Die vorliegende Ausgabe stellt eine erweiterte Neubearbeitung
der im Jahre 1906 erschienenen Schrift dar.
Druck von Petzschke Gretschel, Dresden-A.
[6/7]
den dänischen Dichter der stärksten Internationale,
der internationalen Brüderschaft der Armut und des Leidens.
es war für Sie ein leidiger, für mich ein günstiger
Zufall, daß die italienische Regierung Ihnen, als einem staatsgefährlichen"
Dichtersmann, die Einreise verweigerte, daß Sie auf Ihrer Fahrt nach dem Süden
am Bodensee haltmachen mußten und ich so Gelegenheit hatte, Ihnen persönlich
und bald geistig nahe zu kommen. Wir haben einander schnell gefunden, in dem
Gemeinsamen. Als ich nun darüber sann, wie ich Ihnen ein Zeichen dieser
Gemeinsamkeit geben könnte, fügte es ein anderer Zufall, daß der
Neudruck meines alten Bekenntnisses zu dem Weltüberwinder Spinoza zwischen
uns zur [7/8] Sprache kam. Ich bitte Sie herzlich, die Widmung dieses Büchleins
anzunehmen.
Es wäre ja leicht möglich - so weit mir das möglich
ist - klingende Worte zu machen über die Notwendigkeit, Ihren Namen mit dem
Spinozas zusammenzubringen: Sie waren ein proletarischer Arbeiter, bevor Sie der
Dichter des Proletariats wurden, und Baruch de Spinoza war zeitlebens ein armer
Glasschleifer, während er ohne Entgelt für sich und die anderen armen
Menschen die Wahrheit suchte; Sie halten nicht allzuviel von der betriebsamen
Vielwisserei der staatlichen Hochschulen, und Spinoza gar war so frei, so ganz
frei, daß er, der mittellose Handarbeiter, ablehnte, als er ordentlicher
und gutbezahlter Universitätsprofessor werden sollte. (Nebenbei: glauben
Sie noch an einen Fortschritt der Kultur, wenn Sie daran denken, daß ein
deutscher Kurfürst vor 250 Jahren es wagen durfte, einen konfessionslosen
Menschen, einen von seiner Synagoge feierlichst verfluchten Juden, zu einem
Professor in Heidelberg zu ernennen? Wir wollen dar-[8/9]über plaudern,
bald, bei einem Viertel oder auch nur bei einem Achtel alten Meersburger.)
Aber diese Wortbrücke zwischen den Namen Spinoza, und Nexö
wäre doch nicht ganz ehrlich, also nicht nach unsrem Geschmack. Sie wissen,
daß die Linsen-Schleiferei damals noch ein Nebenberuf gelehrter Optiker
war, daß Spinoza überdies vielleicht einer hübschen jüdischen
Tradition oder Legende folgte, als er nicht von seiner Weisheit, sondern nur von
seinem Handwerk leben wollte. Und bei der Zurückweisung der Professur
bestimmte ihn doch wohl die Sorge, er würde als Beamter einer
wissenschaftlichen Anstalt nicht seine volle Denk- und Redefreiheit behalten. Es
wäre also besser, Ihnen das Büchlein zuzueignen, ohne Angabe der Gründe,
nur als Äußerung eines Gefühls,
Und doch: der Wunsch kam mir, als Sie von der freien dänischen
Volkshochschule erzählten, wo Sie einst ein Schüler und dann ein
Lehrer waren. Volkshochschule! Mein alter Traum. Ich stimme [9/10] darin mit
Ihnen und mit Richard Benz überein, daß die Volkshochschule der
Zukunft nicht ein Ableger der Universität sein darf, nicht ein Almosen für
das Volk, sondern eine Gegen-Universität, eine Revision der Grundlagen
aller Wissenschaften, ein ganz Neues, wo die Studenten und die Professoren der
alten Universitäten noch was lernen können.
In diesen Schulfragen bin ich nicht erst seit der Revolution"
ein Rebell, nicht erst seit zwei Jahren. Sie können es als Däne nicht
wissen (und als ein Deutscher würden Sie es, unter uns, auch nicht wissen),
daß ich im November 1897 im Berliner Rathause (bei Gelegenheit einer
Versammlung für Volksunterhaltung) einen kurzen Vortrag hielt, worin ich
auf die geistige Not der Proletarier hinwies und Abhilfe verlangte; daß
ich 1910 (in dem Stücke Schule" meines Wörterbuchs
der Philosophie") leidenschaftlich die Korruption angriff, die von der
Volksschule bis zum Staatsexamen das Taglöhnerkind zugunsten der Sprößlinge
der Plutokratie und der Bürokratie [10/11] schädigt; zurück
in den Dreck" rief ich den Söhnen der oberen Stände zu, die dümmer,
fauler oder schlechter wären als Proletariersöhne; daß ich in
meinen Lebenserinnerungen (noch vor dem Kriege ausgedruckt) bitter genug meine
Erfahrungen, auf dem Gymnasium und auf der Universität erlitten, erzählte,
Für den vielzuvielen, für den chinesischen Wissenskram
sind unsere mittelalterlichen, chinesischen Universitäten auch nicht gut
genug. Die seltenen wirklichen Wahrheitssucher der Geistes- und der
Naturwissenschaften wissen das am besten; sie sagen's nur nicht. Die
Volkshochschule der Zukunft soll oder wird überall die erkenntniskritische
(Sie wissen, ich meine, die sprachkritische) Grundlage schaffen helfen, sie wird
in der geschichtlichen Darstellung auf offiziöse Schönfärberei
verzichten und nur für wahrhaft vorbildliche Menschen Bewunderung lehren.
Ich kenne keinen vorbildlicheren Menschen in Westeuropa als den grenzenlos
Uneigennützigen" Spinoza. Seine Wirkung muß endlich ins [11/12]
Volk dringen. Nicht durch mich. Nicht wahr, diesen Gedankengang erwarten Sie
nicht bei mir? Ich bin viel zu alt, um an meiner Volkshochschule selbst
umzulernen. Durch Sie und Ihresgleichen muß Spinozas Wirkung ins
nachgeborene Volk dringen.
Wissen Sie auch, was Sie mit dem Juden von Amsterdam verbindet?
Die geistige Liebe zu der Natur, die er seinen Gott nannte, und die sieghafte
Heiterkeit im Schauen und im Erleben des Menschenelends. Bleiben Sie so. Das ist
unser Wunsch bei diesem unbescheidenen Gruße, mein Wunsch und der von H.
Str.
Meersburg,
im Februar 1921.
Fritz Mauthner.
[12/13]
Wer unter Religion", entgegen allem gegenwärtigen
Denken und Dichten, nach wie vor irgendeine Form der Furcht und Knechtschaft
unter übermenschlich offenbarten Gesetzen verstehen will, der wird der
Meinung zustimmen müssen, Spinoza sei der erste grundstürzende
Gottesleugner gewesen; wer aber mit dem schillernden Worte Religion"
- mit mir - nichts ausdrücken will, als tiefen Ernst in der Besinnung über
das Menschenleben, der wird erkennen müssen, daß Spinoza eine
durchaus und wesentlich religiöse Natur war, der erste stillsiegende
Bekenner der neuen Religiosität. Es brauchte eine lange Zeit, bevor diese
Einsicht sich durchrang. Spinozas Philosophie war über hundert Jahre lang
das Aschenbrödel, von ihren bösen Schwestern, den Philosophien der
Schule, in den Schmutz verurteilt; erst seit Lessing und Goethe steht sie in
ihrer [13/14] ursprünglichen Schönheit vor uns, die geborene Fürstin.
Spinoza wurde, da er noch lebte, von einigen freien Männern
in England und in Frankreich als ein Gelehrter und als ein Weiser geschätzt,
in Holland von wenigen Freunden und Freireligiösen als ein Heiliger
verehrt; nur die rechtgläubigen Juden verfolgten ihn seit seiner Jugend,
dann die ebenso rechtgläubigen Protestanten, nachdem er (1670) durch seinen
Traktat" Denkfreiheit verlangt und besonders Bibelkritik entscheidend
begründet hatte. Nach seinem Tode (1677) wurde aber die Darstellung seiner
Philosophie, die nur zufällig Ethik" heißt, von seinen
Genossen herausgegeben und seitdem gehörte es zum guten Ton wohlanständiger
Schriftsteller, von Spinoza entweder gar nicht zu reden oder in herabwürdigenden
Ausdrücken. Die protestantische Orthodoxie war noch eifriger als die
erfolgreiche katholische Gegenreformation an der Arbeit, das Lebenswerk des
verwegenen Denkers durch das wohlfeile Mittel der Beschimpfung zu vernichten;
den ohne [14/15] Verabredung vereinigten Feinden der Gedankenfreiheit kam es
zustatten, daß Spinoza jüdischen Stammes war; daß man also den
immer bereiten Judenhaß gegen ihn aufreizen könnte, wie vielleicht
schon Jesus Christus als ein Jude dem Römer Tacitus verächtlich schien
(wenn nämlich die Stelle nicht doch ein späterer Zusatz ist). Die
Bezeichnung Spinoziste" wurde zu einem gemeinen Schimpfworte.
Es gibt wohl nur noch einen einzigen Fall, in welchem die
Leistung eines bedeutenden Denkers ebenso brutal für lange Zeit
totgeschlagen, in Kot begraben wurde, den Fall des Philosophen Epikuros, dessen
materialistische, doch geistige und feine Weltanschauung gleich für zwei
Jahrtausende beiseite geschafft wurde, nicht totgeschwiegen, aber totgeflucht
und totgelogen; der Lügenfeldzug gegen Epikuros erbte sich über von
den Stoikern, den Pharisäern des klassischen Altertums, zu den Kirchenvätern,
zu den Scholastikern und noch zu den Kartesianern. Es sollte beachtet werden, daß
die Rettung" des Epikuros, die Verteidigung [15/16] seiner Persönlichkeit
und auch seiner naturwissenschaftlichen Lehre, durch Gassendi erfolgte (1647),
als der fünfzehnjährige Spinoza eben anfing, sich innerlich von der
Religion zu lösen, in der er geboren worden war. Wahrscheinlich machte
bereits dieser junge Spinoza auch die äußeren Bräuche seiner
Stammesgenossen nicht mehr mit und fügte sich bald auch nicht mehr den
Anordnungen der Rabbiner; diese Lostrennung wird den überfall durch einen
frommen Juden veranlaßt haben, mag diese Roheit nun nur eine hitzige
Rauferei oder wirklich ein Attentat gewesen sein. Die feierliche Austreibung aus
der Judengemeinde von Amsterdam erfolgte erst 1656; Spinoza war an diesem seinem
Ehrentage noch nicht 24 Jahre alt.
Der Bann, den die Synagoge über Spinoza verhängte,
hatte nur die eine Folge, daß er ihn von jeder Rücksicht auf die jüdische
Religionsgemeinschaft befreite; aber die Verfemung durch die orthodoxen
Pastoren, die seit der Dordrechter Synode wieder mächtig geworden waren,
[16/17] setzte sofort nach Erscheinen des freidenkerischen theologisch-politischen
Traktats" ein, und seitdem blieb Spinozas Denkarbeit geächtet. Der
Traktat wurde verboten (die Neudrucke, die alle die Jahreszahl 1670 tragen, sind
wahrscheinlich später erschienen und vordatiert). Mit dieser Ächtung hängt
es vielleicht zusammen, daß sogar Spinozas Opera postuma" nicht
seinen Namen trugen, sondern nur die Anfangsbuchstaben B. d. S. Ganz grotesk
erscheint uns Nachgeborenen diese Scheu, den Namen Spinoza auszusprechen, bei
der Herausgabe der ersten deutschen Übersetzung seines Hauptwerkes. Um
dieser Tollheit willen und um des Übersetzers willen muß ich einige
Zeilen daran wenden,
Der Übersetzer war Lorenz Schmidt, ein Mann, der es nicht
verdient hat, verschollen zu bleiben. Er hatte kurz vor Lessing in Wolfenbüttel
eine Zuflucht gefunden, auch er - wie Spinoza - ein Verfemter; Lessing machte
sich den Spaß, ihn - als der Zorn der Zionswächter über die Veröffentlichung
der Frag-[17/18]mente" auszubrechen drohte - für den
wahrscheinlichen Autor der antichristlichen Stücke auszugeben, damit
Reimarus, der wahre Verfasser, nicht bekannt würde. Dieser Lorenz Schmidt
(geb. 1702, gest. 1749), Sohn eines Pfarrers und selbst Theologe, hatte im Jahre
1735 durch seine Übersetzung des Pentateuchs einen Sturm im theologischen
Sumpf hervorgerufen, einen Zorn, zu dessen Verständnis wir uns heute kaum
mehr hinabsenken können. Was man ihm so übel nahm, war zunächst
die Verwegenheit, den durch eine Tradition von 200 Jahren beinahe geheiligten
Text Luthers verdrängen zu wollen; dann aber war es der Wolffsche
Rationalismus, mit welchem er den Urtext wörtlich wiedergab (z. B. ein
starker Wind" wehte über den Wassern, anstatt der Geist Gottes")*
und mit welchem er in zahlreichen und oft überflüssigen Anmerkungen
die Bibelworte schlicht erklärte, in der durchgehenden Absicht, alle
Weissagungen
*) Auch diese nüchterne Übersetzung ist dem Spinoza
entlehnt.
[18/19]
des Alten Testaments, die auf Jesus Christus nämlich,
kritisch abzulehnen. Er wurde für einen Religionsspötter erklärt,
und besonders der bösartige Fanatiker Joachim Lange hetzte die evangelische
Kirche und den Reichsfiskal hinter ihm her. Der Schutz des gräflichen
Hauses Wertheim, wo er als Erzieher der jungen Herren lebte, konnte ihm nicht
viel helfen, weil die fürstliche Linie des Hauses die Befehle des Kaisers
auszuführen sich anschickte; doch ließ man ihn nach der Konfiskation
des Buches und nach seiner Verhaftung (1737) freundlich entkommen, nach Altona,
wo er wahrscheinlich als Korrektor und gewiß als Übersetzer der
verrufensten Bücher der Freidenkerei sein Leben fristete, bis er eben
endlich in Wolfenbüttel geduldet wurde und sterben durfte,
Der Herausgabe des deutschen Spinoza ging 1741 eine Übersetzung
von Tyndals erschrecklicher Schrift Christentum so alt wie die Welt"
voraus; schon da deckte Schmidt sich schlau durch die Hinzufügung einer
Widerlegung, [19/20] der von Forster. Die gleiche Vorsicht waltet nun bei der
Herausgabe von Spinozas Ethik" , nur daß hier schon der Titel
grotesk wirkt - wie ich gesagt habe - und die Stellung grell beleuchtet, die
Spinoza, nur 40 Jahre vor seiner Wiederentdeckung durch Lessing, in der Republik
der Gelehrten einnahm. Noch durfte sein Name nicht genannt werden. B. v.
S. Sittenlehre widerlegt von dem berühmten Weltweisen unserer Zeit Herrn
Christian Wo1f." Wolff hatte diese Widerlegung" schon 1737 in
seine natürliche Theologie eingeschaltet, wohl nicht ganz ehrlich,
eigentlich in der Absicht, die alte Beschuldigung zu entkräften, daß
er (Wolff) den freien Willen leugne, den Fatalismus lehre und somit dem
Soldatenkönige verbiete, seine langen Kerls wegen Desertion zu bestrafen;
war er doch seinerzeit deshalb bei Androhung des Stranges von der Universität
Halle fortgejagt worden. Und Lorenz Schmidt haut in die gleiche Kerbe, da er in
seiner Vorrede mit sichtlicher Übertreibung gegen die Gefährlichkeit
Spi-[20/21]nozas als eines Fatalisten loszieht. Lediglich unter solchen
Vorsichtsmaßregeln war es gelungen, die erste deutsche Übersetzung
des verpönten Werkes herauszubringen,
Es war nicht das letztemal, daß ein Anhänger Spinozas
den Namen des Denkers niederzuschreiben sich scheute. Selbst Goethe war noch
1786 so vorsichtig, in den Briefen aus Italien anstatt des Namens Spinoza den
Buchstaben S. zu setzen oder zwei Sternchen; ich weiß nicht, ob ich lachen
darf oder nicht, wenn ich erfahre, daß Goethe - als er diese Briefe zu
seiner Italienischen Reise" zusammenstellte - vergeßlich war:
er irrte sich wirklich und ergänzte den Buchstaben S. mit Sakontala",
anstatt mit Spinoza".
Die vier ungleichen Denker, die mit ähnlicher Sicherheit im
Gebrauche einer metaphysischen Terminologie, aber mit sehr verschiedener
Freiheit und Kraft Kant zu überwinden versprachen, hatten erst von den
dichterischen Führern Deutschlands gelernt, daß Spinoza als [21/22]
der eigentliche Philosophische Vernichter der Theologie mit Achtung genannt
werden müßte. Schon Fichte rühmte sich, Spinoza verbessert zu
haben; Schelling entnahm den wertvollsten Teil seiner Naturphilosophie den
Gedanken, in denen Spinoza mit Bruno übereinstimmte; Hegel als der erste
Kenner der Philosophiegeschichte meinte in einer guten Stunde, Spinozist
zu sein wäre der
wesentlichste Anfang alles Philosophierens"; und
Schopenhauer, in der Vernunftkritik wirklich ein Fortsetzer Kants, den
Professoren Fichte, Schelling und Hegel ein bis zur Ungerechtigkeit strenger
Karikaturist, sah auch in Spinoza einen Vorläufer, obgleich er tief genug
hinunterstieg, um gegen einen Spinoza derb antisemitische Vorwürfe zu
schleudern,
Seitdem ist viel Kleinarbeit geleistet worden, in Holland und in
Deutschland, aber auch in Frankreich und in England, um die menschlichen
Beziehungen Spinozas zu seinen Zeitgenossen und die geistigen Beziehungen zu den
andern Kartesianern aufzuhellen; eine abschließende [22/23] Darstellung
seiner Persönlichkeit besitzen wir nicht, so empfehlenswert auch das
Kultur- und Lebensbild ist, das Wilhelm Bolin (in der Sammlung Geisteshelden"
von Anton Bettelheim) geliefert hat; Bolin hat ganz gut gesehen, daß
Spinoza kein Erkenntniskritiker war, daß er seine allzu scholastischen
Grundbegriffe fast ungeprüft von Descartes übernommen hatte, daß
also sein System für uns veraltet ist, er hat seine Persönlichkeit mit
verständiger Liebe gezeichnet, er hat als ein Schüler Feuerbachs die
antikirchliche Befreiungstat Spinozas nach Gebühr gepriesen, aber er hat
die unbewußte Macht nicht wahrgenommen, mit welcher Spinoza, groß
und unbestechlich und unbefangen wie ein geniales Kind, über die Sprache
seiner Zeit und über seine eigene Sprache hinweg die letzten Aufgaben
zugleich der Naturwissenschaft und der Philosophie sah oder ahnte und einem
Geschlechte, das ihn erst nach mehr als zwei Jahrhunderten verstehen sollte,
eine Fackel reichte,
Ein neues und viel gerühmtes Werk [23/24] über Spinoza
ist über den ersten Band, die Biographie, nicht hinausgediehen: Spinoza,
sein Leben und seine Lehre, von J. Freudenthal" (1904). Es ist doch nur
eine alexandrinische Arbeit. Solche Bücher veralten immer in dem
Augenblicke, wo ein jüngerer Professor auf den Plan tritt und abermals die
philologische Einzelforschung der letzten Jahre in ein neues Buch verstaut.
Geschichtschreibung [!] sollte immer Kunst sein, die Kunst: wirkende 'Persönlichkeiten
durch ein eigenes Temperament zu sehen. Mit dem Historismus, unter dessen Banne
wir alle stehen, ist es nicht getan, man studiert da die Vergangenheit nur um
der Vergangenheit willen. Spinoza und Kant (von Sokrates und Platon gar nicht zu
reden) wußten wenig von der Geschichte der Philosophie. Aber die deutschen
Philosophieprofessoren, die der Welt keine eigenen philosophischen Gedanken zu
schenken hatten, studierten und trieben eifrig Philosophiegeschichte. Sogar berühmt
konnte man durch eine solche Beschäftigung werden; Kuno Fischer hat [24/25]
so in seiner langen Siegesallee von Philosophiehelden auch das Standbild von
Spinoza aufgestellt, gleich gründlich und gleich pathetisch gegenüber
dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen. Nach ihm kam dann Freudenthal und
konnte so allerlei berichtigen, was Berthold Auerbach, Bolin und Kuno Fischer an
einer Schuhschnalle etwa nicht porträtähnlich genug gezeichnet hatten.
