Sitzungsberichte


der Heidelberger Akademie der Wissenschaften


Stiftung Heinrich Lanz


Philosophisch-historische Klasse


Jahrgang 1910. 10. Abhandlung.





Die


Erneuerung des Hegelianismus



von



Wilhelm Windelband



in Heidelberg





Festrede



in der Sitzung der Gesamtakademie am 25. April 1910












Heidelberg 1910



Carl Winter's Universitätsbuchhandlung



Verlags-Nr. 466.


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Hochansehnliche Festversammlung !





D er große Anreger und Begründer der europäischen Akademien, LEIBNIZ, wollte dereinst der Philosophie keine eigene Stelle in der Akademie zugestehen. Die Aufgabe der Akademie liegt - im Unterschiede einerseits von dem gelehrten Unterricht, andererseits von der allgemeinen Literatur - bei der Spezialforschung, und für sie mochte LEIBNIZ ein eigenes Gebiet der Philosophie nicht anerkennen. Vielmehr sollte die Gesamtheit der Einzelforschungen schließlich von selbst der Philosophie in dem Sinne zugute kommen, wie sie als die zusammenfassende Gesamtwissenschaft sich damals auffaßte. Das war charakteristisch für die klassische Zeit der dogmatischen Metaphysik. Sie glaubte alle Erforschung des Einzelnen, alles besondere Wissen den speziellen Disziplinen überlassen zu sollen und behielt sich selbst nur ein harmonisierendes Zusammenarbeiten der Ergebnisse vor. Auch wenn sich dies in dem Maße als eine ernste begriffliche Arbeit darstellte, wie es bei LEIBNIZ selbst der Fall war, so hatte es doch eine Art von künstlerischem Einschlag, wie man ihn später mit dem Ausdruck „Begriffsdichtung" bezeichnet hat, und damit geriet es zu den belles lettres in die gefährlich enge Nähe, die für die Philosophie des ganzen achtzehnten Jahrhunderts und namentlich für die Aufklärungsphilosophie charakteristisch geblieben ist.

Durch KANT haben sich diese Verhältnisse geändert. Die Philosophie ist jetzt eine Spezialwissenschaft mit eigenem Forschungsgebiet. Sie ist es anerkannterweise zunächst in dem negativen Sinne, daß sie gern darauf verzichtet, das von den andern Wissenschaften bereits Erkannte irgendwie ihrerseits von neuem erkennen oder durch metaphysische Beziehungen etwa ergänzen zu wollen. Nur nachzüglerische Gewöhnungen, an denen es natürlich nicht gänzlich fehlt, halten heutzutage wohl noch an jenen Bestrebungen fest. Unsicherer ist die Formu-[3/4]lierung für die positive Abgrenzung und inhaltliche Bestimmung des eigenen Forschungsgebietes der Philosophie: sie ist noch nicht in eindeutiger und allgemein angenommener Weise bestimmt.

KANT hat dies Forschungsgebiet mit dem Namen der Kritik der Vernunft bezeichnet: wobei unter Kritik die Besinnung, die systematische Besinnung auf die prinzipiellen Grundlagen alles Vernunftlebens, die wissenschaftliche Bloßlegung der Grundstruktur aller Kulturfunktionen zu verstehen ist. Das ist tatsächlich der Ertrag der Kantischen Kritiken, wenn auch diese Formel selbst bei KANT nicht zu finden und vielleicht sogar ihr Sinn in dieser Weise ihm nicht geläufig ist. Seine Transscendentalphilosophie ist in ihren Ergebnissen die Wissenschaft von den Prinzipien alles dessen, was wir jetzt mit dem Namen Kultur zusammenfassen. Sie forscht nach den begrifflichen Grundlagen des Wissens, der Sittlichkeit, des Rechts, der Geschichte, der Kunst, der Religion: und sie tut es in dem Sinne, daß diese Grundlagen in ihrer sachlichen Selbstverständlichkeit aufgedeckt werden, wie sie, unabhängig von aller empirischen Erfassung durch das individuelle oder durch das historisch gemeinsame Bewußtsein, an sich gelten. Nichts anderes ist der Sinn des Apriori bei KANT, dieses so vielfach mißverstandenen Wortes. Denn jenes sachlich Selbstverständliche ist, wie es LOTZE gelegentlich fein gezeigt hat, nicht das psychologisch Ursprüngliche, es muß durch die fortschreitende Reflexion der Selbstverständigung des Bewußtseins erst aufgedeckt und zur Anerkennung gebracht werden. Auch hier gilt das aristotelische Wort: das p r o t e r o n t h f u s e i ist das u s t e r o n p r o V h m a V .

