sagen werde. [71/72]

des Denkens vorbei. Augenblicklich, besonders bei Personen in denen die Anlagen zum Stolz oder zur Liebe stark entwickelt sind - wird das Herz heftig klopfen, das Gesicht erblassen, oder aber erröthen, und einige Zeit wird vergehen müssen, ehe der normale, ruhige Fluss der Gedanken wieder von Statten geht. Obwohl beim Denken und Fühlen die mechanischen, chemischen Aenderungen - Molecülen-Bewegungen, oder was immer -, die in den Nervenzellen und Fibern der Gehirnhemisphären vorgehen, uns noch unbekannt sind, so ist es doch allen Beobachtern der Phänomene des Seelenlebens klar, dass alle geistige Thätigkeiten physisch sind, und dass ihre Aufeinanderfolge und ihre Associationen durch bestimmte Gesetze geregelt werden. Selbst vom theoretischen Standpunkt aus betrachtet, und specielle Erfahrungen an Köpfen bei Seite lassend, deuten die erwähnten Verschiedenheiten in den körperlichen Zuständen beim Denken und Fühlen auf bestimmte Functionen besonderer Theile des Seelenorgans hin.

Um nun aber das Gesetz der Grössenentwickelung praktisch zu beweisen, brauchen wir nur unsere Beobachtungen auf ein grosses Terrain auszudehnen, und sehr viele Köpfe mit Rücksicht auf die Entwickelung ihrer Stirnen genau anzusehen. Thun wir dieses, und überblicken dann unsere Er-[72/73]fahrungen im Ganzen und Grossen, so können wir von dem Gesetz der Qualität des Gehirns abstrahiren, und wir werden finden, dass das oben Gesagte betreffs der Grössenentwickelung der Stirn im Verhältniss zu der relativen intellectuellen Befähigung der Menschen, eine feste Wahrheit ist. Um mich hier nicht mit Specialisirung besonderer Formen dieser Befähigung, als besonderer Talente u. s. w. aufzuhalten, classificiren wir die Menschen ganz im Allgemeinen als intellectuell begabte oder gescheidte - und als das Gegentheil, oder sogar als dumm. Berücksichtigen wir dann ihre Stirnbildungen auf die angegebene Weise, so wird die Thatsache auf die ich mich bezogen habe, sich schlagend herausstellen.

Weiter: Messen wir, mit einem in Millimeter eingetheilten Bändchen, die Stirnen jener beiden Classen von Menschen, indem wir das Bändchen gerade über die Augenbrauen legen, und die Entfernungen zwischen den beschriebenen Einsenkungen in den Keilbeinen ermitteln, und vergleichen wir dann die Mittelzahlen einer bedeutenden Menge solcher Messungen - von beiden Classen gleich zahlreich - so wird das Entwickelungsgesetz der Grösse, was intellectuelle Begabung betrifft, mathematisch erwiesen werden. Noch dazu kann beim Berücksichtigen der Mittelzahlen solcher Messungen [73/74] nicht allein das Gesetz der Qualität bei Seite gelassen werden, sondern die Messungen brauchen nur, wie gesagt, sehr zahlreich zu sein, um alle Schwierigkeiten der speciellen Beobachtung in Folge der Ungleichheiten in der Dicke der Schädelknochen in Wegfall zu bringen. Nach der bekannten Theorie der Compensationen müssen bei Messungen im Grossen die kleinen Unterschiede der Knochendicke, die ebenso bei der einen wie bei der anderen Classe von Menschen vorkommen, sich ausgleichen.

Das Gesetz der (relativen) Grössenentwickelung kann auch auf andere Theile des Kopfes angewendet werden. Es ist meine volle Ueberzeugung, aus äusserst zahlreichen Beobachtungen hervorgegangen, dass zwei andere Kategorien des Seelenlebens - die sogenannte thierische und moralische - in zwei anderen Regionen des Kopfes ihre Grundlagen haben. Die erstere ist mit der von dem Keilschläfenlappen gebildeten Region und einem Theile des Hinterhauptlappens verbunden; die zweite mit jener, welche die vorderen Scheiteltheile des Kopfes einschliesst. Bei dem Ausdruck „thierische Kategorie des Seelenlebens" beziehe ich mich auf die angeborenen Anlagen, welche Thieren und Menschen grossentheils gemein sind, und welche bei letzteren die Hauptquellen ihrer sogenannten selbstischen [74/75] Natur, ihren Selbsterhaltungstrieb, bilden. Die moralische Kategorie umfasst beim Menschen die Grundlagen des Wohlwollens und der edleren Sympathien, der Pietäts-, Verehrungs- und Gerechtigkeitsempfindungen, und alles dessen was man insbesondere höhere Humanität nennt.

Wenn wir nun die ältesten europäischen Schädel, die in neuerer Zeit in Felsenhöhlen u. s. w. neben Knochen von ausgestorbenen Thierarten, Steingeräthen, Waffen u. s. w. aufgefunden worden sind, - und welche von Richard Owen als die Schädel einer „troglodyten Menschenrace" oder „primitiver speläischer Völker" bezeichnet sind - mit modernen Schädeln von einer durchschnittlichen Form vergleichen; wenn wir ferner die Köpfe jetzt lebender tief stehender Wilden, und die von brutalen Menschen, die leider mitunter noch immer in hochcivilisirten Ländern anzutreffen sind, mit den Köpfen von moralisch-intellectuellen Menschen vergleichen - worin bestehen dann die Unterschiede? Beim durchschnittlichen Europäer, und noch auffallender bei moralisch-intellectuellen Individuen, in der relativ höheren Entwickelung der Stirn- und Scheitelregionen des Kopfes, in jener Ausdehnung und Erhöhung des Mantels des Gehirns, auf die ich oben aufmerksam zu machen gesucht [75/76] habe*). In den Köpfen der „troglodyten Menschenrace", der niedrigst stehenden Wilden, sowie in denen der brutalsten der modernen Europäer - deren Köpfe einen sogenannten „Verbrecher-Typus" zeigen - sind die eben beschriebenen Theile sehr niedrig und flach, kurz, sie sind wenig entwickelt, während hingegen in solchen Köpfen die basilocentralen, und die noch weiter hinten liegenden Theile relativ und oft absolut sehr hervorragend sind.

Ueber die in neuerer Zeit in Europa aufgefundenen Schädel bestehen etwas abweichende Ansichten - insbesondere über den vom Engisthal. Huxley hat sogar gemeint, dass dieser Schädel gute Proportionen zeigt, und dass er „eben sowohl einem Philosophen angehört haben, als, das Gehirn eines gedankenlosen Wilden enthalten haben könnte". An einer anderen Stelle seines Werkes giebt er aber zu, dass „die Stirn eine enge (narrow) Form zeigt,


*) Was sehr hohe Köpfe anbelangt, ist zu bemerken, dass es solche giebt, die keineswegs mit grossen intellectuellen und moralischen Fähigkeiten in Verbindung stehen. Mitunter sieht man sehr einfältige Menschen mit hohen Köpfen. In solchen Fällen ist ihre Längsachse jedoch nicht gehörig entwickelt, und die Stirn, wenn sie auch ziemlich breit und hoch erscheint, hat nicht jene Tiefe, von der ich bereits gesprochen habe. Ferner ist zu bemerken, dass in Fällen, wo der vordere Gehirnlappen sehr stark entwickelt ist, in der Regel die Stirn - auch nach Abrechnung der Stirnhöhlengrösse sind Zeichen davon vorhanden - über die Gesichtsknochen hinausragt. [76/77]

und dass sie einem Menschen von beschränkten intectuellen Fähigkeiten angehört haben müsse". Ich kenne zwar diesen Schädel - der aber nicht ganz erhalten ist, da dessen Grundtheil fehlt - nur aus Zeichnungen und Beschreibungen. Indess reichen diese schon hin, um mich zu rechtfertigen, wenn ich meine Verwunderung über die obige Ansicht eines berühmten Cranioskopen ausspreche. Welcher Grad von Verstandeskräften hinreichen würde, um in den Augen des Herrn Professor Huxley einen Philosophen zu bilden, weiss ich zwar nicht, aber auf meine Erfahrungen gestützt, kann ich kühn behaupten, dass ich niemals einen Menschen, der wirklich ausgezeichnete Auffassungs- und Denkkräfte - das was Humboldt so gut als „combinirenden Verstand" bezeichnet hat - besass, mit einer Kopfbildung, ähnlich der des Engisthal-Schädels, oder sogar mit der irgend eines Wilden, gesehen habe.

Aus den Abbildungen und Beschreibungen der vorhistorischen Schädel geht gewiss so viel hervor, dass sie sich im Ganzen von normalen Köpfen der Jetztzeit durch einen stärkeren Knochenbau, einen flacheren Vorderkopf und durch viel stärkere Stirnwülste unterscheiden. Letzterer Umstand ist bei dem Neanderthal-Schädel besonders auffallend. Professor Virchow hat jedoch diesen Schädel für [77/78] eine „pathologische Bildung" erklärt, und dieser Meinung ist Lucae beigetreten*).