Vortrefflich ist die wechselnde Umwelt Spinozas dargestellt, die der spanischen
Juden und die der rechtgläubigen und der freireligiösen Sekten in
Holland; nur für seinen Helden selbst reicht Freudenthals Augenmaß
nicht aus. Nicht als ob er ihn zu wenig bewunderte. Natürlich macht er ihm.
seine Reverenz, aber er macht die Reverenz gleich darauf auch den Gegenfüßlern
Spinozas. Das hat mit seiner Parteilosigkeit der Historismus getan. Freudenthal
will die Gegner Spinozas milder beurteilt wissen, weil sie fester auf ihrem
tiefen Standpunkte stehen als er auf seinem hohen, und weil seine Worte
gelegentlich zu schroff sind. Der Bannfluch [25/26] und die Denunziation, womit
die Judengemeinde von Amsterdam ihren einzigen großen Mitbürger nach
dem Muster christlicher Verfolgungssucht vernichten wollte, sollen uns heute"
in freundlicherem Lichte erscheinen, auch der schäbige Bestechungsversuch
der, reichen Juden gegen den armen Spinoza. Dieser, mit seiner vorbildlichen
passiven Tapferkeit, wird nicht geradezu ein Feigling genannt, aber für Furchtsamkeit"
wird sein Benehmen dennoch ausgegeben. Spinoza furchtsam! Spinoza, dessen
Autorschaft aller Welt bekannt war, dessen Atheismus trotz aller Rücksichten
offenkundig war, dessen Anhänger Koerbagh jämmerlich im Gefängnis
starb. Wenn Spinoza furchtsam war, dann gab es keinen furchtlosen Philosophen
von Sokrates bis Kant. Nur ein Zufall ist es, daß er seine Überzeugung
nicht mit seinem Blute besiegelte; sein Leben war märtyrerhaft genug.
Freilich sagt Professor Freudenthal, Spinoza sei kein Heiliger gewesen. Heilige
gibt es auf Erden nicht." Sehr richtig; nur daß just Spinoza zu den
wenigen [26/27] Menschen gehört, bei deren Wirken man die Wahrheit dieses
wohlweisen Satzes anzweifeln möchte. Fast noch drolliger ist es, eigentlich
furchtbar komisch, wenn die Ehelosigkeit Spinozas bedauert wird. Spinoza hätte
eine bessere Definition der Liebe gegeben, wenn er die aus Schmerzen und
Freuden geborene Mutterliebe nicht bloß vom Hörensagen gekannt hätte,"
Oh! Hat denn Spinoza an der zu Unrecht berüchtigten Stelle seiner Ethik die
Mutterliebe definiert? Und hätte er als Gatte und Vater die Mutterliebe
etwa wirklich durch Selbstbeobachtung kennengelernt?
Der Biograph Spinozas wirft die Frage auf, ob Spinoza ein Genie
zu nennen sei. Er ist so freundlich, die Frage zu bejahen. Spinoza wird mit
Leibniz verglichen. Leibniz wird einmal ihm ebenbürtig" genannt,
und später wird Spinoza unter Leibniz hinuntergedrückt; anders ist es
nicht zu verstehen, wenn Spinoza Leibniz in einigen Punkten erreicht, ihm
in anderen nachsteht". Leibniz, dessen Fleiß, Gelehrsamkeit und
Scharfsinn jede [27/28] Bewunderung verdienen, dessen Charakter aber noch eines
rücksichtslosen Historikers harrt, hätte gerade von dem Biographen
Spinozas nicht über oder, neben Spinoza gestellt werden sollen.
Endlich noch eine Kleinigkeit, die wohl in einer späteren
Auflage des Buches getilgt worden wäre. Professor Freudenthal spricht an
zwei gleichlautenden Stellen sein Bedauern darüber aus, daß dem
begabten Spinoza der Segen eines akademischen Unterrichtes nicht zuteil
geworden sei". Es ist traurig, aber ein Engländer oder ein Franzose hätte
diesen überheblichen Satz nicht geschrieben. Oder glaubt Professor
Freudenthal wirklich, Spinoza hätte mehr geleistet, wenn ihm der Segen
zuteil geworden wäre, in Heidelberg, Berlin oder Breslau ein Kolleg über
Geschichte der Philosophie zu hören? Spinoza hat ja einen noch größeren
Segen verschmäht. Der Kurfürst von der Pfalz bot ihm den Lehrstuhl für
Philosophie an der Heidelberger Universität an. Spinoza lehnte ab,
Professor zu werden. Professor Freu-[28/29]denthal erzählt das ganz
ordentlich und meint dabei mit rührender Offenheit, es hätte für
Spinoza verlockend sein müssen, seine Kraft dem herrlichsten Berufe"
widmen zu können. Das ist nun so ein geläufiges Wort. Gewiß ist
die akademische Lehrtätigkeit ein schöner Beruf. Aber der Superlativ!
Ist es wirklich nicht ein noch herrlicherer Beruf, ohne Amt und ohne Titel die
Werke Spinozas zu schreiben?
Bald nach Freudenthal erschien (1908) eine kleinere und
lesenswertere Schrift über Spinoza; aus acht Vorlesungen an der Universität
Bern entstanden; von Anna Tumarkin. Diese Historikerin der Philosophie will sich
nicht mit Kärrnerdiensten begnügen; sie kennt die Forderung Diltheys,
die Gedanken von Dichtern und Philosophen aus deren Wesen und Erleben heraus zu
verstehen, sie weiß, daß ein übermächtiges Gefühl bei
Spinoza Herr wird über seinen kühlen Verstand, daß also seine glühende
Mystik durchaus über seinem, von Descartes übernommenen,
mechanistischen Ratio-[29/30]nalismus steht; und daß seine
unvergleichliche Persönlichkeit nicht konstruiert werden kann durch
Summierung fremder Einflüsse, die natürlich nicht geleugnet werden dürfen.
Vorzüglich ist bei Anna Tumarkin die schwierige Darstellung von Spinozas
Metaphysik, von der Freudigkeit der Unterwerfung unter die unerbittliche
Notwendigkeit (im Gegensatze zu dem vernichtenden Gefühl der Abhängigkeit"
in dem vielverbreiteten Bilde von Sascha Schneider); vorzüglich die
Hervorhebung des Satzes, der schon einen Goethe überwältigt hatte: wer
Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn wieder liebe",*)
und die Bemer-
*) Goethe spricht da (Dichtung und Wahrheit" III, 14)
von der grenzenlosen Uneigennützigkeit", die aus jedem Satze
Spinozas hervorleuchte und ihn besonders gefesselt habe. Jenes spätere
freche Wort Philinens (Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?") sei
ihm darum recht aus dem Herzen gesprochen. Die Goethe-Philologie hat darüber,
daß Goethe sich selbst da falsch zitiert habe, viel mehr geschrieben als über
die Tatsache, daß das scheinbar zynische, in Wahrheit weise Wort der Sünderin
in Zusammenhang stand mit der abgründigen Mystik Spinozas. Philine erblickt
in Wilhelm Meister ihren Gott, den sie liebt - allerdings nicht eben geistig -,
ohne Gegenliebe verlangen zu dürfen.
[30/31]
kung, daß bei Spinoza der Gott ebenso unpersönlich
ist, ohne Willen und ohne Verstand, wie das Individuum. Und: es habe nie einen
erhabeneren Wahn gegeben als den Spinozas, der mit seinem Pantheismus doch die
Schranken des Ich habe durchbrechen wollen. Aber der Kulturtat, mit der Spinoza
in seinem Traktat den Gott aller positiven Religionen als ein Gebilde
menschlicher Phantasie nachwies, unwiderleglich, wird auch Anna Tumarkin nicht
gerecht.
[31/32]
Anna Tumarkin hat nicht erkannt, daß just durch seine
unbarmherzige Kritik aller Theologie Spinoza so einsam wurde unter seinen
Zeitgenossen, wie kein Denker vor ihm oder nach ihm; seine Einsamkeit hat sie
wohl nicht übersehen, doch auch Anna Tumarkin ist professoral-offiziös
genug zu sagen, daß Leibniz unter den Mitlebenden ihn am besten verstanden
habe. Ich halte es für verdienstvoll, diese Legende von den Beziehungen
zwischen Leibniz und Spinoza zu zerstören. Ist es doch oft nützlich,
eine in der Gelehrtenwelt allgemein gepflegte Lüge aufzudecken,
Die Einsamkeit Spinozas zeigte sich weniger darin, daß
seine Gegner, die orthodoxen Scholastiker ebenso wie die durch Spinozas
Ehrlichkeit kompromittierten Kartesianer, die angeblich Modernen",
ihn schmähten, sondern mehr [32/33] darin, daß auch seine wenigen Anhänger,
ihn verleugneten, wenn es ihnen so paßte, oder ihn überhaupt nicht
verstanden. Der erste Biograph Spinozas, der boshafte Arzt Jean Lucas, wagte
sich selbst nicht zu nennen, weil man sich als Schreiber über Spinoza
verbergen müßte, als ob man ein Verbrechen beginge. Ein Freund
Spinozas, der Arzt und Theaterdirektor Johannes Bourmeester, der doch ein so
ketzerisches Buch wie die konfessionslose Robinsonade des Arabers Ibn Tofail
(aus dem 12. Jahrhundert) zu übersetzen berufen wurde, stellte brieflich
die dümmsten Fragen an den Philosophen. Und Tschirnhaus, auch ein Freund,
schrieb den halbverstandenen Spinoza (1687) eifrig aus, nannte ihn aber nicht,
weil er kein Spinozist heißen wollte.
Dieser unzuverlässige Tschirnhaus, vielleicht auch der
noch unzuverlässigere Schuller, der letzte Arzt Spinozas, vermittelten die
persönliche Bekanntschaft zwischen dem damals erst dreißigjährigen,
noch nicht weltberühmten, doch schon sehr selbstbewußten [33/34]
Leibniz und dem Schöpfer der Ethik". Die Begegnung fand im
November 1676 statt, im Haag, in der Werkstätte des Denkers und
Glasschleifers, nur vier Monate vor Spinozas Tode. Der zudringliche Gast trat
wie ein geistiger Eroberer auf, der höfliche Wirt war ein Sterbender.
Über diese Begegnung sind wir ganz genau unterrichtet,
seitdem Ludwig Stein alles sehr gut (leider nur zu schonungsvoll für den
allzu gefeierten Leibniz) in einer besonderen Studie gesammelt hat. Und durch
einen eigenen Aufsatz hat Theodor Gomperz, - der übrigens als feiner Kenner
und Darsteller der griechischen Philosophen von mir nicht verkleinert werden
soll - die Unterredung der beiden Ebenbürtigen" zum Gegenstande
einer poetischen" Schilderung gemacht (1888), die seitdem von
gewissenhaften Fachmännern der Philosophiegeschichte - auch von Freudenthal
- ernst genommen und nachgeahmt worden ist. Als ob ein Hofmaler die Herablassung
eines gekrönten Hauptes zu einem armen Schlucker von Wahrheitsforscher
[34/35] gezeichnet hätte. Leibniz hat heute noch - wie zu seinen Lebzeiten
- eine gute gelehrte Presse, weil er der Stifter und Lenker von Akademien war,
als Diplomat und gefälliger Historiker an vielen Höfen wohlgelitten.
Ganz gewiß ohne lügen zu wollen, hat Gomperz dem Präsidenten der
ersten deutschen Akademie geschmeichelt, wie auch Georg Ebers ganz gewiß
nicht lügen wollte, wenn er das Bild eines längst vermoderten römischen
Kaisers ungebührlich verschönerte. Wir vertragen eine solche
Schminkenmalerei nicht mehr in angeblich historischen Romanen; in einer
historischen Darstellung, noch dazu in einer aus der Geschichte des Denkens, ist
sie uns ganz unerträglich,
In Wahrheit war Leibniz lauernd zu dem einsamen Grübler
gekommen, der, ein Schwindsüchtiger, gefaßt, still, heiter und
ruhebedürftig seinem nahen Tode entgegensah. Leibniz wußte seit
Jahren, daß Spinoza der Verfasser des kirchenfeindlichen Traktats war. In
Paris erfuhr er ungenau von dem Vorhandensein des [35/36] damals noch
ungedruckten Hauptwerks, der Ethik, die Spinoza bisher nur die zuverlässigsten
Freunde hatte lesen lassen. Leibniz gab sich Mühe, sich eine Abschrift zu
verschaffen; Spinoza, der dem vielgewandten Herrn nicht traute, gab seine
Zustimmung nicht. Leibnizens Aneignungssucht - mag man nun diese nur aus einer rühmlichen
Wißbegierde erklären oder auch aus einem weniger rühmlichen
Beweggrunde - war größer als sein Stolz. Auf einer Reise - über
Holland nach Deutschland - brachte es der kurfürstliche Herr Rat über
sich, uneingeladen den blutarmen und todkranken Glasschleifer aufzusuchen, der
im Verdachte stand, ein unerhörtes philosophisches System niedergeschrieben
und noch nicht veröffentlicht zu haben. Wenn die Begegnung zwischen den
beiden ebenbürtigen" Männern wirklich so verlaufen wäre,
wie die Geschichtsschreiber der Philosophie es seit dem Vorgange von Gomperz
gern haben möchten, so wäre es doch unerklärlich, daß der
Vielschreiber Leibniz nachher keinen Brief mehr an [36/37] Spinoza richtete, daß
er in Briefen an einen gemeinsamen Freund den sehr berühmten
Naturforscher und sehr tiefen Philosophen" (so hatte ihn Leibniz vor
wenigen Jahren sich anbiedernd genannt) nicht einmal grüßen ließ;
Spinoza wird wohl im Bewußtsein seines Wertes den richtigen Abstand
gewahrt haben und so kam es, daß ihm Leibniz später Eitelkeit
vorwarf. Spinoza eitel! Es wäre fast nicht zu glauben, wenn es nicht
bezeugt wäre, daß der hochgestellteste Philosoph der Zeit sich so über
den uneigennützigsten Denker aller Zeiten äußerte.
Leibnizens Doppelzüngigkeit gegen Spinoza kann auch von den
Offiziösen nicht geleugnet werden und ist an der Hand seiner Briefe und
Schriften nachzuweisen. Er hatte schon vorher den Traktat ein unerträglich
freches und ein entsetzliches Buch genannt, den Verfasser aber bald darauf
seiner eifrigen Verehrung versichert. Nach dem Tode Spinozas will Leibniz die
Erinnerung an den aufgedrungenen Besuch verwischen, rückt von dem jetzt
verrufenen Atheisten [37/38] ab wie von der Leiche eines Pestkranken, behauptet,
ihn nur ein einziges Mal gesprochen und ihm nur einen einzigen Brief geschrieben
zu haben, was unwahr ist. Je angesehener Leibniz wird und je kecker er den
Grundgedanken Spinozas - die Einheit von Geistigkeit und Körperlichkeit -
unter Wahrung der kirchlichen Dogmen ausbeutet, desto mehr wächst seine
Abneigung gegen den Mann, dem er sein Bestes verdankt. Da seine eigene Anlehnung
an Spinoza nicht zu leugnen ist, hilft er sich mit unsauberen diplomatischen
Redensarten: Spinoza habe viele schöne Gedanken gehabt, die den seinigen
entsprechen; Spinozas System wäre richtig, wenn das System von Leibniz
nicht wäre. Das Günstigste, was man noch zur Entschuldigung von
Leibniz vorbringen könnte, wäre, daß er sich als ehrgeiziger
Staatsmann hüten mußte oder hüten zu müssen glaubte, für
einen Freund des berüchtigten Freidenkers, des wegen ungeheuerlicher
Ansichten sogar von der Synagoge ausgestoßenen Juden zu gelten. [38/39]
Ich will nicht ungerecht sein gegen Leibniz, der in der
Entwicklung der Geistesbefreiung zwar nur hemmend wirkte, als Vermittler und
Allerweltsfreund, der aber auf dem Gebiete der Psychologie der scharfsinnigste
Nacheiferer Lockes war und als Mathematiker, auch wenn seine Abhängigkeit
von Newton einmal unzweifelhaft festgestellt werden sollte, doch durch die neue
und brauchbare Methode seiner Differenzialrechnung eine Meisterleistung
hinterlassen hat. Darum - weil also sein Ruhm übertrieben, doch nicht
unberechtigt ist - und weil die Sache wohl immer ein ungelöstes Rätsel
bleiben wird, will ich ihn nicht verdächtigen, daß er das noch
ungedruckte Hauptwerk Spinozas in schlimmer Absicht habe an sich bringen wollen;
wahrscheinlich wollte er sich nur die Ehre sichern, das Buch selbst
herauszugeben, etwa mit abschwächenden und die Überlegenheit des
Herausgebers beweisenden Anmerkungen. Gewiß ist nur, daß der gottsträfliche
Arzt Schuller vorschlug und die Freunde Spinozas ernstlich daran [39/40]
dachten, die Handschrift der Ethik an Leibniz zu verkaufen, um den Preis von 150
Gulden. Vielleicht um Läpperschulden zu bezahlen: Begräbniskosten, die
Rechnungen des Notars und des Barbiers. Es ging unordentlich und unwürdig
zu in dem Sterbezimmer des Glasschleifers Baruch oder Benedictus de Spinoza.
[40/41]
Seit Lessing erst ist also das Ansehen Spinozas im Wachsen
begriffen. Vorher redete man von ihm wie von einem toten Hunde".
Hundert Jahre lang wagte fast niemand den Namen Spinoza anders als unter Verwünschungen
zu nennen,
Und dabei waren seine Bücher so gut wie verschollen. Es war
schwer, auch nur ein Exemplar der Ethik des Maledictus Spinoza aufzutreiben.
Nach Lessing haben Herder und Goethe in Spinoza ihren geistigen
Erlöser gesehen, und man kann wohl sagen, daß unsere deutsche
Weltanschauung, wie sie sich seitdem auch noch durch Schelling, Hegel und
Schopenhauer entwickelt hat, teils spinozistisch sein will, teils spinozistisch
ist. Vollends die Dichtung, weil sie sinnlich gestaltete Weltanschauung ist, hat
in Deutschland seit Goethes Jugend nicht aufgehört, spinozistisch [41/42]
zu sein. Vorher gab es in der Lyrik eine anthropomorphe, humanisierte Natur,
eine Natur mit Menschenfratzen; jetzt möchte die Menschenseele selbst natürlich
empfinden und reden. Früher gab es im Drama den Zwang von Moral oder
Schicksal; jetzt erschrecken wir nicht mehr, wenn eherne Notwendigkeit des
Charakters die schönen Linien der Handlung wie der Moral durchbricht. Darin
übertrifft Spinoza alle Denker vor ihm und nach ihm, daß er wie
keiner vor oder nach ihm die Notwendigkeit, die lachende oder doch stille
Notwendigkeit all und jeden Geschehens immer und ohne Ausnahme empfunden und
ausgesprochen hat, und daß ihn dieser Hohn des Weltlaufs, diese objektive
Heiterkeit der Weltgesetze nicht erschreckt, sondern zur Forderung einer unzerstörbaren
subjektiven Heiterkeit des Denkens geführt hat. Spinoza hatte wohl unter
allen Menschen, die je ihr Denken auf die Nachwelt gebracht haben, zugleich die
tiefste und die hellste Welterkenntnis. Aber er lehrte eine schlechte, ja recht
eigentlich eine ver-[42/43]kehrte Erkenntnismethode. Die mathematische Methode,
die nur auf Mathematik anwendbar ist. Denn: Ziffern sind keine Worte, die
algebraischen Zeichen sind keine allgemeinen Sprachbegriffe.
Ich möchte empfehlen, einmal einen ganz neuen Auszug von
Spinoza zu veranstalten. Man lasse doch sämtliche Beweise einfach weg, dazu
alle die Definitionen und Lehrsätze, die nur die Lücken des Systems
auszufüllen bestimmt sind. Man ordne dafür die Zusätze und Erläuterungen,
die Vorreden und Anhänge gut zusammen, man füge aus seinem großen
Traktate und aus seinen herrlichen Briefen das Nötige hinzu, und die Welt
wird den unvergleichlichen Philosophen endlich lesen können. Denn so liegt
die Sache bei Spinoza: wo er sich gehen läßt, steht ihm die
eindringlichste Sprache zur Verfügung; wo er unter dem Banne seiner eigenen
Methode steht, wo er also durch mathematische Logik Erkenntnis schaffen will, da
sinkt er eigentlich noch unter die Scholastiker hinab. Diese hatten wenigstens
ihre konventionelle Sprache ge-[43/44]meinsam und konnten einander verstehen was
man so sagt. Spinoza schlägt seine gewaltige und persönliche
Weltanschauung an das Kreuz einer persönlichen und dennoch konventionellen
Sprache und wird immer da dem neueren Sprachgeiste unverständlich, wo er
klar zu sein glaubt wie ein Mathematiker,
Er hat die Scholastik darin überwunden, daß er
wirklich keine Autoritäten kennt. Er zuerst kritisiert gründlich die
Bibel, er zuerst weist auf vergleichende Religionsgeschichte und schon auf
Indien hin, er zuerst wirft sowohl den Platon als den Aristoteles ab. Aber
leider kennt er auch nicht den Zweifel Descartes. Wäre Spinoza ein
Skeptiker gewesen, wie ja doch die Juden geborene Skeptiker sein sollen, seine Bücher
wären der Schlußstein menschlichen Denkens. Auch er aber unterlag dem
Fluche des Menschengeistes, auch er glaubte an eine Erkenntnis durch Begriffe.
Seine Bücher sind dogmatisch geworden, weil er an die Erkenntnis glaubte,
weil er die Erkenntnis nicht immer nach ihrer Herkunft fragte. [44/45] Für
Spinoza gehört die Möglichkeit der Erkenntnis von Ewigkeit mit zur
ewigen Natur des Menschen. Seine Weltanschauung ist der höchste und
freieste Pan-Naturalismus und steht hoch über dem beschränkten
Materialismus, der auf ihn folgt. Der Materialismus vermag das Denken nicht zu
erklären; Spinoza versucht es gar nicht. Der Materialismus ahnt seine
eigene Beschränktheit wenigstens; Spinoza steht noch ahnungslos vor den
Widersprüchen seiner Erkenntnistheorie.