Diesen Charakter einer umfassenden Kulturphilosophie hat der Kantische Kritizismus erst allmählich angenommen. Er wurde aufgerollt an der Kritik der Wissenschaft und von da durch die sachliche Notwendigkeit weitergedrängt von einer Kritik zur anderen. Alle formalen Schwierigkeiten, die wir bei dem Verständnis KANTS in der Abgrenzung zwischen der Kritik der Vernunft und dem System der Vernunft antreffen, beruhen schließlich auf diesem entwicklungsgeschichtlichen Verhältnis, und alle scheinbaren Unstimmigkeiten verschwinden, sobald man sich dieses deutlich gemacht hat.

Dieser Entwicklungsgang aber hat sich in der deutschen Philosophie des letzten halben Jahrhunderts wiederholt. Auch [4/5] bei ihrer Erneuerung ist KANTs Lehre zunächst als Erkenntnistheorie aufgerollt und einseitig darauf beschränkt worden. Schon SCHOPENHAUER hatte die praktische Philosophie KANTS und alle ihre Konsequenzen abgelehnt, und wenn man nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Philosophie vermeintlich im Sinne KANTs als Spezialwissenschaft behandelte, so galt sie als Erkenntnistheorie und nur als solche. Dieser Bann ist nun in den letzten Jahrzehnten durchbrochen, und wiederum ist die Gesamtheit der Vernunftbetätigungen in ihrem begrifflichen Grundstock zum Forschungsgebiet der Philosophie geworden. Und das ist in der Tat ein Boden für gemeinsame fruchtbare Begriffsarbeit, wie nur in irgendeiner anderen der besonderen Wissenschaften, und ein reiches Feld für eingehende, bestimmt zu formulierende Aufgaben der Untersuchung. So gefaßt, ist die Philosophie nicht mehr ein allgemeines Gerede „übers Ganze" sondern ernste Begriffsarbeit an Sonderproblemen, die man nur frisch und ohne große methodologische Umständlichkeit anpacken soll.

So hat die Philosophie ihr Eigenrecht und ihre Forschungsstelle auch in einer Akademie und soll sich an deren Arbeiten in diesem Sinne beteiligen. Aber wenn ihr Vertreter an einem festlichen Tage zu Worte kommt, wo die Akademie nach außen heraustritt und sich des Interesses weiterer Kreise dankbar freuen darf, dann wird er, wie es auch dem Vertreter jeder anderen Spezialwissenschaft erlaubt wäre, nicht solche Detailarbeit als Probe vorlegen, sondern für ein Allgemeineres zu interessieren suchen und womöglich eine Frage aufwerfen, die mit der gegenwärtigen Stellung seiner Wissenschaft zu dem geistigen Gesamtleben enger zusammenhängt.

Versuche ich derartiges, so reizt es mich heute, über eine Tatsache Rechenschaft zu geben, die wohl jedem auffällt, der sich einigermaßen mit der gegenwärtigen Philosophie, mit ihrem literarischen und akademischen Betriebe beschäftigt, eine Tatsache, die dabei überall eine gewisse Verwunderung erweckt: das ist die Erneuerung des Hegelianismus.

Diese Tatsache kann man nicht verkennen, und man soll sie nicht unterschätzen. Sie bedeutet mehr als eine Mode des Tages. HEGEL erfährt, wie KANT, im Wechsel der Generationen den Wechsel der Anerkennung, und zwar in noch extremerer Weise. Begeistert einst von einer ganzen Generation empfangen - [5/6] dann verachtet, vergessen, der Verhöhnung preisgegeben scheint er nun zu intensiver Wirkung neu emporzusteigen. Von Tag zu Tag mehren sich die literarischen Arbeiten über seine Philosophie, aus den auf der Berliner Bibliothek lang vergessen lagernden Papieren wird seine Entwicklung mit glücklichem Erfolge studiert, seine Bücher werden neu aufgelegt, und seine Gesamtwerke, die man dereinst für ein Billiges erwerben konnte, sind ein wertvoller antiquarischer Besitz geworden. Vor allem aber, die neueste Arbeit der Philosophie zeigt sich überall durchtränkt von seinen Gedanken, und das junge Geschlecht sehen wir in neuer Begeisterung an seinen Schriften, deren krause Darstellung ihren Schrecken verloren zu haben scheint, sich abmühen.