Wenn auch vielleicht gewisse abnorme Bildungsformen des Schädels, genetisch betrachtet, pathologische sein mögen, so ist es doch stets nöthig, in allen concreten Fällen - wo man keinen Grund hat, Mangel an Gesundheit, eine schlechte Constitution im Allgemeinen vorauszusetzen - den Einfluss


*) S. Archiv für Anthropologie, 6. Band, S. 14. Braunschweig 1873.
In die pathologische Frage kann ich nicht erschöpfend eingehen; ich bemerke aber, dass, da wir von einer absoluten Gesundheit dem Menschen nichts wissen, es bei Untersuchungen von Bildungsformen des Kopfes, oder denen anderer Theile des Körpers, schwer zu unterscheiden ist, ob nicht vielleicht einige davon, die gewiss ererbt sind und uns dennoch als abnorme erscheinen, ihre Genesis in längst vorübergegangenen Lebensverhältnissen des Menschen hatten, die eine allzu grosse - möglicherweise krankhafte - Thätigkeit besonderer Körpertheile verursachten. Es giebt aber auch in dem Körper der jetzt lebenden Menschen einige überflüssige, rudimentäre Gebilde, deren genetische Entstehung in Vorältern - vielleicht sehr ferne Stehenden - zu suchen ist. Möglich ist es, dass die Stirnhöhlen und die anderen leeren Räume im Schädel des Menschen (deren Zweck die Physiologen nicht kennen), und die so gross und constant bei vielen Thieren sind, auf eine ursprüngliche, sehr weit zurückliegende Abstammung des Menschen vom Thiere hindeuten. Ich werfe diese Idee nur als hypothetisch hin, und ich liebe eigentlich Hypothesen nicht, obwohl sie manchmal zur Erforschung von Thatsachen anspornend dienen. Bei einer Familie habe ich die Stirnhöhlen in drei Generationen von Erwachsenen, männlichen Geschlechts, äusserst gross gefunden. Auch in dem Porträt des Urgrossvaters des jüngsten Gliedes der Familie sind sie sehr markirt. Die Köpfe der Glieder der drei Generationen die ich untersucht habe, zeigen trotz der erwähnten und einiger anderer Familienähnlichkeiten, doch bedeutende individuelle Verschiedenheiten, die mit ihren Charakteren übereinstimmen. [78/79]

individueller Bildungsenergie auf die Form des Schädels, als ein sehr wichtiges Moment zu berücksichtigen. Dies zeigt sich auch klar, wenn wir die Thatsache in Betracht ziehen, dass, so sehr auch die Schädel gewisser sogenannter Menschenracen einige ziemlich constante Charaktere zeigen (so wie auch ihr Seelenleben im Ganzen und Allgemeinen es thut), dennoch individuelle Verschiedenheiten in denselben stets zu bemerken sind.

Im Herbste 1871 sah ich im Museum des Herrn Lukis in St. Peters Port, Guernsey, mehrere Schädel und Theile von Schädeln - insbesondere die vorderen Theile - eines alten keltischen Volkes. Sie sind alle in oder ganz dicht bei alten Bauten (sogenannten „Cromlechs") dieser und anderer der Canalinseln aufgefunden worden. Diese Schädel sind als über 4000 Jahre alt geschätzt. Sie sind alle durch die Dicke und grobe Textur der Knochen, durch die Grösse ihrer Hinterhäupter und Keil-Schläfenbeintheile, und durch ihre flache, enge und zurückfliegende Stirn ausgezeichnet. Wenn nicht jede Spur eines Gegendrucks auf das Hinterhauptbein fehlte, so könnte man die flache Stirn dieser Schädel mit denen der „Flatheads" von Amerika in eine Kategorie stellen. Diese alt-keltischen Schädel sind auch höchst interessant, insofern sie ebenfalls bestätigen, dass die Richtung der Gehirn-[79/80] und Kopfentwickelung, die mit dem Fortschreiten der Civilisation verbunden ist, sich vorzüglich auf die Ausdehnung und Erhöhung der vorderen und oberen Regionen des Kopfes bezieht*).

Um besondere Seelenanlagen, welche mit bestimmten Formen des Kopfes in Uebereinstimmung zum Vorschein kommen, weiter zu specificiren, so kann man sehr wohlwollende, sogenannte gutherzige, mit sehr gefühllosen, sogenannten hart- und kaltherzigen Menschen, und die Köpfe dieser beiden Classen vergleichen. Bei den ersteren wird man eine Erhöhung vorn, gerade wo Scheitel und Stirn sich vereinigen, finden; bei den letzteren ist dieser Theil verhältnissmässig flach oder gedrückt. Auch findet man bei der letzteren Classe von Menschen - wenn sie nicht allein durch Mangel an Güte und Theilnahme für Andere charakterisirt sind, sondern sich auch sehr hab- und selbstsüchtig zeigen - eine Kopfform, die in der Regel eurycephal genannt werden könnte, d. h. die Keil-Schläfenbeinlappen sind bei ihnen sehr stark entwickelt. Die sehr wohlwollenden und


*) Merkwürdig fand ich auch in der interessanten Sammlung des Herrn Lukis die grosse Menge von aufgefundenen alten, menschlichen Zähnen. Sie sind alle sehr gross und haben einen besonders starken Schmelz. Ich habe gewiss mehr als 200 Stück gesehen, wovon viele noch in sehr starken Unterkiefern festsassen, und doch fand ich nur ein einziges Beispiel von Caries. [80/81]

grossmüthigen Menschen hingegen sind stenocephal zu nennen. Auch lassen sich sehr stolze, hochmüthige, und andererseits sehr bescheidene Naturen, mit Rücksicht auf ihre Kopfbildungen vergleichen. Die Unterschiede wird man vor Allem in der grösseren oder geringeren Entwickelung des obersten Theils ihrer Hinterhäupter finden. Ferner können sehr vorsichtige und sehr unvorsichtige Charaktere, und ihre Kopfbildungen, verglichen werden, und im Ganzen wird man morphologische Verhältnisse finden, die auf eine Localisation von Seelenanlagen mit Bestimmtheit hindeuten. In den Fällen auf die ich mich beziehe und in mehreren anderen die ich hier nicht erwähnen will, sind die gemachten Erfahrungen sowohl negativ als positiv, und darum um so gewichtiger.

Um noch einmal den vorderen Gehirnlappen, als den Sitz von intellectuellen Fähigkeiten insbesondere, in Betracht zu ziehen, so sind an den Stirnen von grossen Musikern und von grossen Malern bedeutende Unterschiede zu bemerken. Ebenso unterscheiden sich auch die Stirnen poetischer Geister von denen sehr prosaischer Menschen, und die Stirnbildungen, von tiefsinnigen Denkern, die das Theoretische und Abstracte lieben, sind von denen der zuletzt beschriebenen nicht minder verschieden. Es ist mir niemals ein grosser Portrait- oder Histo-[81/82]rien-Maler vorgekommen, dessen Augen nicht etwas weiter auseinander gestanden hätten, als es bei der Mehrzahl der Menschen der Fall ist; d. h. der untere, mittlere Theil des vorderen Lappens, der vorn (zwischen den Augenbrauen) zu liegen kommt, ist bei ihnen besonders entwickelt. Die Stellung der Augen ist ferner beachtungswerth; wenn sie heruntergedrückt sind, so ist ein grosses Wortgedächtniss, oder eine grosse Befähigung Sprachen zu lernen, damit in Verbindung. Die Gehirnwindung in welcher, nach Gall, die Sprachfähigkeit localisirt ist, liegt auf der Orbitalplatte, gerade über den Augen. Ist diese Windung stark entwickelt, so ist die Folge davon, wie erwähnt, in dem Heruntergedrücktsein der Augen zu bemerken. Durch sehr zahlreiche Erfahrungen habe ich Gall's Lehre in dieser Hinsicht bestätigt gefunden*). Auch habe ich niemals einen wirklich grossen Musiker (Componisten) gesehen, dessen Stirn nicht oberhalb der äusseren Winkel der Augenbrauen hervorragend war. Wenn auch die Stirnhöhlen es etwas schwierig machen, die Entwickelung einiger der phrenologischen intellectuellen Fähigkeiten genau abzuschätzen, so bin ich doch fest überzeugt, dass, so wie die unteren


*) Bei Besprechung des Experimentes des Dr. Ferrier werde ich auf die Anlage, Sprachen zu erlernen, näher eingehen. [82/83]

oder die oberen Partien der Stirn vorherrschend entwickelt sind, verschiedene Richtungen einer intellectuellen Begabung zum Vorschein kommen. Grosse Beobachtungsgabe hängt insbesondere mit einer vollen Entwickelung der unteren Partie der Stirn zusammen, während hingegen die Anlage zum tiefen, logischen Denken niemals bei Menschen gefunden wird, deren Stirn eine sehr enge und zurückweichende Stellung zeigt - indem eine volle Entwickelung der oberen Stirnpartie für die genannte Befähigung durchaus nothwendig ist. Wo die Auffassungs- und Denkkräfte in Harmonie sind, da werden auch die oberen und unteren Stirnpartien harmonisch entwickelt gefunden.