Wer ist denn sein erkennendes Wesen? Er setzt Gott und die Natur
einander gleich und sieht im einzelnen Menschen nur eine flüchtige
Erscheinung Gottes oder der Natur. Sein Gott hat kein Gehirn, keine Sprache,
sein Gott hat keinen Verstand, und sein Mensch ist eine Erscheinung Gottes oder
der Natur. Wer kann also etwas erkennen?
Und was soll da erkannt werden,? Gott oder die Natur ist
unendlich und ewig und unerkennbar, und außer Gott oder der Natur gibt es
nichts Erkennbares. [45/46]
Hat also Spinoza mit seiner Erkenntnistheorie recht, so besitzt
der Mensch, so besitzt auch Spinoza kein Denkorgan, diese richtige
Weltanschauung zu begreifen und zu beweisen; hat aber Spinoza oder irgendein
Mensch Erkenntnismöglichkeit, so muß die Theorie Spinozas falsch
sein. Dieses traurige Dilemma scheint mir unwiderleglich.
Wie zum Trotz will aber Spinoza seine Lehre nicht nur in
Begriffen mitteilen, sondern sie geradezu nach der Methode der Geometrie
beweisen. Und dennoch war er der tiefste und dazu der überzeugungstreueste
Denker.
Es fällt schwer, bei einer so übermächtigen
Erscheinung erst noch nach der Glaubwürdigkeit zu fragen, bevor man ihr
Zeugnis anruft. Es ist als ob der Leiter einer Gerichtsverhandlung seinen
eigenen Vater nach dem Namen fragen wollte. Und es fällt schwer, bei
Spinoza die Eigenschaft zu benennen, die für seine Glaubwürdigkeit
zumeist bürgen könnte. Unbestechlichkeit, Ehrlichkeit, Tapferkeit,
Wahrheitsliebe, alle diese schönen [46/47] Worte und Namen von Tugenden
zerplatzen wie Seifenblasen, wenn man an ihnen Spinoza zu Ende denkt, der einen
Muttermord, wie ihn Nero beging, kaltblütig und mit Verwerfung des Begriffs
böse" unter die Naturereignisse rechnet, wie man auch wohl ein
einzelnes unregelmäßig geformtes Blatt nicht ethisch verurteilt. Es
heißt darum nicht zu weit ausholen, wenn wir es so ausdrücken, daß
Spinozas Einsicht niemals nachweisbar von den dreierlei Absichten der gemeinen
Menschheit getrübt war, nicht von Liebesgier, nicht von Hunger und nicht
von Eitelkeit. Nur wie der Schatten einer Legende zieht eine Neigung für
jene Clara Maria über sein Leben hin. Bedürfnislos wie ein echter
Orientale verdient er sich seinen Bissen Brot mit einer Handarbeit, die ihm doch
zugleich wissenschaftliche Übung war. Und seine Eitelkeit ist so gering, daß
er es mit Verachtung trägt, verachtet zu werden, und man von ihm wohl mit
größerem Recht als von seinem jüngern Zeitgenossen Malebranche
sagen könnte, er habe die [47/48] Wahrheit gesucht durch jeden Verruf
hindurch und jeden guten Ruf (per infamiam et bonam famam). Zum Erweise seiner
Absichtslosigkeit, seiner sittlichen Hoheit (so dürfte man banal von jedem
andern als von Spinoza sagen), braucht man nur daran zu mahnen, daß und
wie es Spinoza ablehnte, als Professor an einer deutschen Universität
mitten unter Verfolgungen ein äußeres Lebensziel und Sicherheit vor
Not zu finden. Der Kurfürst von der Pfalz, der Bruder von Descartes' Prinzeß
Elisabeth, wollte ihn - wie schon erwähnt - zum ordentlichen Professor der
Philosophie an seiner Universität Heidelberg machen. Spinoza sollte, wie
das in der Welt ja' zuweilen vorkommt, der Vorgänger seines Nachlesers Kuno
Fischer werden. Man versprach Spinoza Lehrfreiheit in vollstem Umfang und
deutete nur bescheiden die Erwartung an, er werde sie nach dem Vertrauen
des Fürsten nicht zur Störung der öffentlichen
Religionseinrichtungen mißbrauchen."
Spinozas Antwort ist einfach. Er lehnt [48/49] ab, zunächst,
weil er
nicht weiter denken zu können meint, wenn er
junge Burschen unterrichten müsse. Dann aber auch, weil ihm
kein Kurfürst die Gewißheit geben könne, er werde
nie den Schein der Religionsstörung auf sich laden. Der
Religionsstreit entspringe ja nicht aus regem Religionseifer, sondern aus
allerlei gemeinen Leidenschaften,
Diese heiligende Absichtslosigkeit, die grenzenlose
Uneigennützigkeit", verklärt überall Spinozas armes Leben, Ähnlich
wie Lessing verdirbt es Spinoza regelmäßig mit beiden Parteien,
zwischen denen er wählen müßte; nur daß Lessing die Größe
seines Charakters mit Bitterkeit bezahlt, Spinoza sie durch Heiterkeit krönt.
Man könnte sagen, Spinoza sei als Jude in der glücklichen Lage
gewesen, sich um christliche Pfaffen und um ihre Scheiterhaufen nicht bekümmern
zu müssen. Im Jahre 1663, da Spinoza sein erstes Buch herausgab, das Buch über
Descartes, wurde Descartes selbst auf den päpstlichen Index verbotener Bücher
gesetzt. Man könnte sagen: Was ging das [49/50] den Juden Spinoza an? Für
die Kirche war die Lehre Descartes' wahrscheinlich nur darum nicht annehmbar,
weil der Begriff der Einheit aller Substanz der Mythologie von der
Transsubstantiation widersprach. Die Götter waren eifersüchtig
aufeinander; dem konfessionslosen Juden konnte das gleichgültig sein. So könnte
man sagen. Und absichtlich vergessen, daß auch der Jude Spinoza zuletzt
vor, der Hetze reformiert-christlicher Geistlichkeit nicht sicher war; daß
wahrscheinlich nur sein früher Tod ihn vor dem grausamern Ausgang im Kerker
bewahrte.
Gewiß war es günstig für Spinoza, daß er -
als er eben die Kirche verließ - aus dem machtlosen Judentum austrat, und
nicht aus dem mit Brandfackeln bewaffneten Christentum. Es machte ihn auch wohl
innerlich freier, daß er in reiferen Jahren die Legenden nicht erst
langsam abzustreifen brauchte; der zum Rabbiner ausgebildete Jüngling hatte
im Alten Testament keine eigentlichen Dogmen gefunden und hatte die
Vorstellun-[50/51]gen der christlichen Scholastik nicht früh genug kennen
gelernt, um für Lebenszeit transzendent zu sein. Eine ganze Anzahl
mittelalterlicher Wortfetische konnten ihm den Verstand nicht verrenken wie
einem Descartes noch. Gewiß war es gut für ihn, daß seine nächsten
Feinde nicht Dominikaner mit ihren Scheiterhaufen waren, sondern nur armselige
Rabbiner, die ihn anspien. Der ganze Abstand zwischen christlicher und jüdischer
Glaubenstollwut liegt darin, daß die erste verbrennen durfte, die zweite
aber nur anspeien. Gewiß, hätte man einen christlichen Spinoza in Stücke
gerissen, wenn er christlichen Glaubensrichtern mit sokratischer Ironie
geantwortet hätte, wie Spinoza - man erzählt es - dem Rabbiner
Morteira: Spinoza habe bei ihm Hebräisch gelernt, so möge denn
der Rabbi jetzt an ihm das Verfluchen lernen." Gewiß ist es ein
Beweis der Ohnmacht seiner Gegner, daß die Juden einen Spinoza, auf den
sie jetzt gern stolz sein möchten, durch die schmutzigste Bestechung, durch
das Anerbieten eines [51/52] Jahrgehalts von tausend Gulden, zum Schweigen zu
bringen suchten,
Aber am 27. Juli des Jahres 1656 wurde doch in der Synagoge von
Amsterdam der große Bann über Spinoza ausgesprochen, wohlgemerkt,
nachdem zuerst das Attentat auf seine Seele durch die Bestechung und vielleicht
auch ein Attentat auf sein Leben vorausgegangen war. Wir kennen durch Gutzkows
Theaterstück den Eindruck eines solchen ohnmächtig-blutdürstigen
jüdischen Bannfluchs. Wir kennen jetzt auch den Wortlaut dieses Cherem, wo
es nicht ohne eine gewisse Poesie der Bestialität unter anderm heißt:
Nach dem Urteile der Engel und dem Beschlusse der Heiligen
bannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir den Baruch de
Espinosa mit der Zustimmung Gottes und dieser heiligen Gemeinde im Angesichte
der heiligen Bücher der Thora und der sechshundertdreizehn Vorschriften,
die darin geschrieben sind; mit dem Banne, womit Josua Jericho gebannt, mit dem
Fluche, womit [52/53] Elisa die Knaben verflucht hat, mit allen Verwünschungen,
die im Gesetz geschrieben stehen. Er sei verflucht bei Tag und sei verflucht bei
Nacht! Er sei verflucht, wenn er schläft, und sei verflucht, wenn er
aufsteht! Er sei verflucht bei seinem Ausgang und sei verflucht bei seinem
Eingang! Der Herr wolle ihm nie verzeihen."*)
Die Worte dieses symbolischen Anspeiens konnte Spinoza - so
empfinden wir heute - ruhig verachten. Aber es blieb nicht bei Worten allein.
Der Cherem" schloß mit einer vollständigen Verfemung des
Opfers. Die Lebensmöglichkeit soll ihm genommen werden. Niemand soll vier
Ellen weit von ihm" verweilen. Auch seine Schriften werden verboten und die
Rabbiner schämen sich
*) Es scheint, daß die grausigste Symbolik einer jüdischen
Verfluchung bei dem Banne über Spinoza nicht angewandt wurde: das
furchtbare Auslöschen schwarzer Kerzen in einer Schüssel mit frischem
Blute. Wahrscheinlich nur darum nicht, weil das Verbrechen Spinozas aus
juristischen Gründen damals noch nicht als Gotteslästerung aufgefaßt
werden konnte, sondern nur als Ungehorsam.
[53/54]
nicht als ob sie Dominikaner gewesen wären, auch den
weltlichen Arm gegen Spinoza zu lenken. Nicht lange vorher, als der achtjährige
Knabe in der Rabbinerschule die Bewunderung seiner Lehrer erregte, hatte ein ähnlicher
Cherem den feurigen und begabten Uriel da Costa dazu getrieben, seinem durch
Rabbinergeifer beschmutzten Leben mit einem Pistolenschuß ein Ende zu
machen.
Das war es, was Spinoza seinem Judentum äußerlich
verdankte. Ihm freilich vermochte jüdischer Pfaffenmund nichts anzuhaben,
ob der Mund Worte sprach oder schäumte. Wir müssen ihn uns vorstellen,
wie er mit der Weltverachtung eines Heiligen durchs Leben ging. Noch im Tode mag
er diesen Ausdruck festgehalten haben, was dann einem immerhin anständigen
Gegner Anlaß gab, unter das Titelbild einer Lebensbeschreibung Spinozas zu
setzen. Der Meister des ersten Lehrgebäudes unter den feineren Atheisten,
der Fürst der zeitgenössischen Atheisten habe sein unseliges Leben
geschlossen mit dem Aus-[54/55]druck der Verdammnis im Gesicht (characterem
reprobationis in vultu gerens.)*)
Schon Hegel hat auf den Doppelsinn des Wortes hingewiesen (aber
gewiß nur Goethe folgend - er schreibt ihm dabei einen Gedächtnisfehler
nach -, der schon Verwerfung und Verworfenheit" übersetzt
hatte), wie denn réprobation im Französischen heute noch sowohl die
passive Verworfenheit als die aktive Mißbilligung bedeuten kann. Für
Verworfenheit, für Verdammnis mußten Pfaffen den tiefen Zug von
Verwerfung und Verdammung halten, mit dem Spinoza in die Einsamkeit ging, um -
nicht für die Juden - für den weltlichen Arm eine Verteidigungsschrift
zu schreiben, aus der dann später in politisch kritischer Zeit der große
theologisch-politische Traktat geworden ist.
Dieses bahnbrechende Buch geht uns hier zunächst nur so
weit an, als es das stille Heldentum, die heitere Todbereit-
*) Eine Wiedergabe dieses Bildes wurde unserer Ausgabe beigefügt;
es geht auf das Portrait zurück, das Spinozas Freunde dem Drucke der Opera
postuma beigegeben haben.
[55/56]
schaft Spinozas, deutlich beweist. Nur Lessing wieder hat 100
Jahre später, wo freilich nicht mehr so leicht verbrannt und gemordet
wurde, in ebenso freier Weise zugleich gegen die Orthodoxie und gegen die Halben"
gekämpft. Die Orthodoxen und die Halben", scheinbar grimmige
Feinde, waren doch einig in dem Hauptpunkte" es könne in der Bibel
nichts Falsches stehen. Daß die Ganzen" daraus den Schluß
ziehen, es müsse also jedes Bibelwort wörtliche Wahrheit enthalten, daß
die halben Pfaffen nur folgern, es müsse jedes unhaltbare Bibelwort darum
bildlich oder sonstwie anders gedeutet werden, - das ist gleichgültig;
ernsthafte Bibelkritik war erst möglich, wenn man die Möglichkeit
zugab, die Bibel könne Falsches, könne Unsinn enthalten, wie jedes
andere Menschenwort. Dies hat Spinoza ausgesprochen; ohne ihn sind Voltaire,
Lessing und Strauß nicht zu denken.
Wieder 100 Jahre nach Lessing hat diesen klaren Satz Anzengruber
am einfachsten und lustigsten wiederholt (Der [56/57] G'wissenswurm",
I, 8). Der Bauerntartüff beruft sich auf ein Bibelwort. Wird doch
kein Unsinn g'schrieb'n stehn?!" fragt der geplagte Grillhofer. Und
warum net?" ist Dusterers Gegenfrage, in der der ganze
theologisch-politische Traktat zusammengezogen scheint. Daß es der fromme
Bauer ist, der diese vernichtende Frage stellt, ist ein recht Lessingscher,
genialer Zug. Und ich kann aus eigenem Wissen bemerken, daß Anzengruber wußte,
wie viel vom Pantheismus Spinozas und vom Wahrheitsstreben Lessings ihm angeflogen"
war; den theologisch-politischen Traktat selbst kaufte er erst viel später
auf einer Sommerreise, von einem Bahnhofbuchhändler, in der wohlfeilen Übersetzung
der Reclamschen Bibliothek, und erhielt einen übermächtigen Eindruck.
Diese drei Namen können zugleich als Beispiel dienen dafür,
wie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein mit Beifall aufgenommener
Schlager sein konnte, was hundert Jahre vorher selbst einem Lessing von seinem Fürsten
das Verbot theo-[57/58]logischer Schriftstellerei eintrug, was 200 Jahre vorher
den Verfasser des theologisch-politischen Traktats in Lebensgefahr brachte. Die
Erregung gegen ihn war so groß, daß er sein Hauptwerk bei seinen
Lebzeiten nicht drucken lassen konnte. Und eben in dem Jahre 1675, als Spinoza
in dem freien Amsterdam vergebens einen Verleger für seine Ethik"
gesucht hatte, lag alles so ungünstig, daß selbst seine Bewunderer
ihn zu einer Art Widerruf bewegen wollten. Es war einer, den Spinoza seinen
Freund nannte, 0ldenburg, der ihm schrieb, man" nehme besonders Anstoß
an Spinozas Gleichstellung von Gott und Natur, an seiner Verachtung der Wunder
und an seinem unklaren Standpunkte zu dem Gottmenschen Jesus Christus. Und noch
schöner als der Traktat, der vom Buchhandel als Schmuggelware behandelt
wurde, zeigt den ruhigen Mut Spinozas die Antwort, die er nicht viel mehr als
ein Jahr vor seinem Tode, ein schwindsüchtiger Mann, an den zudringlichen, ängstlichen
Oldenburg nach London richtete. Was den [58/59] ersten Punkt betrifft, so
bekennt er sich offen zu seinem Pantheismus; wer aber glaube, Spinoza verstehe
unter Natur eine tote Masse, wer ihn also (nach unserm Sprachgebrauch) für
einen Materialisten halte, der verstehe ihn nicht. Was die Wunder anbelangt, so
dürfe sich der Glaube nur auf die Weisheit der Offenbarungen stützen,
nicht auf ihre Wunder, d. h. auf Ignoranz. Darum unterscheiden auch die Christen
von den Bekennern anderer Religionen (es ist mir, als ob das Original von
Lessings Nathan nicht der subalterne Mendelssohn, sondern der Spinoza dieses
Briefes wäre) nicht die Treue, die Liebe und andere Früchte des h.
Geistes, sondern allein eben die Meinung (opinio), weil auch die Christen ihre
Religion auf Wunder allein gründen wollen, also auf Unwissenheit, die die
Quelle aller Bosheit sei. Was endlich die Menschwerdung Christi anbelangt, so
erklärt der Jude Spinoza ganz ausdrücklich, er könne den Sinn der
Worte nicht verstehen; er bekenne offen, daß ihm solches Reden nicht
weniger ab-[59/60]surd vorkomme als ein Geschwätz von der Quadratur des
Zirkels.
Was heute alltäglich ist, war damals eine seltene Tat. Er
verläßt das Judentum und schließt sich den Christen nicht an.
Er verlacht den Rationalismus in der Theologie und ist in der Philosophie so
sehr Rationalist, glaubt so fest an den Wert der Vernunft, daß er den
herrschenden Dualismus überwindet und damit die Modernen jener Tage, die
eigentlichen Kartesianer, die er dumm, nennt, aufs äußerste reizt. Er
wirft das Gebäude aller Frommen um, und bannt doch für alle Folgezeit
die beschränkten Materialisten - vier Ellen weit - von sich fort. Daß
er dabei im Traktat dem Alten Testament feindlicher scheint, als dem Neuen, ist
wohl aus seiner gründlicheren Kenntnis zu erklären. Nirgends ist die
Einsicht von irgendeiner Absicht getrübt. Nicht im Leben, nicht im Denken,
nicht in der Philosophie, nicht in der Politik. Denn auch als Politiker ist
Spinoza ein reiner Charakter. Da die Oranier in den Niederlanden fast königliche
[60/61] Macht gewinnen, da sie ihre Gegner, früher einen Oldenbarneveld und
jetzt die de Witt bald gesetzlich, bald ungesetzlich ermorden lassen, schreibt
der gebannte Jude Spinoza zugunsten dieser aristokratisch-republikanischen
Partei, und verficht doch wieder (mit Hobbes) die Staatsallmacht über die
Kirche. Und diesem allmächtigen Staate endlich spricht er das Recht ab, die
Denkfreiheit zu beschränken.
So ist er ein Denker ohne Furcht und Tadel, ein klassischer
Zeuge. [61/62]
Nur ein dunkler Punkt ist vorhanden: Spinozas Gottesbegriff.
Wie wir wünschen, Spinoza hätte uns seine
Weltanschauung ohne seine Beweise gegeben, d. h. seine Gedanken ohne seine
Sprache, so wünschen wir auch, er hätte das Doppelspiel, das Gott der
Natur gleichsetzt (Deus sive natura) und willkürlich bald Gott"
und bald Natur" sagt" aufgegeben und das Wort Deus"
mit allen schwerfälligen und sophistischen Definitionen und Folgerungen
dieses Wortes uns erlassen. Wir haben anfangs oft den Eindruck, Spinoza habe da
nur vorsichtig gehandelt und sich selbst ein Hintertürchen offen gelassen,
durch welches er die Schüler aus seinem Hause, der Natur, zu Gott"
hinauswerfen konnte, während doch sogar der Riese Kant weniger stolz war
und das Hintertürchen der Moral öffnete, um Gott da-[62/63]durch
wieder als Herrn einzuführen. Rücksichtsvoller gegen die Theologie als
gegen die Philosophie. Erst der tapfere Forberg wagte es (in der Abhandlung, die
zum berühmten Atheismusstreit Fichtes den Anstoß gab), die leise
Andeutung Kants auszudeuten und vernehmlich zu sagen: wir wollen so handeln, a1s
ob es einen Gott gäbe.
Es wäre aber unhistorisch, einem Spinoza unsere
Denkgewohnheiten unterzuschieben. Großstädter sind jetzt in den
Jahren, wo man im Glauben konfirmiert zu werden pflegt, mit den Begriffen: Gott,
Engel u. dgl. schon fertig. Wir brauchen nachher das Wort Gott" nicht
mehr, wie wir nachher nicht mehr vom Storch sprechen. Man bedenke doch, daß
wir darin wieder um ein Wort ärmer oder um eine Freiheit reicher geworden
sind als z. B. Lessing und Voltaire, die das Wort noch emsig hin und her
wendeten, um seinen Inhalt zu finden. So wird bald auch die Zeit kommen, wo die
völlige Hohlheit des Begriffs Substanz oder Materie erkannt sein wird. Für
Spinoza war Substanz [63/64] (übrigens identisch mit Gott) noch der höchste
Begriff, und wir nehmen ihm diese Scholastik nicht übel. Warum wollen wir
ihm den Gottesbegriff schlimmer deuten?
Wir sind diesem Begriff gegenüber wirklich noch zu nervös.