Auch habe ich Grund anzunehmen, dass das Bewusstsein, insofern dieses Wort die Kenntnissnahme von und das Nachdenken über die von Aussen kommenden Eindrücke, oder über unsere inneren Empfindungen, bedeuten soll, vorzüglich als Thätigkeitsäusserung der mittleren oberen Partien des Vorderlappens des Gehirns zu betrachten ist. Das Bewusstsein aber im vollsten Sinne des Wortes - und alles concrete Wissen einschliessend - hängt auch, wie schon früher bemerkt, von der Art der Qualität unserer Auffassungen und Empfindungen ab, welche sich wiederum als Thätigkeitsäusserungen besonderer angeborener Anlagen erweisen; denn, [83/84] ich wiederhole es, ein Mensch der nicht fähig ist, alle primitiven und complementären Farben, oder alle musikalischen Töne und Cadenzen wahrzunehmen, kann weder volles Bewusstsein von Farben, noch von musikalischen Harmonien haben.

Was das Selbstbewusstsein betrifft, das bei speculativen Psychologen eine so grosse Rolle spielt, - und als Beweis einer übersinnlichen Seele gelten soll - so hat dieses, insofern Kenntniss der eignen Individualität darunter zu verstehen ist, seine allmälige historische Entwickelung. Das Kind fängt damit an, von sich in der dritten Person zu reden; es kennt sich objectiv viel früher, als es ein subjectives Bewusstsein erlangt. Letzteres, wenn es einmal entwickelt ist, muss sowohl den Charakter der vorherrschenden angebornen Anlage, als auch der speciellen Erlebnisse und der Bildung irgend eines Individuums reflectiren. Ich kann mich hier auch auf die Erfahrung berufen, dass Menschen ihrem Ich oft ein Du entgegenstellen. Wenn z. B. Menschen unter grosser Aufregung Handlungen begangen haben, die sie später bedauern, so hört man sie oft zu sich selbst sagen: „Wie hast du doch so thöricht handeln können". Solche Redensarten wären unerklärlich, wenn die menschliche Seele homogen, und das Selbstbewusstsein eine einheitliche Kraft wäre. Auch kann die blosse Selbst-[84/85]kenntniss, wie jede andere Form von erworbenen Kenntnissen, durch Gehirnkrankheiten verlorengehen, wie man das so häufig bei Wahnsinnigen sieht, und Krankheiten - wie das sogenannte Petit mal , und selbst Betrunkenheit - können das Selbstbewusstsein aufheben. Betrunkene Menschen sprechen oft mit grosser Lebhaftigkeit von vielerlei Sachen, während sie doch bisweilen nicht mehr zu wissen scheinen, wer sie eigentlich sind.

Thatsachen und Beweisgründe, ähnlich denen die ich erwähnt habe, um zu zeigen dass das Bewusstsein nicht eine einfache homogene Kraft sei, liessen sich auch anführen, um zu beweisen dass andere Geisteskräfte der psychologischen Schulen, wie z. B. die Einbildungskraft, die Aufmerksamkeit, die Sympathie, die Urtheilskraft, der Wille u. s. w. nur als abstracte Begriffe, als allgemeine Vorstellungen zu betrachten sind, und dass, wenn man sie mit Rücksicht auf ihren concreten Inhalt untersucht, sie immer als Grundlage die Thätigkeitsäusserungen besonderer angeborner Anlagen zeigen.

Das eben Gesagte vollständig zu beweisen, würde eine lange Abhandlung erfordern. Ich beschränke mich hier auf einige Bemerkungen über den Willen, indem die Psychologen von dieser einen ihrer Kräfte in sehr unklaren und unbestimmten Ausdrücken reden. [85/86]

Der Deutlichkeit halber betrachten wir den Willen 1) als Wollen, mit Begierden und Impulsen verbunden, 2) als Willenskraft, mit Energie und Festigkeit des Charakters im Allgemeinen vereint. Was das erstere anlangt, so ist unser Wollen ebenso verschiedenartig und ebenso stark als es unsere angebornen Anlagen und Neigungen sind. Jede Anlage, sui generis, hat Antheil an dem Wollen. Der Wollüstige verlangt und will die Befriedigung seiner besonderen Begierden; ebenso der Habsüchtige, der Ehrgeizige, der Wohlwollende, der religiöse Mensch u. s. w., und die mit Talenten - als für Musik, Malerei, Sprachen - Begabten, äussern auch Wollen, indem sie die Befriedigung ihrer vorherrschenden Geistesanlagen suchen. Hierüber mehr zu sagen, wäre überflüssig.

Aber abgesehen von besonderen Dispositionen, Begierden, Capacitäten, Talenten, hören wir die Menschen oft als stark und schwach im Allgemeinen classificiren, und diese Unterscheidung, die nicht ohne Grund gemacht wird, bezieht sich zum Theil auf die ganze physiologische Constitution der Individuen. Menschen von schwacher Gesundheit, besonders sehr nervöse, zeigen in der Regel weniger Willens- oder Thatkraft als die starken und gesunden Menschen. Viele pathologische Zustände, selbst temporäre Krankheiten - mitunter ein sehr [86/87] heftiger Schnupfen - können uns für eine Zeit lang fast jedes starken Wollens berauben. Aber wenn wir die Menschen mit Rücksicht auf ihre Charaktere im Ganzen und Allgemeinen betrachten, so können wir von den oben erwähnten körperlichen Zuständen abstrahiren, und nicht allein werden, wie erwähnt, specielle Quellen des Wollens bemerkbar, sondern man findet bei vielen Menschen eine Eigenschaft, die man Selbstgefühl, Festigkeit und Consequenz in Befriedigung ihrer Begierden und in der Ausführung ihrer Beschlüsse zu nennen pflegt. Auf diese Kategorie von Menschen, so wie auf die entgegengesetzte von schwachen Charakteren, hat Gall seine Aufmerksamkeit besonders gerichtet. Durch Beobachtung ihrer Köpfe kam er am Ende dazu, eine besondere Anlage im Gehirn, die er „Festigkeit" nannte, anzunehmen. Wo er diese Anlage gross fand bei Personen, deren Köpfe ausserdem eine niedrige thierische Bildung zeigten, bekam er Beweise von Festigkeit in der Form von Eigenwillen, Beharrlichkeit und Halsstarrigkeit im Streben nach Befriedigung gemeiner Begierden und selbstischer Triebe; bemerkte er hingegen Festigkeit in einer moralischen Richtung - als Beständigkeit in Menschen- und Wahrheitsliebe, in Pflichterfüllung u. s. w. so fand er bei solchen Menschen nicht allein die Anlage zur „Festigkeit" gross, [87/88] sondern auch den ganzen vorderen und oberen Theil des Kopfes gut entwickelt.

Vom rein theoretischen Standpunkte aus mag es fast überflüssig erscheinen, eine besondere Anlage der „Festigkeit" als Bestandtheil des Willens anzunehmen - da die angebornen Neigungen höherer und niederer Art bei dem Wollen betheiligt sind. Bedenken wir aber, dass viele Formen von Seelenthätigkeiten, ursprünglich durch Umstände hervorgerufen, zur Gewohnheit werden und sich vererben lassen, so wird eine besondere Disposition zur Festigkeit und Consequenz im Handeln nicht unwahrscheinlich sein; die Erfahrungen Gall's und seiner Nachfolger an verschiedenen Köpfen scheinen das Dasein einer solchen Anlage zu bestätigen.

Dass der Wille, wie manche Denker meinen, nicht blos eine Thätigkeitsäusserung der intellectuellen Fähigkeiten - insbesondere der Denkkräfte - sei, wird klar, wenn wir bedenken, dass viele geistig sehr begabte Menschen, namentlich poetische Naturen, oft, einen grossen Mangel an Willenskraft an den Tag legen, während manche geistig beschränkte Menschen grosse Willenskraft äussern. Auch dass Menschen oft widerstreitende Impulse empfinden und Kämpfe mit sich zu bestehen haben, und dass dennoch die stärksten Neigungen, ohne Rücksicht auf die Einsprache des Verstandes, die [88/89] Handlungen bestimmen, ist allbekannt. Die Theorie vom Wollen und der Willenskraft, auf empirische Beobachtungen basirt, wie ich sie angedeutet habe, wirft wenigstens mehr Licht auf jene Erscheinungen des Seelenlebens, als die Lehren der Philosophen es thun, welche den Willen als eine einheitliche Kraft betrachten.