Die Geschichte des christlichen Gottesbegriffs erzählt eine solche Fülle
von Dummheit und Trug, von Gewalttat und Feigheit, daß wir uns über
jeden freien Kopf ärgern. der diesem Begriff auch nur die geringsten Zugeständnisse
macht. Und bei Spinoza werden wir - aber nur, weil Spinoza uns gelebt hat -
anfangs die Empfindung nicht los, ihm sei, wie einst dem Epikuros die Götter
nur die Lückenbüßer der Kenntnis waren, sein Gott bestenfalls
nur ein altes Wort für das neugefundene x, für die Unbekannte, die
natura naturans (die wirkende Natur), auf welche die natura naturata (die
Wirklichkeitswelt) als letzte Ursache hinzuweisen schien.
In jüngeren Jahren war ich geneigt, Spinoza einer feigen
Vorsicht zu zeihen. [64/65] Schopenhauer hatte mich irregeführt, der dem
Juden Spinoza, gegen den er bei aller Bewunderung das niedrige Wort vom foetor
judaicus gebraucht, geradezu Unaufrichtigkeit vorwirft. Eine Schwierigkeit
besonderer Art hat Spinoza sich dadurch aufgebürdet, daß er seine
alleinige Substanz Deus nannte; ... er tat es, damit seine Lehre weniger Anstoß
fände."
Das ist unhistorisch geurteilt, wie gesagt. Das Wort Deus war für
Spinoza noch ein Begriff aus der Welt des Denkens; es konnte ihm noch nicht
einfallen, das Wort zu veräußern oder es wegzuwerfen wie einen alten
Kaftan. Er hielt es für seine Pflicht, den Begriff zu verinnerlichen, ihn
von abergläubischen Zutaten zu befreien, den Kaftan zu reinigen. Und
wahrhaftig, seine Definition des Gottesbegriffs war nicht vorsichtig. Uns ist
sie lästig, weil wir des Wortes nicht bedürfen, weit es sich als ein
störendes Synonym zwischen uns und Spinozas Natur schiebt; wir wissen, daß
unsere Sprache über die natura naturata hinaus nicht bis zur natura
naturans gelangen [65/66] kann. Aber geheuchelt hat Spinoza darum nicht. Sein
Deus hat nicht gehindert, daß er bei Lebzeiten und noch im Grabe der Fürst
der Atheisten genannt worden ist. Der Gott Spinozas hat nichts mit irgendeiner
religiösen Anschauung zu tun; sein Gott ist kein konfessioneller Begriff.
Spinoza sagt einmal tief und groß: Gott zuzumuten, daß er das Gute
allein schaffen (also nach guten Zwecken allein handeln) könne, nicht auch
das sogenannte Böse, heiße ihn von etwas Fremdem, von der
menschlichen Idee des Guten abhängig machen; es sei für Gott weniger
schlimm, ihm Willkür zuzutrauen, ,was Spinoza doch wieder für töricht
erklärt.
Dieses Leugnen aller Zweckursachen, aller Absichten (bei Gott
oder der Natur), dieses Betonen der ausnahmslosen Notwendigkeit der Welt, das
wie Beethovens Siegessymphonie vernichtend zugleich und jubelnd über uns
hereinrauscht, dieser Grundgedanke Spinozas, den er auch seinem Gotte nicht erläßt,
scheidet seine Lehre wie von allen frühe-[66/67]ren Denkern, so auch von
aller Religion". Darum besteht ja die Religion nicht vor der
interesselosen Einsicht, weil sie immer Interesse ist. Auch der Judengott hatte
bei seiner Weltschöpfung einen Zweck; er schuf die Welt für den
Menschen. Natürlich! hatte doch der Mensch sich ihn zu diesem Zweck
erdacht. Einerlei, ob hier oder drüben, immer verspricht Religion etwas,
sie will also immer etwas Künftiges, einen Zweck. Immer nennt sie einen
wollenden Gott, dem sie den sollenden Menschen gegenüberstellt. Gott will,
daß ich solle. Ich soll, damit Gott wolle, mir wohl wolle.
Weniger roh lehren die Philosophen dasselbe. Immer ist ihnen der
Mensch das Maß der' Dinge, ohne daß sie es immer wissen oder sagen.
Weil der lebende Mensch Erinnerung oder Sprache besitzt, weil er mit ihrer Hilfe
die ewige Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft auseinanderhalten kann, darum
verlegen sie die Zukunft auch in die Wirklichkeitswelt und lassen sie durch
Zwecke oder Absichten auf die Gegenwart wirken. [67/68] Alle sind sie
teleologisch, alle bis auf den einen Spinoza. Alle, wenn man von den großen
Skeptikern absieht, den wahren Alleszermalmern. Platon und Aristoteles sehen in
der Natur Zwecke verwirklicht, und alle Neuen kehren zu den Absichten des alten
Judengottes zurück. Kant selbst stellt, nachdem er groß die
Unerkennbarkeit der innern Weltordnung dargetan hat, doch wieder eine
erkennbare, höhere Weltordnung, die moralische auf, ein kategorisches Soll
neben das Wollen des moralisch erschlossenen Gottes. Ja sogar die gottlose und
gottesmörderische Welt Schopenhauers soll noch etwas, wenn auch nur die
Weltflucht. Einzig und allein der Deus Spinozas will nichts. Er hat gar keinen
Zweck, weshalb der Mensch auch nichts soll. Der Mensch hört auf, das Maß
der Dinge zu sein. Weder dürfe man etwas gut nennen, weil Deus es angeblich
gewollt habe; noch dürfe man glauben, Deus habe das und das gewollt, weil
es gut sei. Die Aufhebung des persönlichen Gottes ist im Deus Spinozas
besser erreicht, als im [68/69] Stoff" der Materialisten, der sich aufwärts"
entwickelt, also zweckvoll; besser als im Willen" des Atheisten
Schopenhauer, der schon nach seinem Namen einen Zweck wollen" muß.
Nur scholastisch freilich kommt Spinoza dazu, seinem Deus die
Erkennbarkeit abzusprechen. Jede Bestimmung sei eine Verneinung; denn jede
Bestimmung einer Definition gehöre nicht zum Wesen der Sache, sondern sei
im Gegenteil ihr Nichtsein. Es ist also jede Definition, ich würde sagen,
jede Erkenntnis, nur eine Umgehung der Wirklichkeit. Darum kann auch das höchste
Sein, auch Deus nicht erkannt werden, darum können wir uns von seiner Persönlichkeit,
von seinem Wollen oder seinem Verstande keinen Begriff machen. Spinoza kennt
wohl' das Wort Persönlichkeit", aber er kann sich nicht viel
dabei denken. Was seine Persönlichkeit sei, werde Deus wohl erst am jüngsten
Tage seinen Gläubigen enthüllen, fügt Spinoza hinzu; und mag bei
diesen Worten wohl besonders scharf den character reproba-[69/70]tionis im lächelnden
Antlitz getragen haben.
Der unendliche, undefinierbare, unpersönliche Deus hat also
gar keine Individualität; und so gehört zu seiner Natur auch kein
Verstand und kein Wille, wobei Spinoza die tiefe Einsicht besaß, daß
der Wille nichts dem Verstande Entgegengesetztes, sondern gleich ihm Vorstellung
sei. Spräche man dem Deus Verstand und Wille zu, so käme das auf eine
willkürliche Benennung hinaus, da des Deus Verstand und Wille von unsern
gleichbenannten Seelenkräften himmelweit verschieden sein müßten,
himmelweit, wie etwa das Sternbild des Hundes am Himmel und der Hund, der unter
meinem Fenster bellt. Nur die Worte seien gleich.
Es tut nichts, daß Spinoza auf scholastischem Wege zu
seiner einheitlich großen Weltanschauung kommt. Auch Jesus kam auf einem
Esel; und Spinozas Weltanschauung war in ihm, bevor er sie sich bewiesen hatte;
wie wir ja wissen, daß der Satz früher ist als das Wort, der [70/71]
Schluß früher als die Prämissen. So ist es auch gleichgültig,
daß Spinoza sich und die geometrische Methode quält, um in seinem
Deus die gewaltige Vorstellung von der Weltkette der durchgängigen
Notwendigkeit und das Menschenwort Freiheit zu vereinigen. Außer dem Deus
gäbe es nichts, es sei also nichts vorhanden, von dem er bestimmt werden könne,
also sei Deus frei; und da doch Notwendigkeit zu seinem Wesen gehöre, so
sei es eine freie Notwendigkeit. So sinnlos konnte selbst Spinoza Worte
aneinanderreihen. Es fiel
ihm noch nicht ein, eben aus solchen Gründen Gott zu
leugnen, weil nämlich Freiheit zu seinem Begriffe gehören müßte,
wenn er existierte, und weil es doch auf dem Weltenrund nichts gäbe als die
eherne Notwendigkeit. Einerlei. Wie die mathematische Methode die bis zum Extrem
getriebene Verirrung Spinozas ist, der ärgste Mißbrauch des Worts, so
ist das Mathematische seiner innern Weltanschauung bewunderungswürdig. Sub
specie aeternitatis, zeitlos also, geht die Welt aus Deus [71/72] hervor, nicht
als Schöpfung, nicht als Folge, vielmehr - so möchte ich sagen - als
Eigenschaft, wie die Gleichheit der Radien aus dem Kreisbegriff. So kann Spinoza
schreiben - hart an der Wahrheit vorbei, aber gewiß ganz aufrichtig: Auf
die Frage, ob ich von Deus eine so klare Idee habe wie von einem Dreieck,
antworte ich mit ja. Fragst du aber, ob ich von Deus ein so klares Bi1d habe,
wie von einem Dreieck, so sage ich nein." Nur daß Idee"
nicht mehr sei als Wort", wußte Spinoza nicht. Er war Platons
Ideenlehre gegenüber doch nicht Nominalist genug,
Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß in dieser Überschätzung
der Ideen zugleich Spinozas Darstellungsmangel und seine Abhängigkeit von
der höchsten Idee beruht, von seiner höchsten Idee, von seinem Deus.
Und immer wieder muß es beklagt werden, daß die stolze Gewißheit
von seiner Weltanschauung ihn an ihrer sprachlichen Form nicht zweifeln ließ.
Wer eine wahre Idee hat, der weiß auch, daß er eine [72/73]
wahre Idee habe, und kann an der Wahrheit der Sache nicht zweifeln." Nach
Spinoza offenbart das Licht sich selbst und die Finsternis, und die Wahrheit prüft
sich selbst und das Falsche. Wahre Vorstellungen sind ihm über jeden
Zweifel erhaben, denn sie seien nicht stumme Gemälde, sondern das Denken
selbst. In diesem Vertrauen auf Ideen oder Worte ist also Spinoza ganz
aufrichtig, wenn ihm der Begriff seines Deus ein Herzensbedürfnis ist, wenn
ihm von da aus alles überaus klar zu werden scheint, wenn ihm auf der
Stufenreihe der menschlichen Erkenntnis sein Deus als das Höchste und beste
Wissen, als die intuitive Erkenntnis erscheint. Er hat vergessen, daß
diese eine unmittelbare anschauliche Erkenntnis sein muß und daß er
von Gott wohl einen so klaren Begriff hat wie von einem Dreieck, nicht aber eine
solche Anschauung (imago).
In der von ihm gelehrten Stufenfolge der menschlichen
Erkenntnis, die ihn zum Deus führt, sehen wir Spinoza gewaltig um die
Wahrheit ringen. Er zwingt sie [73/74] nur nicht, weil seine Waffen Worte sind,
die Wahrheit aber ungreifbar, weil wortlos. Es ist der Kampf des Menschen mit
der Wahrheit ein Kampf des Bären mit dem Adler; das plumpe Tier kann die
Erde nicht verlassen, das Wort.
Ich glaube aber nicht, daß ich Spinozas Vorstellungen
entstelle, wenn ich seine Stufenfolge der Erkenntnis mit Worten meiner Sprache
auszudrücken suche; Spinoza wäre tot, dürfte man ihn nicht mehr übersetzen.
Die erste Stufe ist die Erkenntnis durch Worte. Diese führt
notwendig zum Irrtum. Spinoza muß dabei geahnt haben, daß diese
Abstraktionen, die er darum verworren nennt, immer nur tastend und versuchend um
die Wirklichkeitswelt herumjagen, nie aber in sie selbst eindringen.
Man hat diese erste Stufe der Erkenntnis ganz richtig dem
Standpunkte des naiven Realismus gleich gestellt, der all das und nur das für
wahr hält, was seine Sinne ihm von der Welt erzählen. Nur kann ja der
naive Realismus noch [74/75] nicht wissen. daß diese Angaben der
Zufallssinne wie die gesamte äußere Welt so auch das gesamte innere
Denken allein ermöglichen, daß dieses naive Weltbild sich auch in dem
Wortvorrat und in den Formen der Umgangssprache ausprägt. Die erste Stufe
der Erkenntnis ist die der menschlichen Gemeinsprachen. Erst durch Bildung einer
wissenschaftlichen Sprache (man sagt gewöhnlich: durch das Entstehen von
Wissenschaften) wird die nächsthöhere Stufe erreicht.
Die zweite Stufe der Erkenntnis ist die der reineren Vernunft,
welche die Dinge wesentlich unter einem gewissen Gesichtspunkt der Zeitlosigkeit
betrachtet. So möchte ich den berühmten Satz von der Spezies der
Ewigkeit wiedergeben. Denn die Welt begreifen, heißt das eherne Band ihrer
Notwendigkeit begreifen. Lückenlos ist diese ewige Kette der Notwendigkeit.
Eins folgt aus dem andern, aber nicht logisch, auch nicht in der Zeit. Zeitlos
wie die mathematischen Gesetze, zeitlos wie die Gleichheit der Radien aus dem
Kreisbegriff, so zeitlos und [75/76] darum ewig folgt das eherne Band der Welt
aus dem Substanzbegriff des Deus. Und so scheint mir erklärt, was Spinoza
unter dem Gemeinsamen verstanden habe, unter dem, was auf der zweiten Stufe der
Erkenntnis den Dingen der Welt gemeinschaftlich", was darum ewig ist.
Kirchmann und andere haben unter den Communia wieder nur Begriffe verstanden,
Kuno Fischer hat gar keine Erklärung versucht. Spinoza aber gibt deutlich
zu verstehen, daß er unter den Begriffen oder Universalien der ersten
Erkenntnisstufe diejenigen Abstraktionen sich denke, die sich der einzelne
Mensch je nach seinem Verhältnis zu den Gegenständen, nach seinem
Interesse, nach zufälligen Eindrücken mache. Die bloßen Bilder.
Der eine denke sich unter Mensch" das Geschöpf mit dem
aufrechten Gang, der andere das Tier, das lachen kann, oder das zweibeinige Tier
ohne Federn, oder das vernünftige Tier. Ebenso gehe es mit den Begriffen
oder Universalien Hund" oder Pferd". Darum führt ja
eben die erste Stufe mit ihren [76/77] Begriffen zum Irrtum; darum können
die Communia der zweiten Stufe, darum kann das Gemeinsame in den Dingen, das zur
Wahrheit führt, nicht in Begriffen bestehen oder in Worten. Und wenn ich
communia mit Gesetze" wiedergebe, wenn ich mir Spinoza so erkläre
daß die Einzeldinge und die von ihnen abgeleiteten Begriffe an der Zeit
kleben und darum vom Irrtum nicht loskommen, daß allein in den zeitlosen,
mathematischen Beziehungen der Dinge, also in ihren ewigen Gesetzen, die
Wahrheit stecke, so glaube ich einen Augenblick, über Spinoza, indem ich
ihn richtig verstehe, hinausgekommen zu sein. Doch nur einen Augenblick. Das
Wort Gesetze" ist uns nur vertrauter, weil es ein mythologischer
Begriff neuerer Prägung ist; Spinoza war weiser, da er nichts weiter
behauptete als etwas, was den Dingen gemeinsam" sei.
Der Inbegriff dessen, was auf dieser zweiten Stufe erkannt wird
als das Wesentliche, Zeitlose, Gemeinsame der Welt, ist für Spinoza das
Wirkliche, die wirkliche Natur, die natura naturata; darüber [77/78] hinaus
erkennt er auf der dritten und höchsten Stufe intuitiv im Deus die Einheit
aller Gesetze, das Bewirkende, die wirkende Natur, die natura naturans, ich
glaube bestimmt, daß Lessings Maler (in Emilia Galotti") diesen
pantheistischen Gottesbegriff wiedergeben will, wenn er von der plastischen
Natur" spricht und - ganz Lessing - zweifelnd hinzufügt: wenn es
eine gibt." (Das Wort plastische Natur" stammt von einem
englischen Platoniker, ist aber spinozistisch.)
Die dritte Stufe der Erkenntnis möchte ich freilich am
liebsten noch freier so übersetzen, daß sie den Trug der
Wissenschaften, den Trug der vermeintlich erkannten Gesetzmäßigkeit
in der natura naturata durchschaue. So gefaßt, wäre Spinozas Intuition"
der Zweifel an dem Werte der wissenschaftlichen Sprache, der Weg zur
resignierten Skepsis. Das hieße aber, über Spinozas heitere
Weltanschauung einen dunklen Schleier werfen, seinen frohen Glauben in einen
Unglauben, seine Sehnsucht in eine Negation umwandeln. Spinoza, der Fürst
des [78/79] Atheismus, der Verfasser des liber pestilentissimus, ist in seinem
Empfinden kein Skeptiker.
Spinoza zweifelt nicht an der Erkennbarkeit der natura naturans,
des Wirksamen, das freilich auch für uns nicht weniger begreiflich ist, als
die natura naturata, als das Wirkliche. Ihm ist die Welt ein Buch. Auf der
ersten Stufe buchstabiert das Kind gedankenlos; auf der zweiten Stufe faßt
es die einzelnen Sätze, auf der dritten Stufe versteht es den Sinn des
Ganzen.
So glaubt Spinoza ganz ehrlich und aufrichtig seinen Deus zu
verstehn. Und weil es ein pantheistischer Deus ist, weil er nichts anderes ist,
als die Welt selbst, und weil Spinoza Freude hat an der ehernen Weltkette, darum
liebt er seinen Deus. Denn Spinoza hat die Liebe scheinbar so nüchtern und
doch so tief erklärt als:[!] Fröhlichkeit, verbunden mit der
Vorstellung ihrer äußern Ursache. Er fühlt den Deus in der
ganzen Welt, auch in sich selbst, als Ursache der Welt, als Ursache seiner
selbst (nämlich Gottes sowohl als [79/80] Spinozas), und so liebt er ihn,
seine mystische Weltseele, er liebt ihn mit übermenschlicher Liebe, mit lächelnder
Resignation, ohne Hoffnung auf Gegenliebe, ohne Eifersucht, er liebt ihn, wie
man die einzig Geliebte lieben würde, wenn sie zeitlos und körperlos wäre,
ein Gedankenbild. Spinoza wäre nicht, der er war, der größte und
heiterste Denker, wenn er nicht bei allem Scharfsinn doch die blaue Blume
gepflegt hätte, die letzte Zuflucht des gequälten Denkens, die Mystik.
Wie wir noch sehen werden.
Diese Heiterkeit verliert, wer nicht in den mystischen Abgrund
springt, wer jede Mystik für das Asyl der Verzweiflung hält und doch
die Verzweiflung nicht fürchtet, wenn nur heiliger Zweifel zu ihr führt.
Noch einmal also: Spinoza hat in gutem Glauben an den Wert der
menschlichen Sprache den Begriff Gott" so ruhig untersucht, wie den
Begriff Substanz"; er hat in beiden etwas Wirkliches erblickt, und
sogar in beiden ein und dasselbe: das Wirksame. So ist auch sein [80/81] Deus
kein Grund, auf seine Aufrichtigkeit einen Verdacht zu werfen; wohl aber ist
sein Deus das erste und stärkste Beispiel dafür, wie sich Spinoza wohl
in seiner Weltanschauung über alle Zeiten erheben konnte, in seinem
Sprachgebrauch aber niemals sicher war, zurückzusinken in die Scholastik.
[81/82]
An dieser Stelle muß ich, wie schon einmal (Geschichte
des Atheismus" II, S. 349), ein Gerücht erwähnen, nach dem das
Wort Gott" in der ursprünglichen Fassung der Ethik"
gar nicht vorgekommen sei. Johannes Clericus (Jean le Clerc), ein niederländischer
Aufklärer von einiger Feigheit, übrigens von starker Gelehrsamkeit und
wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, hat dieses Gerücht 1724 gebucht,
nach der Erzählung eines glaubwürdigen" Mannes. Spinoza
habe sein Werk in holländischer Sprache verfaßt und es von dem Arzte
Lodewyk Meyer ins Lateinische übersetzen lassen; das Wort Gott sei in dem
Buche nicht vorgekommen, nur das Wort Natur. Der Arzt habe die Gefahr erkannt
und Spinoza habe eingewilligt, das verfälschte Wort Deus einzufügen.
Die Frage, ob Spanisch oder Holländisch die Mutter-[82/83]sprache Spinozas
gewesen sei, ob er sein Lebenswerk wirklich zuerst holländisch abgefaßt
habe, mag dahingestellt bleiben.*) Die andere Frage, ob es in den vielen Jahren,
in denen Spinoza an der Ethik" arbeitete, irgendeine Zeit gegeben
habe, zu der der Philosoph vielleicht den Namen Gottes zu seiner Beweisführung
gar nicht bemühte, wäre sorgfältig zu erwägen, wäre
aber wahrscheinlich am Ende doch mit einem Nein zu beantworten. Die Behauptung
jedoch, die letzte Fassung der Ethik, die uns in einer Übersetzung
vorliege, habe an keiner Stelle das Wort Deus enthalten, ist ganz unhaltbar, ist
unmöglich. Schon wegen der erwähnten ängstlichen Klage Oldenburgs
über Deus sive natura. Allerdings wäre den Freunden, die die Ethik mit
den übrigen nachgelassenen Schriften nach dem Tode des Meisters
herausgaben, die eine oder die andere leichte Änderung
*) Den Nachweis, daß und wie die Ethik" aus der
lateinischen Fassung von den ersten Anhängern langsam ins Holländische
übersetzt worden ist, hat Carl Gebhardt überzeugend geführt in
seinen Inedita Spinozana.