Ich füge hier noch einige Bemerkungen über eine psychologische Theorie bei, die von vielen deutschen Physiologen angenommen worden ist. Ich meine die Theorie, wonach alle Seelenthätigkeiten sich als Vorstellungen erklären lassen. Es wird gelehrt, dass, indem die Sinnesapparate Eindrücke empfangen, - ihre sogenannten adäquaten Reize - und die Sinnesnerven dieselben zum Gehirn leiten, - wo wirkliche Empfindungen, Vorstellungen und Strebungen stattfinden - indem ferner nothwendigerweise auf alle Empfindungen Vorstellungen folgen, und diese wiederum Handlungen bestimmen, Seelenthätigkeiten sich in Vorstellungen auflösen müssen. Der dreifache Vorgang im Seelenleben - Empfindung, Vorstellung, Streben - ist richtig dargestellt. Da aber die psychischen Reflex-Actionen die auf äussere Reize folgen, von der mannigfaltigsten Art sind, und da auf keine zwei Menschen dieselben Reize ganz ähnlich wirken, so ist es nothwendig, das Individuelle bei Empfindungen [89/90] und Handlungen zu erklären. Dies glauben die Physiologen, welche die Vorstellungstheorie angenommen haben, durch die Art und den Grad der Vorstellungen thun zu können, die ein jeder Mensch in seiner Seele angesammelt habe. Aber diese Ansicht ist weit davon entfernt, das Eigenthümliche und Spontane der Gemüthsbewegungen und das Ungestüme der Leidenschaften zu erklären, die so oft in Handlungen übergehen, wenn sie auch vom Verstand, d. h. von gewissen Vorstellungen, gemissbilligt werden. Die angeborenen Anlagen zeigen sich in psychischen Reflex-Actionen, und oft selbst in bewussten Handlungen viel auffallender und bestimmter als irgend welche Vorstellungen es thun. Und selbst in Fällen, wo Vorstellungen der Klugheit oder Moralität über Handlungen entscheiden, sind in der Regel Gemüthsanlagen vorhanden, die ihren Antheil an dieser Entscheidung haben. Ich habe diese Theorie, wonach Seelenthätigkeiten mit Vorstellungen identisch sein sollen, nur berührt, weil sie wiederum einen Beweis davon liefert, wie sehr abstracte Denker, indem sie das ganze Gebiet der Seelenerscheinungen zu übersehen meinen, dazu geneigt sind, eine allgemeine Formel zu deren Erklärung zu erfinden.

Bei geistigen Vorgängen aber bekenne ich, dass es nicht möglich ist, objective und subjective [90/91] Eindrücke, und ihre correlativen Vorstellungen, gänzlich zu trennen. Die Theorie von Locke, wonach er alle angeborenen Ideen verwarf, verlangt eine Modification. Vorstellungen, oder wenigstens die Keime von Vorstellungen, sind bei Menschen und Thieren eingeboren und erblich, und haben mehr oder weniger Einfluss auf ihre Handlungen. So wie sie auf die Welt kommen, beobachtet man bei ihnen Erscheinungen, die mit dem Gedächtnisse und den Gewohnheiten welche allmälig bei Individuen gebildet werden, eine gewisse Analogie haben. Instinctartig wird von neugebornen Kindern oder Säugethieren die Brust (oder die Zitzen) ihrer Mütter erfasst. Junge Hunde fangen beim ersten Anblick gewisser Thiere an, dieselben zu jagen, und würgen sie, ohne von ihren Eltern oder von Menschen dazu abgerichtet zu sein. Instinctiv werden junge Katzen sich ducken, und nach Mäusen und kleinen Vögeln springen. Bei allen Thieren kommen in der That Triebe in Thätigkeit, sowie gewisse Gegenstände von ihnen gesehen werden. Es scheint daher, dass, so wie die Triebe selbst als angeboten zu betrachten sind, auch gewisse Perceptionen, Ideen oder Vorstellungen der sie anregenden Gegenstände es sein müssen*). Auch beim


*) Als Beleg des oben Gesagten erwähne ich eine der Erfahrun-[91/92]

Menschen sieht man verschiedenartige Empfindungen, Impulse, Neigungen und Abneigungen, Geschmäcke u. s. w. auf die Eindrücke folgen, welche von verschiedenen äusseren Gegenständen auf die Sinne gemacht werden. Sehr abnorme Phänomene dieser Art nennt man Idiosynkrasien, da sie gewöhnlich mit den Individuen die sie manifestirt haben, aussterben. Ich erwähne als Beispiel die Abneigung und selbst Furcht, die Jakob I. von England empfand, wenn er eine blanke Waffe erblickte. Viele Seeleneigenthümlichkeiten setzen sich jedoch - in was immer ihre Genesis zu suchen sei - in Menschenracen und Familien fest. Die Beobachtung dieser Thatsache hat bei Lady Mary Wortley Montagu die Bemerkung hervorgerufen, dass „Gott nicht allein Männer und Frauen erschaffen habe, sondern auch Herveys"*). Auch die Zigeuner, welche schon eine sehr lange Zeit


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 91]gen Charles Darwin's. - Er hat auf den Gallopagos-Inseln gefunden, dass junge Enten, die von einheimischen Eltern dort ausgebrütet waren, gar keine Furcht vor Menschen zeigten - hingegen ganz junge Thiere, deren Eltern aus den Falklands-Inseln kamen, sobald sie sich bewegen konnten, allsogleich den Menschen fürchteten, so wie es wilde Enten gewöhnlich thun. Zur Zeit von Darwin's Reise schien kein Vogel auf erstgenannten Inseln den Menschen zu fürchten, während auf den Falklands-Inseln, wo der Mensch schon lange als Feind bekannt war, wilde Enten, wie viele andere Thiere, grosse Scheu vor ihm zeigten.
*) Eine englische adelige Familie, in welcher es durch mehrere Generationen viele Sonderlinge gab. [92/93]

inmitten civilisirter, europäischer Völker ein vagabundirendes Leben führen, scheinen ihre Neigung dazu von umherstreifenden Stammeltern in Hindostan ererbt zu haben *). Schon die Anatomie des Gehirns zeigt, - obwohl dessen verworrene Faserstructur noch nicht genug erforscht worden ist - dass alle Theile der Hemisphären in Verbindung stehen. Hierdurch können wohl Associationen von Gefühlen und Vorstellungen, die wir in besonderem Geschmack, Gewohnheiten u. s. w. zur Erscheinung kommen sehen, als erblich oder individuell erworben, eine Erklärung finden.

Ich komme nun auf die Physiognomie zu sprechen, nicht allein weil sie von Gall als Hülfsmittel zur Menschenkenntniss benutzt wurde, sondern auch weil er in dem natürlichen Ausdruck des Gesichts und in den spontanen, so wie den gewohnheitsmässigen Bewegungen des Körpers Belege für besondere Seelenanlagen und deren Localisirung im Kopfe gefunden hat. Das eben Gesagte macht es klar, dass ich unter Physiognomie nicht die stabilen Gesichtszüge verstehe, - obwohl diese, da sie Unterschiede von Racen bezeichnen helfen, mit der historischen Entwickelung und den Kopfbildungen derselben in einiger Beziehung stehen - sondern


*) „Archiv für Anthropologie", Band V, S. 269. [93/94]

ich beschränke mich auf die Pathognomie oder die natürliche Sprache der Seelenthätigkeiten. Der Ausdruck verschiedener Gemüthsbewegungen, Leidenschaften, intellectueller Fähigkeiten u. s. w., die als psychische Reflex-Actionen oder als bewusste Mimik und Pantomime in den Augen, der Stimme, den Bewegungen des Gesichtes und Körpers wahrgenommen werden, ist sehr interessant und lehrreich. Jede Seelenanlage hat ihr bestimmtes Zeichen, welches auch oft auf die Lage derselben im Kopfe hindeutet. Es ist z. B. bekannt, dass stolze Menschen sich sehr aufrecht und steif halten, und dass sie in den höchst gesteigerten Momenten ihres Selbstgefühls ihre Köpfe sehr hoch aufrichten: „Er trägt die Nase hoch", wie man von einem stolzen Menschen zu sagen pflegt. Diese charakteristische Stellung des Kopfes stimmt mit der schon erwähnten Lage der Selbstachtung überein. Sehr wohlwollende, so wie auch nachdenkliche Menschen neigen ihre Köpfe nach vorn, und auch diese Gewohnheit stimmt mit der beschriebenen Lage eines Gehirntheils, oder Organs, für die Empfindungen des Wohlwollens, wie mit der des Schlussvermögens überein. Besonders vorsichtige, behutsame Menschen sind gewohnt, ihre Köpfe von der einen zur anderen Seite langsam zu bewegen, und zugleich seitwärts zu blicken. Möglich ist es, dass deshalb [94/95] der Ausdruck „umsichtige Menschen" auf sie angewendet worden ist. Sehr schlaue, falsche Menschen halten ihre Köpfe in der Regel stets nach einer Seite und etwas vorwärts geneigt. Ihre Augen haben einen unstäten, fuchsartigen Ausdruck. Selten sehen sie Jemanden voll ins Gesicht. Die Lage des „Verheimlichungs- oder Schlauheitstriebes" harmonirt mit diesem charakteristischen Ausdruck. Auch wenn der Theil des Keil-Schläfenbein-Lappens - wo Gall, wie erwähnt, die Lage eines „Würgsinnes" (Zerstörungssinnes) angegeben hat - sehr entwickelt ist, und in grosse Thätigkeit kommt, sind die Bewegungen des Kopfes und des Gesichts sehr charakteristisch. Bei starken Ausbrüchen von Zorn sieht man oft bei so afficirten Menschen, dass sie ihre Köpfe abwechselnd sehr rasch auf beide Seiten hin und her bewegen, wobei diese (die Köpfe), statt gehoben zu werden, sich den Schultern zu nähern scheinen. Auch knirschen Menschen in solchen Momenten mit den Zähnen und machen Bewegungen mit dem Munde, als ob sie beissen wollten, oder ballen oft die Fäuste, wenn sie auch nicht beabsichtigen dreinzuschlagen.