[83/84]
zuzutrauen, nach ihren Charakteren und nach den literarischen
Ehrbegriffen der Zeit; dachten sie doch daran, die Handschrift der Ethik an
Leibniz zu verkaufen, und fälschten sie doch in dem Vorworte die letzte
Absicht des Philosophen. Doch entscheidend scheint mir die Tatsache, daß
es einfach nicht wahr ist: man könne überall natura lesen, wo in der
Ethik Deus steht oder Deus sive natura. Im ersten Buche geht es schon nicht an;
und gar im fünften Buche, mit seiner tiefen und echten spinozistischen
Mystik, wäre es grotesk, an die Stelle von Gottesliebe regelmäßig
Naturliebe zu setzen. Und noch auf einen Umstand muß hingewiesen werden.
Bekanntlich finden sich schon in dem theologisch-politischen Traktat, der mitten
während der Arbeit an der Ethik entstand, Züge aus dem Systeme der
Ethik. Den Traktat hat Spinoza selbst zum Drucke befördert. Da aber,
besonders in dem tapferen Kapitel von den Wundern, wird der Gottesbegriff dem
Ursachbegriff geradezu gegenübergestellt und fast übermütig der
logische [84/85] Beweis dafür geliefert, daß das Dasein Gottes eher
aus der unveränderlichen Ordnung der Natur sich erkennen lasse als aus den
sogenannten Wundern. Ich glaube daraus den Schluß ziehen zu dürfen,
daß Spinoza schon 1670, also schon sieben Jahre vor seinem frühen
Tode die Gewohnheit hatte, die Begriffe Gott und Natur zu verbinden, was ja
nicht ausschließt, daß er den Unterschied zwischen beiden Begriffen
in einer Stimmung dessen erblickte, der die Wörter gebrauchte. Ich meine
also, daß wir uns um das Gerücht gar nicht zu bekümmern
brauchen, das le Clerc möglicherweise vielleicht doch nur darum mitgeteilt
hat, weil er - wie alle skeptischen Deisten und alle ängstlichen
Kartesianer - möglichst weit von dem des Atheismus schwer verdächtigen
Spinoza abrücken wollte. [85/86]
Weil die Menschlichkeit" von Spinozas Hauptwerk
gerade in der ganz unmöglichen geometrischen Methode liegt, also in der
Darstellung oder der Sprache, darum scheint es mir nötig zu sagen, was
diesen außerordentlichen Mann zu einem so verhängnisvollen Fehler
verführte. Es waren zwei Irrtümer, die aber eigentlich ein einziger
Irrtum sind, er überschätzte, den Wert der mathematischen Methode und
den Wert der Logik. Da und dort besteht das Menschliche darin, daß er
glaubte - wie eben alle vorsprachkritische Welt glaubt -: das Denken durch
Erinnerungszeichen führe über die unmittelbare Anschauung hinaus. Er
war in diesem Glauben nur konsequenter als alle Welt.
Die Überschätzung der geometrischen Methode war zu
Spinozas Zeit ganz natürlich. Wird doch die alte Euklidische [86/87]
Geometrie heute noch fast unverändert lauf allen Schulen gelehrt und für
das Muster von sicherem und elegantem Beweisen, von einem zuverlässigen,
fortschreitenden, systematischen Denken gehalten. Schopenhauers Darlegung, daß
diese Art von Geometrie unser Wissen nicht bereichere, ist so gut wie vergessen.
Oder sie wird, wie geistreich von A. Pringsheim, in ihrer antimathematischen
Tendenz bekämpft, nicht in ihrer erkenntnistheoretischen Weisheit.
Schopenhauer ging freilich von den Subtilitäten aus, mit denen Kant der
Wirklichkeitswelt alle Raumbegriffe absprach und für Formen der reinen
Vernunft erklärte; aber Kant beiseite hatte Schopenhauer recht. Die
vielbewunderte Methode des Euklides nämlich und seiner tausend Nachahmer,
von einigen einfachen Sätzen auszugehen und aus ihnen die verwickelteren zu
beweisen, diese Methode ist sehr schön für Lehrer und Schüler;
strengste Wissenschaft ist sie nicht. Gerade die einfachsten Axiome brauchen zu
ihrem Begreifen die schwierigsten Be-[87/88]griffe und werden darum seit etwa
hundert Jahren auch bestritten, sind also keine Axiome mehr. Nur daß die
niedere Schule von den Arbeiten der Gauß, Bolyai, Lobatschewskij, Riemann
immer noch nichts weiß. In den Beziehungen der Raumgrößen gibt
es kein Nacheinander. Jeder Satz läßt sich insofern umkehren, als in
diesen Beziehungen Ursache und Folge immer wechselseitig vertauscht werden können.
Setzt man im Dreieck die Gleichheit der Winkel, so folgt die Gleichheit der
Seiten; aber ebenso wird die Gleichheit der Winkel zur Folge, wenn man die
Seiten gleichgesetzt hat. So ist das Lehrgebäude der Geometrie durchaus
nicht das Muster fortschreitenden Denkens. Euklides mußte allerdings mit
irgendeiner Anschauung beginnen; er hätte aber ebensogut, oder vielleicht
besser, mit der Anschauung vom Würfel oder von der Kreisfläche
beginnen und seine ganze Geometrie von da aus erschließen können.
Ebenso hätte Spinoza mit seinen gewaltigen Anschauungen von der
not-[88/89]wendigen Verkettung alles Geschehens, anheben müssen, anstatt
mit den weitesten, leersten und umstrittensten Axiomen von der Substanz, der
Ursache, dem Sein und dergleichen, wenn er nicht die Euklidische Geometrie irrtümlich
für das Muster eines wissenschaftlichen Gebäudes gehalten hätte.
In ähnlicher Weise unterliegt heute Albert Einstein, der außerordentliche
Mathematiker, den seine Gefolgschaft zu einem Philosophen machen will, dem
Irrtum, auf die andre, die nichteuklidische Mathematik ein neues Gebäude
der Naturbeschreibung aufbauen und die klassische Mechanik" der
Galilei und Newton stürzen zu können.*) Einsteins über-
*)Ich kann nicht anders, ich muß den ernsten und schweren
Gedankengang mit einer leichten und für mich lustigen Bemerkung
unterbrechen. Mit einer kleinen Wortgeschichte. Das arme Wörtchen klassisch"
hat schon vorher einen wunderlichen Bedeutungswandel durchgemacht. Im Sinne von
erstklassig", d. h. der ersten Steuerklasse also Wertschätzung
entsprechend, wurde es freilich schon gelegentlich von Spätlateinern
gebraucht; wenn aber im Mittelalter von klassischen" Schriftstellern
die Rede war, so wirkte ganz gewiß schon die Vorstellung mit, daß
solche Meister in der Schul-[89/90]
aus scharfsinnige analytische Formeln lassen sich weder in die
gemeine noch in die wissenschaftliche Menschensprache übersetzen (Zahlen
und mathematische Zeichen sind keine Begriffe) und sind schon darum - wie selbst
von Einsteins Jüngern oft bedauert worden ist - unvorstellbar. Abgesehen
davon, daß - wie Ernst Marcus gezeigt hat - Einsteins neue
Raum-Zeit-Gleichungen die alten wohlbekannten, d. h. unbekannten, Begriffe
von Raum und Zeit voraussetzen, daß die nichteuklidische Geometrie nicht
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 89]klasse als Vorbilder
eines mustergültigen oder klassischen" Latein zu gelten hatten.
Die Verwendung der Bezeichnung für griechische Dichter und Philosophen
wurde erst üblich, da die Renaissance die griechische Kultur als das
Vorbild der römischen kennen und begreifen gelernt hatte. Und gar die
Bezeichnung klassisch" für italienische, französische,
englische und deutsche Dichter oder Künstler konnte erst aufkommen, nachdem
je und je die Wortkünstler der neuen Nationalsprachen das gleiche Ansehen
verlangten und durchsetzten, dessen sich die römischen Vorbilder nach wie
vor in den Schulen erfreuten. Es kam endlich so weit, daß man bei klassisch"
in Frankreich zunächst an Corneille und Racine dachte, später in
Deutschland an Goethe und Schiller (Klassiker-Ausgaben, Klassiker-Format), und
daß man gezwungen war, zur Unterscheidung die Beschäftigung mit den
griechischen und römischen Schriftstellern altklassisch" zu
nennen. [90/91]
ohne die Anschauungen der euklidischen möglich ist, die
revolutionäre Gleichsetzung von Gravitation und Trägheit nicht ohne
die Definitionen, die Newton und Galilei klassisch" von Gravitation
und Trägheit aufgestellt haben. Einsteins Lehre bedeutet bestenfalls eine
noch genauere Annäherung an die Wahrheit, nicht eine neue Wahrheit. Newtons
System ist nicht falsch geworden.
Der zweite Irrtum Spinozas bestand darin, daß er, wie die
Methode der Geometrie, so die Logik überhaupt über-
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 90] Das hätte sich
kein römischer Marineminister träumen lassen, daß classicus"
dereinst bei den barbarischen Briten, Franken und Alemannen, sogar bei den neuen
Römern etwa so viel heißen würde wie: meisterlich, unübertrefflich,
nach Inhalt und Form vollkommen. Ein Schreiber-Ausdruck, der auf Kunst und
Wissenschaft angewandt wird. Wir hatten Bibliotheken klassischer Dichter,
Sammlungen klassischer Maler, neuerdings auch Klassiker der Philosophie und der
Naturwissenschaft. Immer bezeichnete klassisch" das höchste Lob.
Hat noch niemand bemerkt, daß das nun anders geworden ist? Und nicht erst
seit heute oder gestern. Schon im 18. Jahrhunderte tobte der Kampf um die Neuen
und um die Alten. Racine hatte ebenso klassisch sein sollen wie Seneca, oder
noch klassischer. Um das Ende des Jahrhunderts kam dann der eitle Mercier und
schlug die neuen französischen Klassiker tot, den argen Voltaire [91/92]
schätzte, - d. h. das Denken oder die Sprache. Es folgt nämlich
ganz anschaulich aus dem sprachkritischen Gedanken, daß die geometrische
Methode - so wenig wahrhaft analytisch, so schülermäßig sie auch
ist - doch auch nicht entfernt von andern Wissenschaften erreicht werden kann,
die als Werkzeug der Mitteilung die Sprache allein besitzen. Wohl sind die
Beweise des Euklides wieder nur Mausefallenbeweise, bei denen der Menschengeist
am Ende die Maus hervorzieht, die er vorher hineingetan hat.
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 91] gleich mit. In
Deutschland dauerte es bedeutend länger. bevor der Naturalismus (auch
Mercier und seine Freunde waren Naturalisten) die Klassiker von Weimar
totschlug. Die Werturteile waren ins Wanken gekommen. Was die geistlosesten
Banausen gegenüber 'manchen Klassikern ihres Volkes immer empfunden hatten,
daß nämlich diese Dichter veraltet waren, langweilig, Ladenhüter,
pedantische Schulbücher (die Philister ahnten nicht, daß die Klassiker"
etymologisch wirklich Schulklassenbücher waren), das lehrten jetzt die
lautesten Revolutionäre der Literatur als eine neue Wahrheit. Schillerchen"
konnte man vor dreißig Jahren in Berlin hören. Und jetzt nennen
Einstein und seine Anhänger die Lebensleistung von Galilei und Newton,
heuchlerisch den Hut in der Hand, die klassische" Mechanik; aber ein
verächtlicher Unterton ist hörbar: die veraltete, die abgetane
Mechanik. Klassisch" ist auf die Bedeutung von veraltet"
hinunter gekommen.
[92/93]
Sie bereichern das lebendige Wissen nicht, aber sie haben doch
Beweiskraft von Fall zu Fall. Diese Beweiskraft der Geometrie nun rührt
immer eigentlich von der beigegebenen Zeichnung her, die sich zu ihrer
mathematischen Erklärung jedesmal verhält wie die Wirklichkeitswelt zu
ihrer unmittelbaren Anschauung. Da ist Irrtum ausgeschlossen. Ein Philosoph
also, der ohne Überschätzung der Worte die geometrische Methode
nachahmen wollte, dürfte sich gerade niemals von der Wirklichkeitswelt
entfernen und müßte bei naturwissenschaftlichen Erscheinungen stehen
bleiben. Und hätte Spinoza sogar anstatt des Euklides und seiner Geometrie
sich die Analyse des Descartes zum Muster nehmen können, die gerade damals
ohne Wirklichkeitswelt und ohne Zeichnung zu rechnen anfing, so hätte er
doch selbst diese abstraktere Sprache der Mathematik mit der allgemeinen Sprache
niemals erreichen können, weil die mathematischen Zeichen eben das
besitzen, was menschlichen Worten immer fehlt -: die vor-[93/94]herige
Verabredung, die strenge Geltung für jeden einzelnen Fall und die Meßbarkeit
ihrer Verhältnisse. Und auch die Analyse hätte überdies zur Erklärung
der Wirklichkeitswelt eine schlechte Methode gewiesen, Aus rein
Analytischem kann nur wieder Analytischem, es darf daraus nichts spezifisch
Geometrisches gefolgert werden." (A. Riehl.)
Ich glaube also abermals gezeigt zu haben, daß der in
seiner Weltanschauung freiste aller Denker in seiner Darstellungsform gebundener
als die andern war. Wieder aber wäre es gefehlt, ihn um dieser Unfreiheit
willen tadeln zu wollen. Es gehört untilgbar mit zu dem Charakterbilde
dieses einzigen Mannes, daß er bis ans Ende ging, wo er irrte, wie er bis
ans Ende ging, wo er die Wahrheit sah. Alle Denker haben das Denken oder die
Sprache überschätzt; alle hätten gleich ihm dieses Werkzeug nun
im Sinne der Überschätzung mathematisch gebrauchen müssen, wenn
sie konsequent gewesen wären wie Spinoza, wenn sie, ehrlich wie er, unerschütterlich
an ihren [94/95] Glauben geglaubt hätten, wenn sie nicht heimlich ein
schlechtes Gewissen gehabt hätten beim Gebrauch ihrer Sprache. Spinoza
allein hatte kein schlechtes Gewissen; er war so groß, daß er
gewissenlos sein durfte, d. h. unbeirrt von Vorurteilen. So wurde der ärgste
Ketzer unbeirrt zum Dogmatiker. Nicht einmal der Umstand beirrte ihn, daß
er selbst, und lange vor der Abfassung seiner Ethik, die geometrische Methode
angewandt hatte auf eine Darstellung der Lehren des Descartes, der doch damals
von ihm. innerlich schon überwunden war. Man muß fragen, und man hat
gefragt, wie ein solcher Mann Sätze, die ihm überwunden schienen, mit
dieser untrüglichen Methode habe beweisen können? Man hat sogar
gesagt, es liege darin eine Art Humbug. Man hat dabei vergessen, daß
Spinoza den Zweifel des Descartes eben nicht kannte oder vielmehr sehr fein von
dem grundsätzlichen Zweifel der Skeptiker unterschied. Man hat aber
vielleicht noch eine Kleinigkeit übersehen, auf die ich aufmerksam machen möchte.
[95/96] Seine Ethik will Spinoza, wie das Titelblatt verspricht, nach
geometrischer Methode (ordine geometrico) beweisen; auf dem Titelblatt der
Grundsätze kartesianischer Philosophie verspricht er nur, sie auf
geometrische Art und Weise (more geometrico) zu beweisen. Der Unterschied ist
unabsichtlich, aber er ist vielleicht der von Ernst und Spiel; an der Wahrheit
der Ausgangssätze des Descartes, dieser kartesianischen Teufelchen, konnte
Spinoza zweifeln, an der mathematischen Kraft des sprachlichen Denkens zweifelte
er nicht.
Und vielleicht läßt sich der Tiefsinn Spinozas
dadurch retten, auch in seinem schweren Irrtum, daß man diesem übermenschlichen
Denker einen fast übermenschlichen Gedanken zutraut, wie denn bewußte
Bescheidenheit lehrt, alles für des Lehrers Gedanken zu halten, was im Schüler
durch des Lehrers Worte angeregt worden ist.
Spinoza hat zu dem ersten Teil seiner Ethik, zu der Lehre von
Gott, einen Anhang geschrieben, eine Erklärung, die [96/97] ebenso
bewunderungswürdig ist, wie der Text selbst verschult und angreifbar. In
dieser überzeugenden Anmerkung will er wie immer die um Menschenschicksal
unbekümmerte eiserne Kette der Notwendigkeit darstellen und den Glauben an
Zweckursachen und damit jede Form theologischen, ethischen, ja selbst ästhetischen
Aberglaubens mit der Wurzel ausreißen. Niemand ist bis zu dieser Stunde über
den Geist dieser Anmerkung hinausgelangt. Alle Revolution aller Wissenschaften
im 19. Jahrhundert ließe sich herleiten von diesen Sätzen: Nachdem
die Menschen sich eingeredet hatten, die Welt und der Welt Lauf sei ihretwegen
da, mußten sie an jedem Dinge dasjenige für das Wichtigste und
Wertvollste halten, was ihnen am nützlichsten und angenehmsten war. Daher
mußten sie sich diejenigen Begriffe bilden, mit deren Hilfe die Welt zu
erklären wäre, die Begriffe: das Gute, das Schlechte, die Ordnung, die
Unordnung, das Warme, das Kalte, die Schönheit, die Häßlichkeit.
Und weil sie sich für frei [97/98] hielten, entstanden die Begriffe: Lob
und Tadel, Sünde und Verdienst." Man horche wohl darauf, wie Spinoza
hier mit einem großen Atemzuge nicht nur die Grundlage der Kirche, die
Lehre von der Zurechnung, umbläst, sondern zugleich die Ausgangsbegriffe
der Ethik, der Empfindungslehre, insbesondere der Ästhetik, wobei es noch
gar nicht ausgemacht ist, was alles noch mehr durch Abstreifen der Begriffe Ordnung
und Unordnung" in seinen Grundlagen erschüttert sein mag. In diesem
selben Zusammenhang hat Spinoza das stolze, in seiner Ruhe Alles niederbeugende
Wort gesprochen: Das Fragen nach Absichten in der Natur, d. h. nach
Zweckursachen und den Ursachen der Ursachen, müsse schließlich immer
zurückflüchten zu einem Willen Gottes, diesem Asyl der Unwissenheit
(ad ignorantiae asylum)", wobei zu beachten ist, daß Spinoza hier
unter Ignoranz fast ohne Bosheit die Tatsache des Nichtwissens versteht.
In diesem selben Zusammenhange klagt nun Spinoza, der Glaube an
Zweck-[98/99]ursachen (und an das, was drum und dran hängt) hätte für
sich allein hingereicht, der Menschheit die wahre Einsicht für immer zu
verschließen; da habe glücklicherweise die Mathematik, welche sich
nicht um Zweckursachen, sondern um das Wesen und die Eigenschaften der
Raumgestaltung kümmert, den Menschen eine andere Norm der Wahrheit gezeigt.
Hier nun scheint mir die fast übermenschliche Anschauung für
einen Augenblick entschleiert zu werden, die den Spinoza unbewußt zu
seinem mathematischen Denken führte. Tief im menschlichen Wesen begründet,
in dem Schein seiner Willensfreiheit nämlich, ist seine Sehnsucht nach
einer Absicht in der Natur, nach einem Gott. So grausam, ein solcher Moloch ist
diese Täuschung in uns, daß auch Darwin sie nicht völlig überwunden
hat. Ja, ich scheue mich nicht es auszusprechen: dieser Glaube, diese Sehnsucht
an eine Absicht in der Natur ist in uns unzerstörbar, die Absicht in der
Natur ist in den Menschen eine ange-[99/100]borene Idee, was ich deshalb ruhig
sagen kann, weil ich dazu behaupte, daß Ideen oder Begriffe darum nicht
wahr sein müssen, weil sie angeboren sind. Angeborene, d. h. ererbte Ideen
sind falsch, wie jemand eine Truhe mit falschem Gelde erben kann, oder einst
vollwertiges Geld erben, das inzwischen entwertet worden ist.
Niemand hat wie Spinoza diese angeborene" Idee bekämpft,
und wenn er in diesem Kampfe nach der mathematischen Methode griff, so hatte er
dabei vielleicht den folgenden Gedankengang: In der ganzen Mathematik gibt es
sicherlich keine Zweckursache. Hätte Spinoza seinen Scharfsinn an die
Erkenntnistheorie gewandt, er hätte aus der Umkehrbarkeit aller solchen
mathematischen Sätze die Ahnung schöpfen müssen, daß auch
der Begriff Ursache, logische Ursache, für solche Wechselbeziehungen ein
sinnleeres Wort sei. Ihm aber war es in genialer Einseitigkeit bloß um die
Vernichtung der Zweckursachen zu tun. Da konnte er den Gedanken fassen, daß
[100/101] Zweckursachen - wenn sie schon in umkehrbaren mathematischen Sätzen
ausgeschlossen sind - noch sinnloser sein müssen in der Ursächlichkeit
des Wirklichen, weil diese Ursächlichkeit sich in der Zeit vollzieht und
sich daher nicht umkehren läßt. Auch wo wir die Zeitfolge nicht
wahrnehmen, in der Wirklichkeitswelt, nehmen wir sie doch unbedingt an. Wenn wir
den Hahn am Gewehr berühren und im selben Augenblick der Schuß
kracht, so wissen" wir dennoch, daß nacheinander, in der
Zeitfolge also, die schnappende Eisenspitze das Zündhütchen getroffen,
der Funke das Pulver entflammt und das Pulvergas die Kugel herausgetrieben hat.