Der Ausdruck des Gesichts und die Stellung des Kopfes bei Personen die starke Regungen der Verehrung oder Anbetung empfinden, ist ebenfalls in Harmonie mit der Lehre Gall's. Ich habe mich vielfach über-[95/96]zeugt, dass in den erwähnten und vielen anderen Fällen - die ich der Kürze halber übergehe - Gall's Beobachtungen im Ganzen ihre Richtigkeit haben.

Es versteht sich aber, dass man jene Gewohnheiten im Ausdruck des Gesichts und in den Bewegungen des Körpers, wo man sie, wie bei manchen Kindern und wenig gebildeten Personen blos aus Nachahmung entstanden sieht, von den soeben, besprochenen unterscheiden muss. Bei Kindern und bei sehr impulsiven Erwachsenen ist die Pathognomie nichtsdestoweniger am leichtesten zu studiren; denn sehr gebildete und an Selbstbeherrschung gewöhnte Menschen besitzen viel Macht über den Ausdruck ihrer Empfindungen. Es ist hier nicht unerwähnenswerth, dass Kinder und Hunde die Physiognomie eines Menschen oft besser zu verstehen scheinen als Erwachsene, denn je mehr Werth letztere auf eine articulirte und conventionelle Sprache legen, um so weniger richten sie ihre Aufmerksamkeit auf den natürlichen Ausdruck und die Geberden ihrer Mitmenschen. Ich habe oft bemerkt, dass wenn Personen die keine Kinderliebe haben, um sich bei Eltern einzuschmeicheln, deren Kinder liebkosen wollen, die Ersteren bestochen werden, die Letzteren nicht. In solchen Fällen ist ein Zwiespalt im Ausdruck bemerkbar. Die eine Form ist wahr und nicht ganz zu beherrschen, die andere ist gezwungen [96/97] und falsch. Ich habe mich in Bezug auf Pathognomie nur auf Weniges beschränkt, obwohl es ein Gegenstand ist, der ernste Betrachtung verdient*).

Um auf das Vorhergesagte über besondere Formen des Kopfes und damit correspondirende vorherrschende Seelenanlagen zurück zu kommen, so werden Manche vielleicht die Einwendung machen, dass die Erfahrungen, worauf ich mich berufen habe, nur Coincidenzen darstellen. Sind aber die Coincidenzen - wenn man sie so nennen will - so äusserst zahlreich und wiederkehrend, und sowohl negativer wie positiver Natur, dass sie im Ganzen und Grossen betrachtet als naturgesetzlich erscheinen, so verlieren alle Einwendungen dagegen ihren Werth, wenn sie sich nicht auf Gegenerfahrungen


*) Es ist sehr zu bedauern, dass Darwin die Beobachtungen Gall's und seiner Nachfolger ganz ignorirt. In seinem Werke über den Ausdruck der Empfindungen u. s. w. bemüht er sich sehr, die Erklärung desselben bei Thieren und Menschen aus fernliegenden Ursprungsursachen abzuleiten, während er den unmittelbaren Beziehungen des Ausdrucks zum Bau des Gehirns, als Seelenorgan, keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Auch sind die Abbildungen von Menschen-Physiognomien in seinem Werke eher Grimassen als natürliche Ausdrücke von Empfindungen zu nennen. Er spricht zwar oft vom Gehirn als „Sensorium", ohne jedoch dessen Entwickelungsverhältnisse und die Beziehungen desselben zu Gemüthsaffecten und ihrem naturgemässen Ausdrucke, im Geringsten zu beachten. Ferner spricht er von Geisteskräften oder Vermögen, wie z. B. dem „Willen", dem „Vermögen oder der Fähigkeit der Einbildung", des „Wunderns" u. s. w. in einem ähnlichen Sinn wie die blos speculativen Psychologen es thun. [97/98]

gründen. Und solche ist man bisher nicht im Stande gewesen beizubringen.

Was die Lehre von speciellen Functionen des Gehirns betrifft, so stimmt sie - ich muss es betonen - mit physiologischen Grundsätzen im Allgemeinen überein. Wir sehen im Thierreich eine Zunahme von körperlichen Theilen oder Organen, mehr Differencirung und Specialisirung, je höher die Thiere in der Scala aufsteigen. Bei den niedrigsten Formen des Thierlebens werden verschiedene Functionen - Ausscheidung, Athmen, Verdauung und Bewegung - von einem Organ verrichtet. C. Darwin sagt: „Der Naturforscher hält mit Recht Differencirung und Specialisirung für Beweise der Vervollkommnung".

Wenn nun Alles was über Localisation von Seelenanlagen gesagt worden, wahr ist, wie kommt es, wird man vielleicht fragen, dass selbst die Hauptgrundsätze der Phrenologie so wenig Anerkennung finden, dass Anatomen und Aerzte im Allgemeinen, so wie Denker die vorgeben die Psychologie naturwissenschaftlich zu behandeln, jener Lehre allen Werth absprechen? Die Ursachen der Verkennung und Bekämpfung der Phrenologie sind vielfältig. Ich werde nur einige davon besprechen, die mir als die wichtigsten erscheinen.

Aerzte und Anatomen haben Gall's Erfah-[98/99]rungen für blos empirisch und werthlos gehalten, weil sie bisher nicht im Stande gewesen sind, gesonderte Theile (Wülste abgerechnet) auf der Oberfläche der Gehirnhemisphären zu entdecken. Hierbei haben sie jedoch unbeachtet gelassen, dass dieser Einwand zum Theil auch auf die Lehren über das Nervensystem seine Anwendung findet. Es wird z. B. anerkannt, dass Fasern, die in einer Hülle zusammenlaufen, verschiedene Functionen haben, obwohl man nicht im Stande ist, Grenzen der verschiedenen Faser-Stränge genau anzugeben. Und was die Kenntniss der Anatomie und Physiologie des Gehirns betrifft, so ist dieselbe von Autoritäten als sehr mangelhaft anerkannt worden, wie folgendes Citat aus dem Werke des Professor Aeby beweisen wird:

„Die Leitung von Erregungszuständen im Nervensystem erfolgt nur im Bereiche geschlossener und nirgends unterbrochener Bahnen; ein Ausbrechen aus denselben ist Sache der Unmöglichkeit. Es müsste deshalb die Aufgabe der Anatomie sein, eine jede dieser Bahnen in ihrer Selbständigkeit sowohl wie auch in ihrer etwaigen Beziehung zu anderen auf das vollständigste darzulegen; denn so allein liesse sich ein Einblick in den Mechanismus der ganzen Vorrichtung gewinnen und das Gebiet übersehen, welches für jeden an bestimmter Stelle [99/100] auftauchenden Reiz zugänglich wäre. Leider ist dieser Aufgabe gegenüber unser Vermögen ein höchst beschränktes. Die Erfassung der gröberen Verhältnisse ist freilich keine allzu schwierige, aber auch für die Gewinnung eines wirklichen Verständnisses nur wenig lohnende, da die Art und der Grad der Leistungsfähigkeit eben nicht die äussere Form, sondern nur das innere Gefüge zu bestimmen vermag. Nach dieser Seite hin bieten nun schon die peripherischen, dicht verschlungenen Netze der Nervenstämme oft unübersteigliche Schwierigkeiten, geschweige denn die Centralorgane, deren verworrene Züge von Zellen und Fasern vollends der Anstrengung spotten, sie in ihren gegenseitigen Beziehungen zu verfolgen. In den inneren Bau und damit auch in das wahre Wesen des Nervenapparates leitet deshalb fast ausschliesslich die Hypothese an der Hand des physiologischen Experimentes. Wer aber weiss, wie vieldeutig und trügerisch seine Sprache, wenn nicht die Anatomie deren Grammatik geschrieben, der darf sich nicht wundern über die spärliche Ausbeute sicherer Erkenntniss, welche sie bis jetzt für die feinere Anatomie des Nervensystems geliefert"*).

Aus dem Obigen geht klar hervor, dass den



*) Aeby, a. a. O., S. 812. [100/101]

Anatomen Nichts bekannt ist, was gegen die Möglichkeit einer Localisation von Seelenanlagen im Gehirn spricht. Was nun aber die Möglichkeit, abgesonderte, organartige Theile auf der Oberfläche des Gehirns zu finden, an und für sich betrifft, so scheint die Entdeckung eines tüchtigen englischen Physiologen, des Dr. W. B. Richardson*), diese Frage entschieden zu haben. Derselbe hat unlängst bei zwei getrockneten Menschen-Gehirnen gefunden, dass zahlreiche kleine Theile der Windungen durch ein feines Membran (die pia mater) von einander abgesondert sind, so zwar, dass er dieselben auseinandernehmen und wieder zusammenlegen kann - wie er sich gegen mich ausdrückte - „als wenn sie Stücke eines chinesischen Spielzeuges wären". Dr. Richardson hat die Güte gehabt, mir einen ziemlich grossen Theil einer der Gehirnhemisphären zu zeigen, wodurch ich mich von der Wahrheit des Gesagten überzeugte. Ob die abgesonderten Theile


*) Wie Dr. Richardson über das Gehirn und dessen Functionen im Allgemeinen denkt, wird aus seinen Worten, wie folgt, klar: „Es scheint mir, als ob das Gehirn nicht aus Theilen desselben Stoffes, die alle in einem einzigen Organismus verbunden wären, zusammengesetzt sei, sondern dass es ganz deutlich in einzelne Abtheilungen eingetheilt ist, von denen jede getrennt von den übrigen ihre besonderen Dienste zu verrichten hat".
(Memoir of Dr. Conolly, by Sir James Clark. M. D. p. 71.) London 1870. [101/102]

mit phrenologischen Organen zusammenstimmen oder nicht, ist vor der Hand nicht zu ermitteln*).

Noch wichtiger und lehrreicher als die Entdeckung des Dr. Richardson sind die Experimente des Dr. Ferrier an Thiergehirnen**). Dr. Ferrier hat in der letzten Zeit schon an Gehirnen von über hundert Thieren experimentirt.

Seine Verfahrungsweise besteht darin, die Thiere zu narkotisiren, sodann Theile ihrer Schädel abzuschneiden, und - so lange die Thiere am Leben und empfindlich dafür bleiben, auf verschiedene der blossgelegten Stellen ihrer Hirnhemisphären wiederholte elektrische Reizung wirken zu lassen***). Die


*) Dr. Richardson erzählte mir, dass er die zwei getrockneten Gehirne von einem Pariser Arzt erhalten hatte. Dieser Arzt, ein sehr tüchtiger Anatom, übersiedelte während des Krieges nach London, und als er nach Niederwerfung der Commune-Herrschaft nach Paris zurückkehrte, schenkte er dem Dr. Richardson die Gehirne. Letzterer konnte mir nicht sagen, auf welche Weise die Gehirne getrocknet wurden. Das Stück das ich zur Ansicht bekam, sah ganz anders aus als Gehirnstücke die durch Weingeist oder Chlorzink verhärtet worden sind. Dr. Richardson hatte die Absicht, Versuche mit Thiergehirnen anzustellen, um sie wo möglich ähnlich zu trocknen, wie die von dem Pariser Arzt erhaltenen Menschen-Hirne.
**) Dr. Ferrier sagt übrigens in seiner Abhandlung: „Experimental Researches in Cerebral-Physiology and Pathology" (The West-Riding Lunatic Asylum, Medical Reports Vol. III, London 1873): „Die nicht-Unempfindlichkeit des Gehirns für jede Art von Reizung wurde bereits von den beiden deutschen Forschern Fritsch und Hitzig in Reichert und Du Bois-Reymond's Archiv 1870 nachgewiesen.
***) Und zwar nur durch „Faradisation", (kleine unterbrochene Schläge der Maschine anwendend). [102/103]

Thiere an denen er experimentirte, sind Hühner, Meerschweine, Kaninchen, Katzen und Hunde gewesen, und bei allen hat er sich bemüht, analoge Stellen für bestimmte körperliche Bewegungen aufzufinden. In dem ausführlichen Bericht seiner Experimente scheinen mir die Beschreibungen derjenigen an Hunden und Katzen die wichtigsten zu sein. Die pathologische Seite seiner Erfahrungen übergehe ich, und beschränke mich auf diejenigen seiner Experimente, welche ein allgemeines Interesse haben, indem sie Centren in den Gehirnhemisphären nachweisen, von wo besondere körperliche Bewegungen - der Art wie man sie bei den Thieren in ihrem freien, unbeschädigten Zustand beobachten kann - auszugehen scheinen. Ich theile in Folgendem einige davon mit.

Professor Ferrier hat gefunden, 1) dass „die vorderen Partien der Cerebral-Hemisphären die Hauptcentren für willkürliche ( voluntary ) Bewegungen und für die thätige äussere Manifestation der Intelligenz bilden".

2) Dass „die individuellen Gehirnwindungen ( Gyri ) gesonderte und bestimmte Centren bilden, und dass die verschiedenen Bewegungen der Augenlider, des Gesichts, des Mundes und der Zunge, des Ohres, des Halses, der Hand, des Fusses und des Schweifes besonders localisirt sind". [103/104]

3) Dass „die Action der Hemisphären kreuzweise geschieht", d. h. Reizung der Hemisphärentheile auf der einen Seite des Gehirns bringt Muskelthätigkeit auf der entgegengesetzten Seite des Körpers zum Vorschein. Eine Ausnahme fand er nur hinsichtlich „Bewegungen des Mundes, der Zunge, und des Halses, die von beiden Hemisphären bilateral coordinirt sind".

4) Durch wiederholte Experimente auf beiden Hemisphären hat sich Dr. Ferrier „von der Symmetrie der Functionen derselben" vollkommen überzeugt. Ebenso

5) dass „die Lobi optici oder Corpora quadrigemina nebst dem, dass sie beim Sehen und den Bewegungen der Iris (Regenbogenhaut) betheiligt sind, Centren für die streckenden Muskeln des Kopfes, des Rumpfes und der Beine bilden".

6) Dass „das Cerebellum das coordinirende Centrum für die Muskeln des Augapfels bildet", und dass „die Erhaltung des körperlichen Gleichgewichtes von diesem Gehirntheile abhängt".

7) Dass „elektrische Stimulation in den Cerebral-Hemisphären, örtlich oder allgemein, jenen Zustand von Hyperämie erregt, welcher der normale physiologische Zustand eines thätig-functionirenden Organes ist".

Es würde zu weit führen, alle die besonderen [104/105] Bewegungen des Körpers, des Gesichts u. s. w. durchzugehen, welche Dr. Ferrier durch Reizung bestimmter Theile der Gehirn-Windungen beobachtet hat. Nach der genauen Beschreibung seiner einzelnen Experimente geht er zu Reflexionen über, von denen ich, da sie in Beziehung zu Seelenthätigkeiten stehen, einige Auszüge geben werde.

„Es hat sich herausgestellt", sagt er, „dass die Bewegungen durch Erregungen individueller Centren - wie sie in den erwähnten Experimenten vorgenommen wurden - ihrer Natur nach absicht lich (purposive) oder ausdrucksvoll (expressional) sind, und dass sie sich als solche erweisen, die wir, falls wir sie unter normalen Verhältnissen ausgeführt sähen, durch psychologische Analyse, Vorgängen der Vorstellung und des Willens (der Ideation*) und Volition) zuschreiben würden. Die greifende und ausschlagende Bewegung der Pfote einer Katze ist nicht ein einfaches Muskelzusammenziehen (Contraction), sondern eine complicirte und combinirte Action zahlreicher, alle auf ein Ziel gerichteter Muskeln. Es versteht sich, dass


*) „Ideation" ist das einzige, in Beziehung auf Seelenthätigkeiten von Dr. Ferrier gebrauchte Wort. Es ist zwar in keinem englischen Wörterbuche zu finden, aber Dr. Ferrier scheint es im Sinne von Vorstellungen und mitunter auch von Gemüthsempfindungen zu gebrauchen. [105/106]

wir keinen andern Maassstab als unser eigenes Bewusstsein haben, um die Actionen der niederen Thiere zu interpretiren, aber da wir an uns selbst oder an Anderen solche scheinbar absichtliche Bewegungs-Complexe der „Ideation" und einem Willensimpulse zuschreiben würden, so dürfen wir schliessen, dass die Centren der Gehirnoberfläche nicht blos motorisch, sondern willkürlich motorisch sind, und dass sie mit der äusseren Manifestation der Intelligenz in Zusammenhang stehen."

„Es entsteht nun die wichtige Frage: Welches ist die Beziehung zwischen den Gehirn-Windungen als Bewegungs-Centren und jenen Theilen der Cerebral-Hemisphären, welche denjenigen geistigen Processen dienen, die mehr direct mit jenen definitiven Muskelbewegungen in Verbindung stehen? Sind die Vorstellungs-Centren in denselben Regionen zu finden wo die correspondirenden Bewegungs-Centren liegen, oder zeigt eine hohe Entwickelung gewisser Bewegungs-Centren nur eine correspondirende Entwickelung der Vorstellungs-Centren - aber ohne Localisation - an, die sich äusserlich durch jene manifestiren?"

„Diese Speculationen sind durch die nun ziemlich festgestellte Thatsache, dass durch zerstörende Läsionen der unteren, vorderen Gehirn-Windungen [106/107] die Sprachfähigkeit verloren geht, bestätigt*). Es ist eine wichtige Thatsache, dass die Centren für den Mund und die Zunge bei Katzen und Hunden in Regionen localisirt sind, welche ich hinsichtlich ihrer geographischen Position - und sowohl aus anatomischen als physiologischen Gründen - geneigt bin, für die Homologen der niederen, vorderen Windungen und der sogenannten «Insel» (Lobus centralis) beim Menschen anzuerkennen."