Ist nun in der umkehrbaren Beziehungsfolge der Raumverhältnisse der
Zweckbegriff nicht unterzubringen, um wieviel weniger in der Zeitfolge der
Wirklichkeitswelt, wo doch unentwurzelbar die Ursache der Vergangenheit angehört,
der Zweck aber etwas Zukünftiges sein müßte. Dieses konnte nach
Spinoza die mathematische Methode lehren. Aber vielleicht noch mehr. [101/102]
Die mathematischen Gesetze sind ewige Gesetze, weil sie zeitlos
sind. Spinoza liebt den Gedanken, daß auch die Gesetze der
Wirklichkeitswelt ewig seien, daß man jede Einzelerscheinung unter dem
Gesichtspunkte der Zeitlosigkeit betrachten müsse. Wie nun, wenn auch die
Wirklichkeitswelt, das Wirken aller Körper aufeinander in tiefstem Grunde
zeitlos wäre? Umkehrbar wie die Geometrie und darum zeitlos? Wie wenn die
Geometrie durch diesen Gedanken die arme Menschheit von dem Wahnsinn der
Zweckursachen befreien könnte?
So mag Spinoza Unsagbares geahnt haben. Aber er vergaß
dabei - wie ich es eben vergessen mußte - daß die Worte der
menschlichen Sprache Zeitloses nicht ausdrücken können, daß
unsere Worte Zeichen sind, Erinnerungszeichen unserer Empfindungen, immer nur
Erinnerungszeichen für das, was uns erscheint, daß also keine
menschliche Sprache sich losreißen kann von dem Widerhaken der Zeitfolge
und der Ur-[102/103]sache, mit dem die Wirklichkeitswelt unser Gehirn hinter
sich herreißt. Und der Begriff der Ursache ist zuletzt nicht wirklicher
als der Begriff der Zweckursache; nur daß wir es nicht sagen können,
weil wir die Umkehrbarkeit der sogenannten Zeitfolge nicht fassen können.
Kaum die dunkle Ahnung kann ich hinzufügen: daß die
Absichten in unserm sogenannten Selbstbewußtsein - die wir so gern auf die
Natur übertragen, und die in uns den Schein der Willensfreiheit erzeugen -
sich vielleicht doch als zeitlos erkennen lassen, wenn wir sie als gedachte
Zwecke erkennen, also als dasselbe, was auch die andern Vorstellungen sind. Wenn
wir begreifen, daß der Ablauf unseres ganzen Lebens nur ein Auf und Ab auf
den ausgefahrenen Gleisen unserer Nerven ist, daß unsere Vorstellungen wie
unsere Willensbewegungen nur einander aufhebende Nervenzuckungen in umgekehrter
und vielleicht umkehrbarer Richtung sind, daß - wie schon Spinoza gelehrt
hat - Wille und Vorstellung eins ist, dann werden wir [103/104] wohl den
Gedanken, mit lächelnder Trauer ihn umarmend, festhalten können: Wie
unsere eigenen Absichten doch nur Erinnerungen sind, unsere künftigen
Zwecke also etwas Vergangenes, so ist unser Leben zeitlos, zeitlos die
Wirklichkeitswelt.
Und so steht hinter dem großen Irrtum Spinozas, seine
Sprache einer mathematischen Anwendung fähig zu halten, eine noch größere
Ahnung dessen, was wir in unserer bettlerfrechen Sprache Wahrheit nennen.
[104/105]
Spinoza wurde so durch seine Theorie der Erkenntnis, weil
der letzte Zweifel fehlte, weil er die mathematischen Wahrheiten (wie ja auch
noch Kant) für belehrende, synthetisch belehrende Kenntnisse nahm und weil
er an der Existenz der höchsten Essentien oder Begriffshülsen
festhielt, - Spinoza wurde so zu der unfruchtbaren Darstellung seiner Lehre
verlockt. Aber den unerhört tiefen Blick in das eiserne Räderwerk der
Natur zu tun, hinderte ihn keine Theorie; und in den genialsten Aperçus
hat er der Folgezeit den Weg gewiesen. Sogar über seinen unerkennbaren Gott
sagt er einmal (und verrät damit ahnungsvoll eine köstliche Verachtung
der Sprache): es wundre ihn nicht, daß man dem Deus gern menschliche
Eigenschaften andichte; denn ich glaube, daß ein Dreieck, wenn es
sprechen könnte, [105/106] ebenso sagen würde, Gott sei hervorragend
dreieckig, daß ein Kreis sagen würde, Gott sei hervorragend rund"
(56., nach früherer Zählung 60. Brief).
Dieser Ausspruch mit seinem übermütigen hervorragend
dreieckig" (Deum eminenter triangularem esse) ist weder von Kant noch auch
von Feuerbach überboten worden; er ist nur zu begreifen, wenn wir annehmen,
Spinoza habe den unscheinbaren Zwischensatz wenn das Dreieck sprechen könnte"
in seiner ganzen Ironie gefaßt. Wir Menschen sind Dreiecke, die sprechen können;
Naturwesen, die so wenig imstande sind, ihre Notwendigkeit anders als durch
Worte zu begreifen, daß wir dieser Notwendigkeit selbst
menschensprachliche, also menschliche Eigenschaften andichten.
Zur klaren Schärfe ist Spinoza in der Frage der Sprache
leider nicht gelangt. Es ist vorhin gesagt worden, daß er drei Stufen der
Erkenntnis unterschied, daß nach ihm die erste Stufe, die der Begriffe
oder Universalien, zum Irrtum führte, die [106/107] zweite aber erst zu
einer Art Wahrheit; ich habe das Gemeinsame" dieser zweiten Stufe in
den Gesetzen der Natur zu finden geglaubt, aber Spinoza - der unter den
Rabbinern ebenso eifrig Naturwissenschaften trieb, wie Descartes unter den
Jesuiten - vermeidet das Wort, und läßt die Möglichkeit offen,
auch bei der zweiten Stufe an Begriffe, an seine unerklärten adäquaten
Begriff e zu denken. Mir aber scheint es gewiß, daß seine ganze
Darstellung zu dem Schlusse führen muß und auch ihn selbst führen
mußte, die von der Wirklichkeitswelt abstrahierten Begriffe sind es, unser
Denken also ist es, was uns verwirrt, was uns irreführt, was unsere
Vorstellungen fälscht. Unsere Irrtümer kommen von den Worten her, wenn
wir uns nicht außerordentlich vor ihnen in acht nehmen,"
Für diese Stellung Spinozas und dafür, daß ich
mich auf ihn bei meinen sprachkritischen Nachforschungen als einen Eideshelfer
berufen kann, finde ich einen Beweis in der Art, wie er zuver-[107/108]lässig
den Sprachgebrauch der Scholastiker verläßt oder gar verächtlich
fortschiebt, wo seine Weltanschauung klar und fest ist. Wofür das größte
Beispiel seine Leugnung der Willensfreiheit ist, eben sein sieghafter Gedanke
von der Lückenlosigkeit der Kausalität, ich möchte fast sagen,
von der Undurchdringlichkeit der notwendigen Kette der Natur. Schopenhauer hat
200 Jahre später ein geistreicheres Buch über die Unfreiheit des
Willens geschrieben; der Beweis ist bei Schopenhauer ebenso scholastisch, weil
von der Apriorität des Kausalitätsbegriffs ausgegangen, also
eigentlich gar nichts bewiesen wird; und in der Kritik des Willenbegriffs
selbst, also des Wortes Wille", bleibt Spinoza unerreicht.
Ihm ist es gewiß, daß unsere Begriffe nur verworrene
Bilder der Wirklichkeitswelt sind; die verworrensten sind natürlich die
allgemeinsten, abstraktesten Begriffe, und wenn er also die berühmten
Universalien (Begriffe) schon als für die Erkenntnis unbrauchbar
denunziert, so [108/109] kann er mit den transzendentalen Kunstausdrücken
(termini transcendentales dicti) noch weniger anfangen. Als Beispiele solcher
transzendentalen Kunstausdrücke, d. h. solcher Worte, welche über die
Erfahrung hinausgehen oder vielmehr den Zusammenhang mit der Anschauung verloren
haben, als Beispiele nennt er zunächst nur drei: Wesen, Ding, Etwas (Ens,
res, aliquid). Aber er läßt keinen Zweifel darüber, daß
ihm auch andere höchst abstrakte Worte zu der Gattung solcher unnützen
Lufterschütterungen gehören. In der Seele gibt es keinen unabhängigen
oder freien Willen sagt er an der Spitze des Paragraphen; er beweist es logisch,
also schlecht; dann aber fügt er hinzu, ebenso könne man beweisen
(ebenso behauptete er also), daß es in der Seele keine unabhängige Fähigkeit
des Denkens, des Begehrens, des Liebens usw. gebe. Also seien alle diese
Begriffe Einbildungen oder bloße Worte, so sehr, daß ein Verstand"
oder ein Wille" sich zu unsern wirklichen einzelnen
Vorstel-[109/110]lungen oder einzelnen Willensakten verhalten, wie der Begriff
der Steinität" (Lapideitas) zu einzelnen Steinen, der Begriff Mensch"
zu Peter und Paul.
Die Bedeutsamkeit dieser Stelle leuchtet ein. Spinoza erhob sich
da über seine eigene Sprache und vermochte so, indem er überhaupt die
Existenz eines Willens" beiseite schob, die Unfreiheit der
menschlichen Willensakte fester anzuschauen, als 200 Jahre später sein
Kritiker Schopenhauer - wie Spinoza auch durch die Auflösung des Begriffs
der Vollkommenheit, also durch Streichung dieses Wortes, Kants spätere
Kritik der Beweise für das Dasein Gottes überflüssig machte, wie
er von Rechts wegen auch der Existenz der 2000 Jahre alten Ideen"
Platons für jeden Philosophen hätte ein Ende gemacht haben müssen.
Er war der einzige Denker, der Ernst machte mit dem Begriff der Notwendigkeit;
und wenn es bei den Alten eine Unklarheit war, daß sie ihre Götter
unter eine über ihnen stehende Ananke, unter das Fatum beugten, wenn es bei
Schiller und seinen Mit-[110/111]strebenden ein Spiel des Geistes war, sobald
sie von einem allherrschenden Schicksal (über Göttern und Menschen)
sprachen, so war Spinozas Deus wirklich unfrei, wie er verstandlos war, weil
dieser Deus oder Natura ernsthaft und wirklich ohne Zwecke gedacht wurde. Der
Begriff des Zweckes widerspricht schnurstracks dem ernst genommenen Begriff der
Notwendigkeit oder Kausalität. So gehört bei Spinoza der Zweck",
der Wille", der Verstand" so gut wie Wesen , Ding"
zu den Transzendentalen", zu den Hülsen ohne Inhalt, zu den bloßen
Worten, die unfruchtbar sind für die menschliche Erkenntnis.
Spinoza war in diesen Einsichten doch nicht ganz konsequent. Er
konnte seinem System zuliebe ganz zuversichtlich von denselben transzendentalen
Worten darauf losreden, konnte von den Attributen seines Deus erzählen, als
ob er mit ihm und ihnen einen Scheffel Salz gegessen hätte, dann aber
konnte er wieder zu verstehen geben, daß die Attribute der obersten
Substanz nur in unsrem Denken (d. h. für [111/112] uns in der Sprache) zu
finden seien und in dem 9. (nach früherer Zählung 27.) Briefe an einen
strebsamen, treuen, jungen Verehrer konnte er gar lachend (es ist gewiß
etwas Scherz mit dabei) die Erklärung beifügen: man könnte sich
ganz gut eine Substanz unter zwei Bezeichnungen oder Namen (d. h. Worten)
denken, wie ja auch der dritte Patriarch sowohl Jakob als Israel geheißen
habe. Worte, Worte, Worte sind ihm die verehrungswürdigsten Begriffe, und
einmal erkennt er sogar Verstand und Wille für zwei Worte, die nur ein und
dasselbe besagen; Verstand und Wille sind Jakob und Israel. Insbesondere der
Wille (voluntas) ist nichts und nicht mehr als die einzelnen Willensakte
(volitiones).
So löst Spinoza allein die Frage nach der Willensfreiheit,
indem er die Worte ihres Sinnes entkleidet. Wie das Dreieck, wenn es sprechen könnte,
sich seinen Gott hervorragend dreieckig. höchst dreieckig denken müßte,
so würde der geworfene Stein, wenn er denken könnte, [112/113] von
seinem
Entschlusse, seiner Freiheit, durch die Luft zu fliegen,
sprechen.
Überall da, wo
sein System ihn nicht scholastisch machte, verzichtete Spinoza
auf den Gebrauch von transzendentalen Begriffen. Ihm waren die handelnden
Menschen dem Schein der Freiheit unterworfen, wie der geworfene Stein; und wie
dem Scheine der Willensfreiheit, so dem Scheine aller andern Ideen oder ideale.
Denn das darf nicht verschwiegen werden, daß der Selbstdenker Spinoza die
Platonischen Ideen, die unser Ideal geworden sind - wie wir schon bei den
Begriffen gut" und schön" gesehen haben - nicht
anerkannte.
Denn hinter ihm im wesenlosen Scheine lag, was uns alle bändigt,
- das Ideal". Er hat sein Hauptwerk nach dem Beispiel seines Vorgängers
Geulinx (nachträglich) Ethik genannt, canis a non canendo. In seiner
undurchbrechlichen Kette der Notwendigkeit hat das Sollen" so wenig
Platz wie das Wollen". Er stellt keine Ideale auf; ganz anders als
bei Hegel ist alles vollkommen, was ist; [113/114] es ist vollkommen, weil es
nicht anders sein kann, als es ist. So kennt Spinoza auch in seiner Staatslehre
keine knechtenden Worte; er glaubt nicht an einen Idealstaat (wie vor ihm
Hobbes), nicht an einen Idealmenschen (wie nach ihm Rousseau); und die mächtigen
Utopisten der Gegenwart, die Kommunisten, können sich darum nicht auf
Spinoza berufen.
Seine Ethik predigt keine Moral. Außer sich findet der
Mensch dieselbe Notwendigkeit wie in seinem Innern. Nur Freudigkeit erzeugt die
Erkenntnis von Deus oder der Natur, nicht das Bewußtsein eines äußeren
Gebots. Und in sich selbst findet Spinoza nicht, was man ein Gewissen genannt
hat; er kennt es nicht. Mit einer Überlegenheit, für deren volles
Verständnis wir vielleicht heute noch nicht ganz reif sind, geht er in dem
ruhigen Abschnitt von den Leidenschaften" über das Gewissen
hinweg. Alles führt er auf Schmerz und Freude, also auf unsere Natur zurück.
Gegenwart und Zukunft werden eins vor seinem Blick. Freudiges [114/115] erwarten
heißt hoffen, Trauriges erwarten heißt fürchten. Ein Gaudium
ist es, wenn das erwartete Traurige nicht eingetroffen ist, wenn die Furcht
unbegründet war; wenn aber die Hoffnung unbegründet war, wenn
wir uns blamiert haben", so empfinden wir - Gewissensbisse.
Wer über diese Worte erschrickt, wer es nicht für möglich
hält, daß Spinoza wirklich diesen Ärger als Gewissensbiß
aufgefaßt haben kann, der ist wohl noch nicht sehend für den Stern
Spinoza, noch nicht reif für seine Lehre von dem Unwert der Worte.
[115/116]
Die postume Geschichte des Spinozismus, die Geschichte also
seiner Wirkung auf das Geistesleben Europas, ist ein neuer Beleg dafür, daß
bei Spinoza ganz besonders zwischen der genialen, intuitiven, bildlich wahren
Weltanschauung, dem gewaltigen Aperçu, und dann der schwerfälligen,
diskursiven, unverdaulichen Form, dem hilflosen Wort, zu unterscheiden sei. Ich
kehre zurück zu der Darstellung der Geltung Spinozas, von der ich
ausgegangen bin.
Daß man nämlich noch vor etwas mehr als 140 Jahren
von Spinoza allgemein verächtlich geredet hat, ist wohl gewiß zurückzuführen
auf den Einfluß des großen Dictionnaire historique et critique von
Pierre Bayle. Dieser bedeutende Mann war bei aller historischen Gelehrsamkeit
und aller skeptischen Kritik, bei allem Geist und allem Freimut [116/117] doch
dadurch eine mittelalterliche, eine unmoderne Gestalt, daß er für die
neuen Lebenskeime kein Verständnis besaß, so tapfer er auch
Sterbendem den Gnadenstoß gab. Zieht man von Lessing ab, was in ihm
dichterisch und ahnungsvoll zu Goethe führt, und zieht man weiter manches
ab, was uns teuer ist, so bleibt etwas Pierre Bayle noch übrig.
Trotzdem ist der Haß Bayles gegen seinen großen
Zeitgenossen (4 Jahre nur nach Spinozas Tode und dem Erscheinen der Ethik wurde
Bayle Professor in Rotterdam) nur schwer verständlich. Ein Haß liegt
vor. Der mächtige Skeptiker, dem sonst so gern die leichte Ironie zur Verfügung
steht, gebraucht gegen den atheistischen Juden die stärksten Ausdrücke.
Er nennt sogar den theologisch-politischen Traktat, den man doch die Bibel von
Bayles eigenem Lebenskampf um die Denkfreiheit nennen könnte, ein livre
pernicieux et détestable; er wirft in seiner geistreich-spielenden Weise
Spinoza wirklich zu den Toten und sagt: Il n`est pas vrai que [117/118] ses
Sectateurs (seine Schüler) soient en grand nombre. Très peu de
personnes sont soupconnées d'adhérer à sa doctrine; et
parmi ceux que l'on en soupconne, il y en a peu qui l'aient étudiée;
et entre ceux-ci il y en a peu qui l'aient comprise et qui n'aient été
rebutés des embarras et des abstractions impénétrables, qui
s'y rencontrent.
Dieser Haß ist nicht mit dem gewöhnlichen Widerwillen
der Halben gegen die Ganzen zu erklären; denn Bayle war in seiner Art kein
Halber, und er sah vor allem nicht in Spinoza den Ganzen. Darin aber, daß
er das nicht sah, daß er den Spinoza nicht verstand, liegt die Erklärung.
Er hielt sich an die Worte des Philosophen und verstand die neuen Fragen des
Mannes nicht. Als ob er nur die schwächsten Sätze des Spinoza gelesen,
als ob er sich nur um den schrecklichen methodischen Aufbau und die Beweise gekümmert
hätte, nennt er das System" la plus monstrueuse Hypothese qui se
puisse imaginer, la plus absurde et la plus diamétralement opposée
aux notions les [118/119] plus évidentes de notre esprit. Und er
verteidigt sogar den Deus gegen Spinoza. Was die heidnischen Dichter Infames
gesungen hätten gegen Jupiter und Venus, reiche noch nicht heran an die
furchtbare Vorstellung, die Spinoza uns von Gott gebe; denn im Altertum habe man
den Göttern doch nicht alle Verbrechen und Schwächen zugeschrieben,
nach Spinoza sei nichts auf der Welt handelnd oder leidend als der Deus, auf ihn
beziehe sich aller Schmerz und alle Schuld, alles physische und moralische übel.
Wenn Gott und die Welt nur eines sei, alles in Gott, dann sei es ein falscher
Satz, wenn man sagt: Die Deutschen haben 10 000 Türken erschlagen"
- außer man verstehe darunter den Sinn: Gott in Gestalt von
Deutschen habe Gott in Gestalt von 10 000 Türken erschlagen." Bayle
kann so wenig von der Vorstellung eines persönlichen Gottes loskommen, daß
er eben gar nicht merkt, wie gut er durch die beabsichtigte Parodie gerade den
Gedanken Spinozas trifft. Alle spöttisch gemeinten Beispiele Bayles treffen
zu. Jawohl, so [119/120] hat es Spinoza verstanden. Gott betet zu sich selbst,
Gott verweigert sich die Bitte, er verfolgt sich, er ißt sich, er schickt
sich aufs Schafott. Und die Beispiele sind um so besser, als sie deutlich
zeigen, wie Spinozas Deus an der Sprache scheitern mußte, die ihn ganz pöbelhaft,
ganz individuell, also mit Willen und Verstand begabt zu denken nicht umhin
konnte.
Es ist dem Pierre Bayle sofort gesagt worden, daß er
Spinoza nicht verstanden habe, und seine Antwort darauf klammert sich erst recht
an Worte; und wie da seine Kritik im einzelnen gewiß recht behalten wird,
so ist sie im großen unzulänglich, rückständig. Es läuft
darauf hinaus, daß Bayle sich unter den Spinozistischen Begriffen Substanz"
und Modus" nichts Deutliches hat denken können, womit er wohl
leider recht hat, wobei er aber übersieht, daß man Spinozas heitern
Einblick und Eintritt in die morallose Notwendigkeit der Welt verstehen kann,
ohne sich um die Definitionen von Substanz und Modus zu bekümmern. Und so
[120/121] endet Bayles Klage und Anklage mit den tragikomischen Worten: Si l'on
n'entend pas ce qu'il veut dire par là (daß Gott nämlich die
einzige Substanz und alle andern Wesen seine Modifikationen seien) c'est sans
doute parcequ'il a joint aux mots une signification toute nouvelle sans, en
avertir ses lecteurs. Wie alle Entdecker neuer Ideen tun und tun müssen, füge
ich hinzu.