Nach weiteren Reflexionen über Fälle, wo beim Verlust der Sprache das Auffassungsvermögen für äussere Gegenstände dennoch vollkommen erhalten bleibt, sagt Ferrier ferner: „Ich bin der Meinung, dass die organischen Centren für das Wortgedächtniss sich in denselben Windungen befinden, wie jene Centren welche die beim Articuliren betheiligten Muskeln beherrschen. Wenn dies der Fall ist, so müssten wir ein Handgedächtniss, ein Gesichts-, Augen- und Ohrgedächtniss haben, und so können wir mit der Zeit in den Stand gesetzt werden, den organischen Centren für verschiedene geistige Be-


*) Mehrere Fälle dieser Art sind mir mitgetheilt worden, wovon ich einen, den mir der verstorbene Hof- und Medicinalrath Dr. Seiler in Dresden erzählte, erwähnen werde. Ein Oberbibliothekar hatte vor seinem Tode sein Wortgedächtniss ganz verloren. Bei der Section fand Hofrath Seiler den Theil des vorderen Lappens, welcher auf der Orbitalplatte liegt - gerade wo Gall den Sprachsinn localisirte - besonders entartet. [107/108]

gabungen eine psychologische Bedeutung zu geben, und sie phrenologisch zu localisiren".

In neuerer Zeit haben englische Aerzte zu zeigen sich bemüht, dass Aphasia (Verlust der Sprache) auf Gehirn-Hemeplegie zurückzuführen ist. Einige meinen, dass Sprachverlust von der Lähmung der linken Hemisphäre abhänge, andere, dass die rechte allein damit zu thun habe. Es ist erfreulich, dass Dr. Ferrier diesen Controversen ein Ende macht, indem er durch seine Experimente „die Symmetrie der Functionen der beiden Gehirn-Hemisphären" nachweist, und ferner die Sprachfähigkeit im vorderen Gehirnlappen localisirt hat. In diesen beiden Hinsichten bestätigt er daher die Gall'sche Lehre.

Uebrigens ist noch zu bemerken, dass in Fällen von Gehirn-Hemeplegie, einerlei auf welcher Seite sie bestehe, wo Aerzte den Verlust des Wortgedächtnisses constatirt haben, - ein Verlust im Seelenleben, der nebenbei gesagt, bei einem Kranken am leichtesten zu bemerken ist - wahrscheinlich auch noch andere Seelenfähigkeiten beeinträchtigt sein werden, obwohl eine solche Thatsache für den Arzt am Krankenbette nicht so leicht wahrzunehmen sein wird. Sobald Aerzte erst wissen, worauf sie, in Beziehung auf die Localisation der Seelenthätigkeiten, ihr Augenmerk zu richten haben, [108/109] werden gewiss pathologische Befunde bei Hirnsectionen psychologisch-lehrreich werden. Ich bin einigemal zugegen gewesen, als Gehirnsectionen vorgenommen und Theile der Windungen degenerirt gefunden wurden. Diese Befunde wurden jedoch von den anwesenden Aerzten nicht als in Beziehung zum Seelenleben stehend, aufgefasst. Nach gehöriger Erkundigung habe ich indessen erfahren, dass Veränderungen im Seelenleben der Kranken schon seit einiger Zeit vor sich gegangen waren, ganz in Uebereinstimmung mit den localen pathologischen Erscheinungen.

Um auf die Experimente und Schlussfolgerungen des Professor Ferrier zurück zu kommen, so muss man sie in der That als sehr wichtig anerkennen. Die Anhänger der Gall'schen Lehre müssen sich über die Resultate dieser Experimente freuen, wenn sie auch das Martern von Thieren, das nun wahrscheinlich zur Mode werden wird, bedauern sollten. Nicht allein sehen sie durch dieselben die Hauptgrundsätze jener Lehre bestätigt, sondern mehrere Erfahrungen des Dr. Ferrier stimmen mit denen Gall's über die Localisation von Seelenfähigkeiten an lebenden Thieren, so wie an Menschen, überein. Z. B. hat Dr. Ferrier, wie gesagt, den „Sprachsinn" in einer supra-orbitalen Windung localisirt, und seine Erfahrung beim Reizen des Keil-Schläfenbein-[109/110]Lappens bei Katzen, dass nämlich die Thiere „zornig um sich bissen und ihre eignen Beine benagten", scheint - den Abbildungen in Dr. Ferrier's Abhandlung zufolge - nahezu, wenn nicht genau, mit der Lage eines „Zerstörungssinnes", wie sie von Gall angegeben wurde, so wie mit der Function eines solchen Sinnes übereinzustimmen. Auch glaube ich in den Beschreibungen von Dr. Ferrier's Experimenten noch andere Bestätigungen der Gall'schen Lehre gefunden zu haben.

Nicht unwichtig ist ebenfalls, dass Dr. Ferrier die Hauptcentren der willkürlichen Bewegung und der thätigen äusseren Manifestation der Intelligenz in den vorderen Gehirnpartien gefunden hat - gerade wie Gall und seine Nachfolger gelehrt haben. Auch dass von jedem Theile der Windungen bestimmte Muskelbewegungen ausgehen, hat seine Wichtigkeit. In dem Wenigen was ich über Pathognomie gesagt habe, erwähnte ich soeben, dass jede Seelenanlage, wenn in starker Thätigkeit - und nicht sehr durch den Verstand controllirt - bestimmte charakteristische Bewegungen zum Vorschein bringt. In Beziehung auf diesen Gegenstand sagt Dr. Ferrier: „Ich bin geneigt zu glauben, dass die innige Verbindung, die zwischen Ideation (Vorstellung) und dem unbewussten äusseren Ausdruck derselben in Muskelcentren besteht, einen [110/111] starken Beweis von der engen localen Association der ideationellen und willkürlichen Bewegungscentren liefert".

Ich werde mich nun bei den Experimenten des Dr. Ferrier nicht länger aufhalten. Er selbst sagt, dass „die Einzelheiten derselben viele weitere Untersuchungen erfordern, doch", fügt er hinzu, „ist eine neue Bahn gebrochen, und ein neues Licht auf dunkle Punkte in Cerebralphysiologie und Pathologie geworfen worden".

Jedenfalls sind die Ergebnisse von Dr. Ferrier's Experimenten viel werthvoller als jene von Vivisectionen oder von anderen zerstörenden Methoden, mittelst welcher an Gehirnen experimentirt wird. Ich beziehe mich hier insbesondere auf die Methode des Professor Nothnagel in Freiburg, der kleine Löcher in die Schädel von Hunden und Kaninchen einbohrt, und zerstörende Chromsäure auf die darunter liegenden Hirntheile eintropft*). Aber auch er hat gefunden, dass die vorderen Partien des Gehirns Einfluss auf motorische Kräfte haben. Die zuletzt erwähnten Methoden des Experimentirens liefern nur negative Resultate, denn was das Seelenleben der Thiere betrifft, so wird man beim Abschneiden oder Zerstören der Hemi-


*) Virchow's „Archiv", Bd. VII, Heft 2. [111/112]

sphärentheile nicht im Stande sein positiv zu ermitteln, welche Instincte verloren gegangen sind. Z. B. wird man, wenn man bei einem Hunde gewisse Theile seines Hirns abschneidet oder zerstört, nicht in Erfahrung bringen können, ob dem Thiere dadurch sein Instinct zum Jagen, oder der einen Herrn zu lieben, verloren gegangen ist. Bei Thieren überhaupt sind Seelenthätigkeiten nur dann zu beobachten, wenn sie sich unbeschädigt, im freien Zustand, und im Umgang mit ihres Gleichen befinden.

Aber selbst wenn vieles zum Seelenleben der Thiere Gehörendes durch Experimente erforscht werden kann, so wird dadurch eine Kenntniss der Localisation der Seelenthätigkeiten des Menschen nicht wesentlich befördert. Der Mensch besitzt ja viele Seeleneigenschaften, die selbst bei den höchststehenden Thieren nie zum Vorschein kommen, und deshalb wird die Gall'sche Methode der Beobachtung an lebenden Menschen nicht zu entbehren sein.

Was nun die Ursachen betrifft, aus welchen die Lehre Gall's nicht allein verkannt, sondern auch so häufig bekämpft wird, so muss ich die Thatsache hervorheben, dass bis in die neueste Zeit, und zum Theil noch jetzt, Physiologen und Aerzte zu sehr den psychologischen Lehren philosophischer Schulen anhängen, um eine Localisation von Seelen-[112/113]anlagen im Gehirn - eine von den Geisteskräften der Philosophen so grundverschiedene Annahme - für möglich zu halten.

Dann ist auch die phrenologische Benennung angeborener Anlagen oft sehr unklar und wenig passend. Solche Wörter wie „Idealität", „Witz", „Wundersinn", „Einheitstrieb" u. s. w. sind psychologisch betrachtet, nicht dazu geeignet, bestimmte und allgemein-menschliche Anlagen zu bezeichnen. Auch ist die Classification von Grundanlagen, die nicht zur eigentlichen Intelligenz gehören, als „Gefühle", und die Eintheilung derselben in „Genus I, Triebe" und „Genus II, Empfindungen", nicht zu billigen. Das Wort „Trieb" könnte wohl für alle Anlagen, wenn sie in grösster Thätigkeit sind, gebraucht werden, während vielleicht ihre normalruhige Thätigkeit besser als Empfindung bezeichnet wird. Die jetzige Terminologie und Classification der Phrenologen rührt von Spurzheim und Combe her. Gall selbst nannte alle Grundanlagen, deren Centren oder Organe im Gehirn er entdeckt zu haben glaubte, Instincte oder Sinne; z. B. sprach er von einem Instinct zu tödten, von einem Instinct zur Schlauheit, vom Wort-, Ton- und Farbensinne u. s. w.

Nicht allein hat die Terminologie der Phrenologie zu Missverständnissen geführt, sondern die [113/114] Art und Weise, wie Manche von den Anlagen reden als wenn sie selbstständige Kräfte wären, die nach Belieben Handlungen bestimmen, hat bei Vielen die über das Seelenleben nachdenken, Anstoss erregt. Selbst wo hervorstechende Neigungen zu bemerken sind, sieht man doch die combinirten Thätigkeitsäusserungen gar vieler Fähigkeiten bei allen menschlichen Handlungen mitwirken.

Ferner sprechen prakticirende Phrenologen entweder zu viel und oft Allgemeines, oder aber in zu positiver Weise von den Dispositionen, Capacitäten u. s. w. von Personen deren Köpfe sie untersuchen. Sehr hervorstechende Anlagen sind nicht oft zu bemerken, und die Köpfe von sehr gewöhnlichen Menschen sind mehr in negativer als positiver Hinsicht lehrreich, da die Denk- und Handlungsweise solcher Menschen überwiegend das Resultat äusserer Verhältnisse ist. Es giebt viele Fälle, wo es schwierig, und nur bei gehöriger Einschränkung möglich wird, die phrenologischen Grundsätze anzuwenden. Es ist daher etwas Anderes, den Hauptgrundsatz der Phrenologie - nämlich den, dass die relative Grösse der Kopftheile einen Maassstab für die Beurtheilung der relativen Stärke der angeborenen Anlagen abgiebt - im Ganzen und Allgemeinen auf dem grossen Gebiete des Lebens [114/115] nachzuweisen, oder aber diese Grundlehre der Phrenologie in allen Fällen anzuwenden. Ein Anhänger der Gall'schen Lehre, der verstorbene Dr. Elliotson, hat als Ergebniss seiner Erfahrungen folgende Grundsätze aufgestellt: 1) In Fällen wo grosse Talente oder ganz hervorstechende Charaktereigenschaften zu bemerken sind, da wird auch stets eine correspondirende Entwickelungsform des Kopfes gefunden. 2) Wo immer eine mangelhafte Entwickelung besonderer Theile des Kopfes vorhanden ist, da wird sich auch jedesmal herausstellen, dass die Seelenanlagen die dort localisirt sein sollten, beinahe fehlen, und wenig oder keinen Einfluss auf das Seelenleben der Individuen ausüben. Diese negativen Beweise der Localisation besonderer Anlagen habe auch ich, wie schon bemerkt, sehr lehrreich gefunden.

Das Odium theologicum unter den Gründen der Opposition gegen die Gall'sche Lehre aufzuzählen, ist jetzt kaum mehr an der Zeit, obwohl es in dieser Hinsicht nachtheilig gewirkt hat. Indess ist die Richtung unseres Zeitgeistes nicht mehr eine sogenannte spiritualistische zu nennen, und der Einfluss der strengen Naturforschung auf das allgemeine Leben macht sich unverkennbar immer mehr geltend. [115/116]

Ich habe schon erwähnt, dass Dr. Gall die Lagen von 27 Grundanlagen im Kopfe entdeckt zu haben glaubte. Zu diesen hat sein Schüler, Dr. Spurzheim, noch 8 Organe hinzugefügt, die er gefunden zu haben meinte. Auf den Musterköpfen, die er und Combe eingeführt haben, ist die ganze Oberfläche in Organe eingetheilt. Diese Mappirung von Köpfen ist sehr zu tadeln. Nicht allein ist, wie gesagt, die ganze sichtbare Oberfläche von besonderen Organen ausgefüllt, sondern die grösste Willkür scheint in Betreff der Grössen und Formen derselben zu herrschen. Dr. Gall ist anders verfahren. Er liess mehrere Theile der Schädeloberfläche - in Betreff deren seine Beobachtungen ihm keine bestimmten Resultate geliefert hatten - ganz unbezeichnet, und wo er die Stellen von Grundanlagen angab, da begnügte er sich nur kleine Zirkel um Centralpunkte zu zeichnen.

Die gewöhnliche Ansicht, dass die Nachfolger Gall's Köpfe blos untersuchen, um ganz kleine Erhabenheiten, sogenannte „Buckel", aufzufinden, hat auch dazu beigetragen, die Lehre von der Localisation von Grundanlagen in Misscredit zu bringen, wenn nicht in ein lächerliches Licht zu stellen. Aber bei der Methode der Beobachtung des Dr. Gall ist die Berücksichtigung kleiner Erhabenheiten am [116/117] Schädel, als Mittel zur Seelenkenntniss, ausgeschlossen worden *).

Ich habe mich vor Allem bemüht, die Aufmerksamkeit auf auffallende, leicht beobachtbare Formen von Köpfen, wie sie durch die verschiedenen Entwickelungsrichtungen der Gehirnhemisphären hervorgebracht werden, zu lenken. Dabei erkenne ich Kopfregionen und mehrere Eintheilungen derselben als die Sitze besonderer Anlagen an. In Betreff dieser jedoch bin ich nicht im Stande absolute Grenzen derselben anzugeben. Die empirische Kenntniss der Localisation der Seelenanlagen ist in der That nur eine approximative und abschätzende zu nennen, ähnlich dem Verfahren von Aerzten, wenn sie die Grösse von inneren Organen des Körpers schätzen wollten, die sie weder wägen noch messen können.

In Amerika hat man viele der von Dr. Spurzheim aufgezeichneten Organe weiter eingetheilt, und eine Menge neuer Seelenanlagen angenommen, welche auf Musterköpfe eingezeichnet worden sind. Ob aber hinreichende Beobachtungen und wahre psychologische Einsicht die amerikanischen Phrenologen bei diesem Verfahren geleitet haben, muss ich


*) „Jamais je n'ai prétendu distinguer des modifications peu prononcées des formes du crâne, ou des légères nuances du caractère." Gall, „Sur les Fonctions du Cerveau", Tome III, p. 41. [117/118]

sehr bezweifeln. Nicht dass ich aus Princip gegen eine Ausdehnung der Localisation von Seelenanlagen Etwas[!] einzuwenden hätte; denn bei der grossen Mannigfaltigkeit der angeborenen Neigungen, Befähigungen u. s. w. des Menschen, kann vielleicht das Differenziren und Specialisiren im Seelenleben und eine übereinstimmende Localisation kleiner Centren von Gehirn-Fibern- und Zellen-Complexen sich viel weiter erstrecken, als irgend Jemand bisher vermuthet hat; aber ganz kleine Theile der Gehirn-Hemisphären vereinzelt betrachtet, werden gewiss nicht im Stande sein, auf die Form des Kopfes viel Einfluss zu üben. Wenn daher die psychologischen Erfahrungen und Gründe der Amerikaner für die Annahme neuer Grundanlagen Beachtung verdienen mögen, so kann ich doch ihrer Organologie keinen Glauben schenken, wenn sie auf sehr kleine morphologische Verhältnisse gegründet ist.

Kopfregionen oder Gruppen von correlativen Anlagen - ich brauche diesen Ausdruck in Beziehung auf die historische Entwickelung und den analogen Charakter von Seelenfähigkeiten - sind, wie schon erwähnt, die Hauptresultate meiner vieljährigen Beobachtungen, durch welche ich das Princip der Gall'schen Lehre auf die Probe zu stellen suchte. Es ist meine volle Ueberzeugung, dass Jemand, der umsichtig und vorurtheilsfrei die [118/119] Correlation zwischen hervorstechenden Anlagen, Fähigkeiten u. s. w. und besonderen Kopfformationen wie ich sie angeführt habe, beobachten will sich bald von der Thatsache überzeugen wird, dass 1) das Seelenleben eine materielle Grundlage hat; 2) dass verschiedene Kategorien der Fähigkeiten in verschiedenen Theilen des Kopfes localisirt sind.

Gegenwärtig kann die sogenannte Phrenologie weder ein vollständiges Schema der Gehirnfunctionen, noch ein vollendetes System der Phänomene des Seelenlebens darbieten. Indem sie aber in vielen Beziehungen den Zusammenhang der menschlichen Seele mit der der Thiere nachweist, indem sie ferner die primären, vergleichsweise einfachen Anlagen von den secundären - complicirter, intellectueller und moralischer Natur - unterscheiden hilft, zeigt sie die wahre Methode zur Erforschung des Seelenlebens an, und giebt uns wichtige Standpunkte für weitere Untersuchungen. Auch muss die objective Methode der Beobachtung dazu beitragen, die Lust zu subjectiven Speculationen und zur Systemmacherei - wozu abstracte Denker so geneigt sind - einzuschränken. Sind daher auch Lücken und Fehler in der Gall'schen Lehre nachzuweisen, so wird es dennoch nicht wohlgethan sein, die breite Basis von Wahrheit, die darin liegt, [119/120] noch länger zu ignoriren, wie dies so häufig geschieht, und zwar, wie mir scheint, hauptsächlich aus dem Grunde, weil einige prakticirende Phrenologen Vorurtheile gegen die Gall'sche Lehre erregt haben.

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