Ich möchte nicht unterdrücken, was ich schon einmal (Geschichte
des Atheismus" II. S. 303) auszuführen gesucht habe, daß der
Skeptiker Bayle allerdings den vermeintlichen Dogmatiker Spinoza bekämpfen
zu müssen glaubte, daß aber der schlimme Artikel Spinoza"
doch der Tendenz des großen Wörterbuchs nicht durchaus widersprach.
Bayle warnte ehrlich vor dem, was ihm an Spinoza zu metaphysisch erscheinen mußte;
aber als Vorkämpfer für Toleranz und Gedankenfreiheit bewährte er
sich auch da, offen oder versteckt, wo er als Gegner des Juden von Amsterdam
auftritt. Offen nimmt er die Partei Spinozas, wo er im Texte das [121/122] Leben
des Philosophen erzählt und seinem Charakter volle Gerechtigkeit
widerfahren läßt. Versteckt und vorsichtig deutet Bayle an,
namentlich in der Anmerkung O, daß die Widersprüche und
Schwierigkeiten im Systeme Spinozas nicht größer seien als in dem der
christlichen Theologie, daß also eigentlich die gemeine Meinung oder die
christliche Hypothese nur aus praktischen Gründen vorzuziehen sei; und am
Ende wäre ein philosophisches System vorzuziehen, wenn seine Widersprüche
geringer wären als die der Theologie. Dazu kommt, daß wir in die Ausfälle
Bayles gegen den Pantheismus Spinozas fast überall Bosheiten gegen
Geheimnisse und Dogmen der christlichen Religion hineinlesen können. Alles
in allem hat der unglückliche Spinoza-Artikel Bayles den Feinden Spinozas
manche Waffe geliefert, aber doch zur Verbreitung und zum Ruhme Spinozas mächtig
beigetragen. Durch Bayle hat wahrscheinlich auch Goethe seinen Spinoza zuerst
kennen gelernt; die kurzen Angaben im kleinen Brucker", den [122/123]
er als Knabe gelesen hatte, wird er inzwischen wieder vergessen haben,
Diese Stellung Bayles zu Spinoza und den ungeheuren Einfluß
Bayles auf ein ganzes Jahrhundert muß man vor Augen haben, um jetzt zu
verstehen, wie Spinoza in Deutschland wieder auferstand, wie die drei, wahren Führer
des neuen deutschen Geistes, wie Lessing, Herder und Goethe sich zu Spinoza
bekannten, wie Moses Mendelssohn - damit auch hier die Tragikomödie nicht
fehle - nach der innerlich doch wahren, von Goethe selbst geglaubten Legende vor
Schrecken über Lessings Spinozismus starb und wie von Deutschland aus
Spinoza auch Frankreich gewann, um endlich von Schelling und Hegel in seinen
Fehlern übertroffen, in seiner Hoheit nachgeäfft zu werden.
Ich setze als bekannt voraus, daß Fritz Jacobi, Goethes
Freund, nach dem Tode Lessings zuerst einen kleinen Kreis, dann ganz Deutschland
mit der Mitteilung überraschte, Lessing sei Spinozist gewesen, daß
jenes Gespräch (zwischen Jacobi und Lessing) zu köstlich
Les-[123/124]singsch ist, um nicht Silbe für Silbe echt zu sein, daß
Moses Mendelssohn, der schon als Jude auf diese Entdeckung hätte stolz sein
müssen, in seiner Erklärung An die Freunde Lessings" (1786,
nach Mendelssohns Tode erschienen, im Jahr von Goethes italienischer Reise) zunächst
seine Unkenntnis Spinozas, sodann seinen durchaus subalternen Sinn und endlich
seine relative Albernheit bewies, ich setze ferner als bekannt voraus, daß
Goethe durch alle diese Vorgänge sofort und später zu reichen
Mitteilungen über sein Verhältnis zu Spinoza veranlaßt wurde.*)
Ein Gedicht Goethes, Prometheus", hatte die
Lessingschen Äußerungen und so den ganzen Aufruhr veranlaßt;
Mendelssohn hatte auch nicht verfehlt, das
*) Ich habe diesen Streit um Lessings Spinozismus darzustellen
gesucht, zuerst in meiner Kritik der Sprache" (I. Band, 3. Aufl., S.
354), dann ausführlicher in meiner Einleitung zu einem Neudruck von Jacobis
SpinozaBüchlein" (Georg Müller Verlag 1912). Hier mag man
nachlesen, wie schwach, eitel und geschwätzig der kleine Jacobi das unschätzbare
Gespräch mit dem großen Lessing vortrug, wie klein und eitel der
Kampf zwischen Jacobi und Mendelssohn begonnen und weitergeführt [124/125]
Gedicht, da er den Verfasser nicht kannte, für eine
Armseligkeit zu erklären, die Lessing wohl unmöglich gelobt haben könnte.
Aber nicht just dieses Gedicht war spinozistisch, Goethe war es durch und durch.
Als junger Mann war er ja durch Bayle auf Spinoza aufmerksam gemacht worden;
sofort hatte ihn die Einheit von Gott und Natur tief ergriffen und vielleicht
hatte es ihm eine der gelehrten Notizen angetan, in der von einem Epikureer (?)
Alexander erzählt wird, er habe die Dinge der Welt, die Formen, die
Erscheinungen mit dem Peplon, mit dem Kleide der Gottheit verglichen. (.."wirke
der Gottheit lebendiges Kleid.") Durch Jacobi, dann durch Herder und
endlich durch die geliebte Frau von Stein ließ er sich zu einem tiefern
Eindringen in Spinoza verlocken und von da ab bleibt Spi-
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 124] wurde, wie Hamann, an
Körper und Geist schon zerbrochen, sich einmischte, wie der bevorstehende
Tod Friedrichs des Großen den Mut auch eines Kant dämpfte, wie
eigentlich alle Beteiligten für das Heidentum Spinozas Stellung nahmen,
gegen ein positives Christentum. Die Gegner Herder und Kant verteidigten übrigens,
in geistigem Egoismus, ihre eigenen Ideen, ein jeder die seine, wenn sie sich
gegen den uneigennützigen Spinoza erklärten. [125/126]
noza sein Leitstern. In welchen Fragen? Als alter Herr hat
Goethe einmal an Zelter geschrieben, die Männer, die den stärksten
Einfluß auf ihn genommen hätten, seien Shakespeare, Spinoza und Linné
gewesen. Es ist klar, daß der Dichter sich Shakespeare, der Naturforscher
Linné verpflichtet fühlte. Worin war er ein Schüler Spinozas?
Ein Philosoph wollte er niemals sein und die Form der Ethik" mußte
ihm widerstreben, wie er das Werk denn auch niemals im Zusammenhang studiert"
hat.*) Auch seine Re-
*) Ein noch deutscherer Deutscher als Goethe darf in ähnlicher
Weise als freier Schüler Spinozas angesprochen werden, Fürst Bismarck,
der von seinem Dämon getriebene Realpolitiker. Darauf haben schon die
Geschichtsschreiber Meinecke und Marcks und (in einer besonderen Schrift) der
Staatsrechtler Rosin hingewiesen. Man würde zu weit gehen, wollte man die
zahlreichen Anklänge, die in Bismarcks Reden an Worte Spinozas erinnern, für
bewußte Anlehnungen erklären; sehr wahrscheinlich aber ist es, daß
der sogenannte Kulturkampf, der wirklich wie eine Idee aus dem 17. Jahrhundert
erschien und darum fehlschlug, auf alte Vorstellungen von der Übermacht des
Staates über die Kirche zurückging, wie sie von Hobbes und noch
entschiedener von Spinoza gelehrt wurde. Von den vielen Zeugnissen aus Bismarcks
Reden und Briefen führe ich nur eines an, das aus dem merkwürdigen
Werbebrief um seine Frau Johanna; es ist vom Ende [126/127]
ligion, im Sinne eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses, suchte
Goethe nicht bei Spinoza. Im Rausche der Neuentdeckung konnte Dalberg an Herder
schreiben, Spinoza und Christus, nur in diesen beiden liegt reine
Gotteserkenntnis", konnte Lichtenberg sagen: Wenn die Welt noch eine
unzählbare Zahl von Jahren steht, so wird die Universalreligion geläuterter
Spinozismus sein", konnte Hegel den Satz wagen: Entweder Spinozismus
oder keine Philosophie". So unfreier Enthusiasmus (bei Lichtenberg sehr
merkwürdig) war Goethes Sache nicht. Worin war er ein Spinozist?
Der Einfluß Spinozas auf ihn ist un-
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 126] Dezember 1846, köstlich
in seiner Vereinigung von inniger Offenheit und Schlauheit; er redet viel von
Gott und von der möglichen Kraft des Gebets, verschleiert aber durchaus
nicht, daß der Werber seit seiner Konfirmation ein Unchrist war, ein
Deist, ein Pantheist, daß erst seit zwei Monaten die Gnade" des
Glaubens ihm nahe gekommen ist. Der Spinozist Schleiermacher hatte ihn ja
eingesegnet. Einmal verrät sich sogar, daß er sich einst die
Spinoza-Deutung Bayles zu eigen gemacht hatte: er habe nicht beten können,
weil der allgegenwärtige Gott (wenn Bismarck bete) gewissermaßen zu
Sich Selbst bete (die großen Anfangsbuchstaben sollten dem pietistisch
frommen Herrn von Puttkammer wohl schmeicheln). Dann aber heißt es
[127/128]
geheuer; es wäre eine gute Seminararbeit, diesen Einfluß
einmal im einzelnen nachzuweisen, im Faust, in der Lebensbeschreibung und vor
allem in der Lebenshaltung. Auch an Huldigungen für Spinoza fehlt es nicht.
In den zahmen Xenien nennt er ihn den Philosophen, dem er zumeist vertraue. Das
unvergleichliche Gedicht Prometheus", das den ganzen Götterbrand
um Spinoza entfachte, ist ein Bekenntnis zum rebellischen Atheismus, noch unabhängig
von Spinoza; und das herrliche Fragment über die Natur" (von
1782) mag wirklich nur indirekt von Spinoza, direkt von Shaftesbury beeinflußt
sein, obgleich
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 127] ausdrücklich: In
der Studienzeit waren es Philosophen des Altertums, unverstandene
Hegelsche Schriften, und vor allem Spinozas anscheinend mathematische Klarheit,
in denen ich Beruhigung über das suchte, was menschlichem Verstande nicht
faßlich ist". - Es reizt mich, neben Goethe und Bismarck auch den
dritten Deutschen zu, nennen; natürlich konnte Luther nichts von Spinoza
,wissen; aber auch Luther, in seiner schönen und starken Jugend, kam von
dem ketzerischen Pantheismus her, der in der Theologia deutsch"
steckte, wie überall in den Schriften der deutschen Mystik. Erst später
verfing sich der realpolitische Reformator in dem Drahtverhau der Dogmen, die er
wahrlich nicht reformierte. [128/129]
man da gerade regelmäßig Gott" an die
Stelle von Natur" setzen könnte; aber die (etwa 1784 der Frau
von Stein diktierte) Philosophische Studie" ist zugleich eine
zustimmende Deutung Spinozas und eine stolze Absage an die Einfältigkeit
der christelnden Freunde Lavater und Jacobi. Da er später sich vom Geiste
Jacobis, dessen Herz er liebt, für ewig entfernen muß, schreibt er
(1811) in seine strengen Annalen": er rettete sich zu seinem alten
Asyl, zu Spinozas Ethik. Im dritten und vierten Buche von Dichtung und
Wahrheit" ist und bleibt Spinoza der Heilige", zu dem Goethe
aufblickt. Goethe selbst hält den ethischen Einfluß Spinozas für
überwältigend, die - ich wiederhole es - grenzenlose Uneigennützigkeit,
die aus jedem Satze hervorleuchte. Wie schon bei Bayle die Beschimpfung des
Denkers neben der Anerkennung des Partikuliers" Spinoza Goethes Mißtrauen
erweckt hat, so geht ihm die Lehre des Amsterdamer Juden zunächst durch
seinen Charakter auf. In dem schönen Eingang des vierten Buches [129/130]
von Dichtung und Wahrheit" hat Goethe am klarsten ausgesprochen, wie
er sich durch Spinoza habe in allem Handeln bestimmen lassen. Jeder kluge Mensch
habe noch zuletzt ausgerufen, daß alles eitel sei, Nur wenige
Menschen gibt es, die solche unerträgliche Empfindung vorausahnen und, um
allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im ganzen
resignieren. Diese überzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen,
Gesetzlichen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich
sind, ja, durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben, sondern
vielmehr bestätigt werden. Weil aber hierin wirklich etwas übermenschliches
liegt, so werden solche Personen gewöhnlich für Unmenschen gehalten, für
Gott- und Weltlose, ja, man weiß nicht, was man ihnen alles für Hörner
und Klauen andichten soll ... Denke man aber nicht, daß ich seine
(Spinozas) Schriften hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich hätte
bekennen mögen. Denn daß niemand den [130/131] andern versteht, daß
keiner bei denselben Worten dasselbe was der andre versteht, daß keiner
bei denselben Worten dasselbe was der andre denkt, daß ein Gespräch,
eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen
aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehen und man wird dem Verfasser
von ,Werther' und ,Faust' wohl zutrauen, daß er, von solchen Mißverständnissen
tief durchdrungen, nicht selbst den Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu
verstehn, der als Schüler von Descartes durch mathematische und rabbinische
Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens emporgehoben, der bis auf den heutigen Tag
noch das Ziel aller spekulativen Bemühungen zu sein scheint."
Da haben wir den Gegensatz zwischen Bayle und Goethe. Bayle
macht dem Denker dessen Umwertung alter Begriff e zum bittern Vorwurf und
versteht ihn nicht, weil er sich trotzdem an den Buchstaben hält; Goethe
durchschaut die Wertlosigkeit überhaupt der Sprache [131/132] und versteht
Spinoza eben darum, weil er sich nicht an den Wortlaut hält. Er ist ein
Spinozist, aber nicht als ein Schüler, sondern als ein Verwandter. (E.
Caro, La philosophie de Goethe": Il est de sa famille bien plus que
de son école.)
Wenn es die Ethik Spinozas allein gewesen wäre, was Goethe
fürs Leben fesselte, warum brachte er den philosophischen Juden (in seinem
Ahasver-Plan) in direkten Gegensatz zu Jesus Christus? Warum wurde Goethe ein dezidierter
Nichtchrist"? War grenzenlose Uneigennützigkeit" nicht auch
die Ethik Jesu Christi? Wollte Goethe sich nur von der Kirche befreien, warum
dann sein Haß gegen das Kreuz selbst?
Weil Goethe eben die Ethik Spinozas nicht nur bewunderte,
sondern in ihr weit mehr, als er sich logisch klarzumachen gewohnt war, eine
Welterklärung fand. Spekulative Bemühungen waren nicht Goethes Sache;
er verhielt sich ablehnend gegen Kant, so oft auch Schiller die Kategorien der
reinen Vernunft anzu-[132/133]preisen suchte, er
schob Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung"
stillschweigend beiseite, trotzdem ihm der Verfasser nahestand. Er hatte sich
bei der Weltanschauung Spinozas beruhigt", er war bei ihr stille"
geworden, wie Gott oder die Natur". Sie ist weise und still."
Für die Behauptung, daß Goethe im Spinozismus das
Aperçu seiner Weltanschauung gefunden hatte, daß er der
Wiedererwecker Spinozas werden konnte, weil ihn das Wort nicht kümmerte, daß
er aber im Spinozismus dennoch für Dichtung und Naturbetrachtung das ewige
Licht sah, dafür hat er selbst kaum irgendwo einen stolzern, überlegenern
und reinern Ausdruck gefunden, als in seinem Brief an Herder, aus Rom, vom 23.
Oktober 1787 (Ital. Reise), Ich habe immer mit stillem Lächeln
zugesehen, wenn sie mich in methaphysischen [!] Gesprächen nicht für
voll ansahen; da ich aber ein Künstler bin, so kann mir's gleich sein. Mir
konnte vielmehr daran gelegen sein, daß das [133/134] Prinzipium verborgen
bliebe, aus dem und durch das ich arbeite."
In metaphysischen Gesprächen hat Goethe oft gesagt, was ihm
Spinoza geworden war. Als Künstler hat er die gewaltige Phantasie, den
Besuch des Ewigen Juden bei Spinoza, leider nur gedacht, nicht gestaltet.
Vielleicht ist etwas Ungeheures verloren gegangen: Spinoza in der deutschen
Dichtung, unzerstörbar wie Faust. Vielleicht aber auch war die Phantasie
nicht gestaltbar genug. Später haben deutsche Dichter jüdischer Rasse
den Plan Goethes ausgeführt; Berthold Auerbach klein und beschämend,
S. Heller mit geistiger Kraft ohne recht strömende Poesie, (Es gibt auch
selbständige Spinoza-Romane; den von Kolbenheyer, Amor Dei", wir
erleben da viel von Spinozas Welt; den von Otto Hauser, ein fast christelndes
Unterhaltungsbuch.)
Kostbar sind die wenigen Blätter, in denen Goethe sich doch
- nachdem er an guten Abenden" die Dinge mit Herders [134/135] und
der geliebten Frau durchgesprochen hat - mit Spinoza metaphysisch
auseinanderzusetzen[,] sucht.
Sie können uns lehren, wie hoch die führenden Geister
jener Zeit über dem Literaturgebrodel unserer Tage standen. Mit Ehrfurcht
und Sehnsucht muß 'man jener Tage gedenken. Nicht müde wird Goethe,
in Spinoza wieder und wieder zu lesen, sich alles klar zu machen, nur um es der
geliebten Frau einfach wie eine Blume vorzulegen, und nicht müde wird
Charlotte, von dem geliebten Lehrer zu lernen. Man war besonders fleißig
im Dezember 1784; die Handschrift von Jacobis Spinoza-Büchlein war kurz
vorher in Weimar eingetroffen. Aber Goethe hat kein eigenes Exemplar des
Spinoza; Herder schenkt das seine und sendet es den Liebenden am Christtage, am
25. Dezember, dem Geburtstage auch der Frau von Stein.*) Und der
Generalsuperintendent
*) Darauf natürlich geht der anmutige Scherz, der sie eine
Schwester des heiligen Christes nennt; es ist häßlich von Suphan, daß
er es mit auf ihre Frömmigkeit bezieht. [135/136]
und Prediger Herder begleitet das Buch mit folgender Widmung:
Deinem und unsern Freund sollt heut den heiligen Spinoza
als ein Freundesgeschenk bringen der heilige Christ.
Doch wie kämen der heilige Christ und Spinoza zusammen?
welche vertrauliche Hand knüpfte die beiden in eins?
Schülerin des Spinoza und Schwester des heiligen Christes.
Dein geweiheter Tag knüpfet am besten das Band.
Reich ihm seinen Weisen, den du gefällig ihm machtest,
und Spinoza sei euch immer der heilige Christ.
[136/137]
In dem durch Jacobi heraufbeschworenen allgemeinen Streite
um Spinoza, hatte sich auch Kant, durch den Tod Friedrichs des Großen ängstlich
geworden, nicht mit Ruhm bedeckt. Es ist nicht anders, die Philosophen verbissen
sich in die Sätze und Beweise des Systems von Spinoza und förderten
nur logistischen Streit; die Dichter zuerst, die deutschen Dichter, die wir die
klassischen nennen, versenkten sich, nachdem Lessing ihn wiederentdeckt hatte,
in die ganz persönliche Weltanschauung des halbverschollenen Denkers, und
Goethe wurde nicht so sehr zu seinem Schüler als zu seiner Reinkarnation.
Auf dem besten, vielleicht dem einzigen echten Spinozabildnis, dem von Wolfenbüttel,
blicken die großen, großen Augen ähnlich heraus wie auf dem
Goethebildnis von Kügelgen, dem von 1810. Goethe dichtete und lebte,
[137/138] was Spinoza gelebt und gelehrt hatte: die nichtchristliche,
meinetwegen gegenchristliche Einheit oder Einigheit von Ich und Natur, dazu die
Freude an dieser Einigheit, das Glücksgefühl des Heiden; die Abkehr
von jedem sogenannten Pessimismus.
Es sind immerhin die Freiern unter uns, die sich jetzt mit
Berufung auf Spinoza und Goethe, auf deren Gefühl von Einheit oder
Einigheit, zu dem Monismus bekennen, als der für konfessionslose Menschen
allein noch möglichen Weltanschauung. Ich habe vor Jahren (in meinem Wörterbuch
der Philosophie" II. S, 97 u. f.) diesen dogmatischen Monismus einer etwas
zu herben Kritik unterzogen; ich will jetzt, weniger streng, die Gedanken jenes
Aufsatzes zusammenfassen, um zu zeigen, was an der Lehre Spinozas auch für
uns, nach 250 Jahren, noch ganz lebendig oder zukunftsreich ist. Denn wir haben
die Einsichten Spinozas zwar in allen Einzelwisenschaften überholt, sein
Weltgefühl aber noch nicht alle erreicht. [138/139]
Der Mensch, dieweil er lebt, hat den Instinkt, in der Umwelt nur
Individuen zu erblicken, mit denen allein er es durch seine drei Motive des
Hungers, der Liebe und der Eitelkeit zu tun hat; derselbe Mensch, dieweil er
denkt, hat den entgegengesetzten Instinkt, nur die Begriffe für wahr zu
halten, ja immer höhere und allgemeinere Begriffe zu bilden. So den Begriff
des einen Gottes, der einen Substanz. Der alte Dualismus von Leib und Seele oder
von Körper und Geist schien so durch ein Wort überwunden, durch den
Monismus. Anstatt Körper und Geist" konnte man auch Natur
und Verstand" sagen. Diesen Gegensatz, der die gleiche Erscheinung wie in
zwei verschiedenen Sprachen ausdrückt, glaubte der Forscher Darwin ehrlich
aus der Welt geschafft zu haben, da er die bewußten Zwecke aus der Natur
ausschaltete, da er die zweckmäßigen" Formen der Natur aus
den Gesetzen der Vererbung und Anpassung erklärte, eine Entwicklung an die
Stelle einer Schöpfung setzte. Unsere deutschen Monisten - Haeckel an der
[139/140] Spitze - begingen den Fehler, aus den Hypothesen Darwins ein Dogma des
Darwinismus zu machen; wir wissen jetzt, daß Darwins Entwicklungslehre nur
eine Denkrichtung ist, keine Lösung der alten Rätsel, daß
Haeckels dogmatischer Darwinismus sich verrannt hatte; aber es war doch schon
eine Kulturtat, daß Darwin die Möglichkeit erkannt hatte, den
Zweckbegriff aus der Natur wegzudenken: die Schöpfung nach einem Plane im
Kopfe eines mit menschenähnlichem Verstande ausgestatteten Wesens. Haeckels
Monismus war nicht weniger wortabergläubig als irgendeine abergläubige
Theologie, er war dogmatischer Materialismus; und bei der Einigheit des
Materialismus können wir uns nicht mehr beruhigen. Wir wissen von der
Materie ebensowenig, im letzten Grunde, wie vom Geiste. Und mit seinen
Berufungen auf Spinoza und Goethe, mit seiner Systemmacherei und seiner gekünstelten
Sprache, bewies Haeckel nur - dessen Bedeutung als Spezialforscher nicht
angetastet werden soll -, daß er weder [140/141] Spinoza noch Goethe
eigentlich kannte, daß er kein philosophischer Kopf war, nicht einmal eine
Herrschaft über die Fachausdrücke des abstrakten Denkens besaß.
Seit Jahren bemüht sich gegenwärtig Wilhelm Ostwald, und mit Erfolg,
die deutschen Monisten aus dem Dogmatismus zu dem bessern, und ebenso
unkirchlichen, englischen Agnostizismus hinzuführen, der Lehre: daß
der menschliche Verstand zur Lösung der Welträtsel nicht ausreicht. Es
fehlt nur ein Schritt zu der bescheidenen Lehre meiner Sprachkritik: daß
die Sprache das einzige Werkzeug zur Erkenntnis der Natur ist, das wir besitzen,
und daß diese Sprache ein untaugliches Erkenntniswerkzeug ist. Von diesem
wesentlichen Mangel der Menschensprache, auch der wissenschaftlichen, hatte
Spinoza - obgleich er selbst mittelalterliche Wortgebilde nicht verschmähte
- eine tiefe Ahnung, hatte Goethe ein starkes Bewußtsein. Das Wort Monismus"
nun ist aus der altgriechischen Bezeichnung der Eins entstanden und bedeutet:
den Glau-[141/142]ben an die Einigheit der Naturursache, an die Einheit des
Weltganzen. Als ob dadurch etwas erklärt wäre! Als ob hinter dieser
Einheit nicht ebensogut der alte Judengott stecken könnte! Vor zweitausend
und einigen Jahren erklärte der weltberühmt gewordene Philosoph
Aristoteles den Kreis für die vornehmste Linie und bewies" aus
diesem unsinnigen Werturteile eine Menge Erscheinungen; wir sind nicht klüger,
wenn wir die Eins für die vornehmste Zahl erklären und aus diesem
ebenso unsinnigen Werturteile eine Weltanschauung herausspinnen wollen. Wir
werden den Wortaberglauben an den Monismus ebenso überwinden müssen -
durch ihn hindurch, nicht an ihm vorbei - wie die Zeit von Descartes und Spinoza
den Wortaberglauben der Aristoteliker in schweren äußern und innern Kämpfen
überwinden mußte.
Wenn sich also unsere Monisten weiterhin auf Spinoza und auf
Goethe als auf ihre Schutzheiligen berufen wollen, so habe ich nichts dagegen
und werde [142/143] nicht einmal darauf bestehen, daß man das Schlagwort Monimius"
aufgebe, bevor man ein ebenso hübsches und bequemes zur Verfügung hat.
Die Sprachkritiker oder Wortkritiker sind nicht zahlreich genug, um so einen
Bund bilden zu können; auch wohl nicht geschäftstüchtig genug,
nicht positiv genug gerichtet, um ihre Überzeugung von der Wertlosigkeit
alter Begriffe und Ideale zum Ausgangspunkte einer ausgedehnten Propaganda zu
machen. Zu sehr lachende Zweifler, nicht feierlich genug. In der Ablehnung
freilich, in der vielgeschmähten Negation, stimmen die Sprachkritiker oder
Wortkritiker ebenso mit den Monisten überein wie diese mit Spinoza und
Goethe; nur daß das gemeinsame Weltgefühl dieser beiden heidnischen
Schutzheiligen - im Denken und im Dichten - baumeisterlich war und eben, fast
mit Widerstreben, morsche Mauern niederreißen mußte, um Raum und
Grund zu schaffen für das Gebäude der neuen Sehnsucht; nur daß
die Kritik der Sprache einen neuen Grund aller menschlichen [143/144]
Erkenntnis, für das Begreifen der bloßen
Erkenntnismöglichkeit, zu legen hat und bei ihrer
ungeheuern Aufgabe sich gar nicht darum zu bekümmern braucht, ob die alten
dem Tode verfallenen Wortmauern bis vor kurzem die höchsten Begriffe der
Wissenschaften oder gar einige Ideale oder Sehnsüchte der Religion, der
Moral usw. bedeuteten.
Mag also Spinoza, der (nach dem hübschen Worte des Engländers
Lewes) groß war auch noch unter den größten Denkern, eine
Autorität bleiben für diejenigen, die für ein gemeinsames Ziel
eine Fahne nötig haben, wir beugen uns keiner Autorität und stehen
sogar einem Spinoza, nachdem wir ihn ganz kennen gelernt haben, in freier Liebe
gegenüber. Und weil wir die Grenzen seines Denkens deutlich wahrnehmen, da
wo er, abhängig von den alten Worten und von der Scholastik seines Meisters
Descartes, auch nur ein Weltbild aus leeren Linien, ein System aus Worten
erfindet, weil wir trotzdem überwältigt werden von der Geisteskraft,
mit der er - nicht einmal [144/145] von seinem eigenen Systeme bestochen -
dennoch die Natur und in ihr den Menschen erkannt hat, darum fragen wir noch
einmal: was ist uns Nachgeborenen heute noch der Jude von Amsterdam, der vor
bald 300 Jahren um 300 Jahre zu früh geboren wurde?
Ich habe in anderem Zusammenhange einmal zu lehren versucht, wie
schlimm es um die übliche Scheidung zwischen Mittelalter und Neuzeit
bestellt ist; wolle man das Mittelalter mit der allgemeinen Macht der
Papstkirche gleichsetzen, so müsse man es schon etwa in der ersten Hälfte
des 13. Jahrhunderts enden lassen, in der Zeit, als die Ketzer sich nicht mehr
zum Schweigen bringen ließen, als durch Kaiser Friedrich II. das
Schlagwort von den drei großen Betrügern (Moses, Jesus, Mohammed)
aufkam; wolle man aber das Mittelalter so lange dauern lassen wie den
allgemeinen Glaubenshaß und die Religionskriege, so könne die Neuzeit
erst mit dem Westfälischen Frieden beginnen, der wenigstens in bescheidener
Weise ein wenig Duldung zwischen [145/146] den christlichen Hauptkonfessionen
festsetzte. Diesen wahren Beginn der Neuzeit kann man an das Auftreten einiger
Naturwissenschaftler knüpfen, die die neuen Waffen der Mathematik auf die
Mechanik des Himmels und der Erde anwandten; unmittelbar hatte Spinoza einen
solchen Einfluß nicht auf den Geist seiner Zeit; rückblickend müssen
wir aber sagen, daß im ganzen 17. Jahrhundert kein Mann so frei war wie er
von den Bindungen des Mittelalters, (Von dem Gebrauche mancher metaphysischer
Ausdrücke immer abgesehen,) Das Mittelalter unterwarf Denken und Moral
blindlings der Kirche und nannte das Gottesfurcht. Alle diese Begriffe löschte
Spinoza mit ruhiger Hand von den alten Tafeln. Er sah und erlebte etwas, was er
nach wie vor Gott nannte, aber die Gottesfurcht war ihm nichts Gutes; wer Gott
oder die Natur fürchtet, anstatt ihn oder sie zu lieben, der liebe irgend
etwas (z. B. sein Wohlergehen im Jenseits) mehr als Gott. Das menschliche Denken
war während des Mittelalters angekettet gewesen, [146/147] innerlich und äußerlich,
an die Dogmen der Kirche; Spinoza befreite durch seinen Traktat die Vernunft vom
Höllenzwang des Bibelworts, er zuerst übte Kritik an aller Theologie.
In der Besiegung der Furcht und in der Bibelkritik ist er seitdem überholt
worden, von tapfern Leuten, die ihm folgten; in der Befreiung der Menschenmoral
von der Theologie aber ist er bis zur Stunde unerreicht geblieben, denn seine
Moralkritik ist noch reiner und zeitloser als die verrufene Lehre, die wir (nach
den glänzenden Sprüchen von Nietzsche) Amoral oder geschichtliche
Entwicklung der Moral zu nennen pflegen. Und das ist bei Spinoza gar nicht
geistreich, gar nicht spöttisch; so einfach und so notwendig wie das
vielfarbige Sonnenbild in einem Tautropfen. Es handelt sich auch um gar nichts
anderes als um Spinozas unmenschlich schöne Vorstellung von der unbedingten
Notwendigkeit alles Geschehens; was in Gott oder der Natur wird, das ist
notwendig, das ist nicht frei; Gott (die Natur) hat keinen Willen und keinen
Verstand; der [147/148] Mensch hat ein bißchen Verstand, doch gar keinen
freien Willen, der seine Handlungen moralisch bewerten ließe; es ist in
der gesamten Menschenwelt kein Raum für das, was man Moral nennt. Gut und böse
sind nur Menschenbegriffe; aber es muß doch wohl Träger des Guten
geben, denn Spinoza hat - wie alle seine Gegner zugeben müssen - ungefähr
so gelebt, wie christliche Moral es von einem Heiligen verlangt. Spinoza war wie
sein Gott, eins mit der Natur, die auch nichts verlangt für ihre Gaben. Und
weil der Mensch nicht einer auferlegten Pflicht gehorcht, wenn er sozusagen gut
ist, weil er notwendig so oder so ist, darum hat der Mensch auch kein Recht
darauf, daß Gott oder die Natur ihn wiederliebe,
Diese unerhört gelassene Einsicht in die ausnahmlose
Notwendigkeit alles Geschehens (nicht auch in dessen Erklärbarkeit!)
bewahrte Spinoza vor der abgründigen Dummheit höchst achtbarer
Schriftsteller, die sich übrigens ja Philosophen nennen dürfen und
sich sogar gern auf Spinoza berufen. Ich denke da an die [148/149] unausrottbare
Gewohnheit der Bücherschreiber, kindischem Bedürfnisse
entgegenzukommen mit Schriften, die den einschläfernden Titel führen: Sinn
des Lebens" oder
Wert des Lebens". Vor etwas mehr als 100 Jahren sagte
man da kindlicher und verräterischer: Die Bestimmung des Menschen."
Der liebe Gott hatte Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen geschaffen, Steine,
Pflanzen und Tiere für den Menschen, den Menschen für einen höheren
Endzweck. Dieser schlichte Glaube wurde verwischt, aber nicht getilgt durch die
neue Bezeichnung: Sinn oder Wert des Lebens. In unsern Tagen hat besonders
Rudolf Eucken begreiflichen Zulauf bei seinen Bemühungen, dem armen
Menschenleben einen Sinn oder Wert unterzulegen; der Mensch hat die Aufgabe (von
wem?) emporzusteigen, zu immer höheren Stufen. (Wohin?) Weniger achtbar ist
mir die Schriftstellerei des Franzosen Bergson, der die Philosophie mit
Schauspielerei zu verwechseln scheint. Gar nicht erst zu reden von dem ganz
unselbständigen Vertreter [149/150] der südwestdeutschen
Philosophenschule (ich weiß nicht, ob sie sich selbst und ernstlich so
nennt), der auch über Sinn und Wert des Weltganzen geschrieben hat und möglicherweise
selbst versteht, was er
sagt: Der Sinn, den der Akt des Wertens hat, ist
einerseits kein psychisches Sein, sondern weist über dieses hinaus auf die
Werte hin; er
ist andererseits aber auch kein Wert, weil er
nur auf Werte hinweist."
In Spinozas erhabenem Bilde von dem wirklichen Weltgeschehen war
- wie gesagt - kein Raum für einen Zweck oder eine Absicht oder gar für
einen Wertmesser; der Gott oder die Natur besaß weder einen
Menschenverstand noch einen Menschenwillen, konnte also bei der sogenannten Schöpfung
einen Zweck nicht haben, eine Bestimmung des Menschen weder vorstellen noch
wollen. Ein Schüler Spinozas kann nicht daran denken, solche Fragen zu
beantworten, weil er solche Fragen nicht zu stellen vermag.
Aber - so werden mir Leser entgegenschreien, die wahrlich nicht
spinozareif [150/151] sind -: das ist ja eine ganz verzweifelte Weltansicht, das
führt ja schnurstracks zu einem entsetzlichen Pessimismus! Ich darf bei
diesen unfreundlichen Lesern natürlich nicht voraussetzen, daß sie
gelesen oder sich gar gemerkt haben, was ich einmal (Wörterbuch der
Philosophie II. S. 188 ff.) über die Künstlichkeit, ja Drolligkeit des
Begriffspaares Optimismus. und Pessimismus ausgeführt habe. Ich will es in
wenigen Zeilen wiederholen und dann zu der heiligen Heiterkeit Spinozas zurückkehren,
die man nicht Optimismus nennen sollte.
Wir haben es da mit betrüglichen Begriffen zu tun; nicht
einmal die Steigerung der Eigenschaftswörter (z. B. der beste, der
schlechteste) ist allen Menschensprachen eigen; die Vorstellung des Optimismus,
daß also diese uns allein bekannte Welt zwar nicht an sich gut sei, wohl
aber verhältnismäßig die beste aller möglichen Welten,
diese Vorstellung war der traurige Versuch einer Rechtfertigung Gottes, ein
Versuch, das beobachtete Elend des Menschenlebens mit den [151/152] von der
Theologie behaupteten Eigenschaften Gottes (Allmacht, Güte) auszugleichen.
Dieser rechtsverdreherischen Lehre, die man vielleicht zuerst nur in boshafter
Absicht Optimismus nannte, stellte sich erst später die grimmige Lehre
gegenüber, die sich wieder nicht in klaren Worten ausdrücken ließ
und für die man, mit einer witzigen Anknüpfung an Optimismus, eben die
Bezeichnung Pessimismus erfand. Hinter der einen wie der andern Meinung steckt
nichts, das man eine Weltanschauung nennen könnte, sondern eigentlich nur
die persönliche Stimmung des Sprechers oder Schreibers, der sich zu der
einen oder zu der andern Meinung bekennen will und dafür ein klingendes
Wort sucht.
Es wäre töricht, Spinoza um seiner heitern Lebensführung
willen einen Optimisten zu nennen. Er nannte sein Hauptwerk Ethik",
weil sich da alles um das Handeln der Menschen drehte, also um ein Geschehen,
das allgemein nach alten moralischen Tafeln gewertet wird. Spinoza wertete nicht
und wortete nicht; [152/153] der tugendhafte" Mensch war ihm nicht
moralischer als ein Dreieck, dessen Winkelsumme gleich ist zwei Rechten. Wenn er
die Begriffe Optimismus und Pessimismus in seinem Sprachschatze besessen, hätte,
so hätte er in keinem von beiden eine Regel gesehen, nach welcher man leben
müßte. Es gibt heitere und traurige Menschen, wie es helle und trübe
Tage gibt. Naturnotwendig. Wie es, nach, der Menschensprache, gute und böse
Taten gibt. Naturnotwendig. Es gibt kein Sollen. Alles wird, wie es notwendig
werden muß.
Sind also die rechtgläubigen Todfeinde Spinozas im Rechte,
die ihn einen Materialisten schelten? Es sind das so geläufige Schimpfwörter,
die ungefähr den gleichen Vorwurf ausdrücken: Atheist, schlechter
Kerl, Materialist. Spinoza ist wahrscheinlich in jungen Jahren, da er dem Köhlerglauben
der Synagoge entwachsen war und in die Lateinschule von van der Ende kam, durch
einen geistig unsaubern Materialismus hindurchgegangen; er lernte damals die
Schriften des [153/154] Mathematikers Descartes kennen, der nur zu ängstlich
war, um seine ganz diesseitige, ganz mechanistische Anschauung offen
auszusprechen; für Descartes waren alle Körper Maschinen, auch die
Tiere, nur vor der Menschenseele machte er halt, weil er bei der Kirche keinen
Anstoß erregen wollte. Spinoza nun hatte von seinem Vorgänger
Descartes viel gelernt, sicher auch das mathematische, das mechanistische
Weltbild, den Materialismus. Nur daß Spinoza sich mit diesem einen und
einseitigen Bilde der Welt nicht begnügte, nur daß Spinoza, der
Allumfasser, die Unzulänglichkeit des mechanistischen Bildes durchschaute
und nach einer Ergänzung verlangte, nach einer Befreiung von der Zerbröcklung
der mathematischen Naturerklärung. Hier lebte der Denker Spinoza wie auf
dem obersten Stockwerke einer Sternwarte; auf dem obersten Stockwerke, nicht
weil er sich auf Fernrohre verstand, sondern weil er, eins geworden mit den
Sternen, die irdischen Dinge alle unter einem gewissen Gesichtspunkte der
Ewigkeit zu [154/155] betrachten sich gewöhnt hatte. Um nun ein einziges
hohes Beispiel zu bieten: in dem mechanistischen oder wissenschaftlichen
Weltbilde folgt die Wirkung auf die Ursache, nicht etwa logisch, nicht nur
zeitlich, einfach notwendig; Spinoza als der erste ahnt, daß da nur eine
Beschreibung vorliege und keine Erklärung, er sieht mit seinen geistigen
Augen eine Einheit zwischen Ursache und Wirkung, er begreift, daß eine
vollständige Kenntnis der Wirkung eine vollständige Kenntnis der
Ursache einschließen würde. Ich möchte das so ausdrücken:
wenn wir ein einziges Atom unseres mechanistischen Weltbildes wissen"
würden, so würden wir alles wissen; doch wissenschaftlich wissen wir
nichts.
Spinoza hatte ein so klares Verständnis für die zwar
trügerische, aber in ihrer Einseitigkeit belehrende mechanistische
Weltansicht, daß noch Johannes Müller, der Begründer der neuen
Physiologie, sich auf diese Philosophie berufen konnte. Und Spinoza, in seinem
Traktat nebenbei der Stifter des liberalen Ratio-[155/156]nalismus, war so überzeugt
von dem schließlichen Bankerott jeder mathematischen Welterklärung,
daß er wiederum von dem englischen Agnostizismus in Anspruch genommen
werden konnte, von dem Bekenntnisse, daß uns die letzte Erkenntnis in
jedem Punkte versagt ist. Wir aber wollen uns nicht scheuen, die Weltanschauung
Spinozas zumeist mit derjenigen zu vergleichen, die die ganz wenigen wahren
Mystiker des Ostens und des Westens, der alten und der neueren Zeit, verbindet.
Spinoza war ein' Mystiker, weil er eigentlich nichts wußte, trotz all
seiner Denkkraft, als seine Einheit in der Welt, mit der Welt, seine Einheit in
der Gottnatur, mit der Gottnatur.
Man begnügt sich gewöhnlich damit, das Wort
Pantheismus auf diese Lehre anzuwenden. Weil Spinoza den Gottesbegriff nicht
preisgeben konnte, weil er seinen Gott mit dem All gleichsetzte. Die den
heiligen Spinoza zu den Mystikern rechnen, sollten sich jedoch nicht darauf
berufen, daß der Pantheist Spinoza den Gottesbegriff weiter benützte.
Zu den [156/157] gotttrunkenen Mystikern gehörte Spinoza nicht; er war nur
alltrunken. Wie er in den Eingangsdefinitionen seiner Ethik mehrere uralte
Begriffe für seine eigene Verwendung, sprachwidrig, neu maskierte, so
bildete er sich und für sich einen Gottesbegriff, den die Gemeinsprache des
Pöbels und der Theologie nicht kannte; viel mehr als vier Ellen weit von
sich bannte er das alte Gespenst des persönlichen, des schaffenden und
erhaltenden Judengottes. Herder, Schelling, Hegel und Schleiermacher täuschten
sich, als sie Spinoza zu einem Christen machten. Spinozas Mystik ist eine
gottfremde, eine gottlose Mystik.
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