Dem älteren Geschlecht, dessen Bildung in die mittleren Zeiten des vorigen Jahrhunderts zurückgreift, kommt dies Wiederaufleben der „Hegelei" gar wunderlich vor. Man hat sich damals wohl an den Absonderlichkeiten und Verkehrtheiten der Hegelschen Terminologie, an manchen Verschiefungen tatsächlicher Bestände weidlich belustigt; man hat auch gern SCHOPENHAUERS Tiraden gegen den „großen Charlatan" genossen und meist gemeint, daß man den für immer los sei. Und nun ist er wieder der große Mann, nun soll wohl gar jenes Gerede von An-sich, Für-sich und An- und Für-sich wieder losgehen?!

Was bedeutet diese Auferstehung HEGELS? und wie verträgt sie sich mit dem, was ich vorhin über unsere Philosophie als Spezialwissenschaft gesagt habe? Ist nicht gerade HEGEL wieder ein Metaphysiker alten Stils gewesen? Gilt er nicht als der, welcher das von KANT Zertrümmerte neu errichtet und damit das von KANT Geschaffene wieder verdorben hat? der [!] die alten Prätensionen der Philosophie wieder mit der äußersten Rücksichtslosigkeit gegen die übrigen Wissenschaften hervorgekehrt hat? Und der soll wieder unser Führer werden?

Offenbar ist es erforderlich, in dieser Bewegung scharf zu scheiden und damit so klar wie möglich die Grenzen zu bestimmen, in denen diese neuhegelsche Bewegung gehalten werden muß, wenn sie nicht wieder eine Gefahr für eine ernste und wissenschaftliche Philosophie werden soll.

Das gilt vor allem mit Rücksicht auf die Motive, welche zu der Neubelebung des Hegelianismus aus den Bedürfnissen geführt haben, die von dem geistigen Gesamtzustand unserer Tage her an die Philosophie Antwort heischend herangebracht werden. Es [6/7] ist der Hunger nach Weltanschauung, der unsere junge Generation ergriffen hat und der bei HEGEL Sättigung sucht. Wir haben hier nicht zu fragen, durch welche Wandlungen der geistigen Lage, durch welche Erlebnisse der Volksseele, welche Geschicke des Gesamtlebens diese Stimmung erzeugt worden ist: genug, sie ist da, und sie entlädt sich mit elementarer Gewalt. Unsere Literatur, unsere Kunst, unsere Wissenschaft lassen sie überall erkennen. Und wenn sich dies Geschlecht aus positivistischer Verarmung und materialistischer Verödung zu geistigen Lebensgründen zurücksehnt und zurücksucht, ist es da zu verwundern, daß, da ihm keine neue eindrucksvolle Philosophie geboten wird, es an der Lehre zu haften beginnt, die ihm das Universum als Entwicklung des Geistes in großen Zügen vorführt? Gerade in diesem Sinne kann man bei den persönlichen und den literarischen Formen des Neuhegelianismus vielfach den Einschlag des religiösen Motives beobachten, das in dem Weltanschauungsbedürfnissen einer aufgeregten Zeit noch immer sich so lebhaft als wirksam erwiesen hat.

Je mehr aber aus der erdrückenden Masse des Einzelnen und des Äußerlichen die Sehnsucht der Zeit zu einem Gesamtsinn aller Wirklichkeit emportauchen möchte, um so faszinierender wirkt die imponierende Einheit und die grandiose Geschlossenheit der systematischen Komposition, worin der Hegelsche Panlogismus sich darstellt. Sie hat auch zweifellos etwas an sich, das den ästhetischen Sinn zu befriedigen geeignet ist, und gerade dieses Moment entscheidet sicher vielfach über FICHTE, SCHELLING und HERBART hinaus für HEGEL. Dazu kommt der entwicklungsfrohe Optimismus, der seine Lehre durchpulst, das Vertrauen in der Macht der Vernunft, womit er gegen die düstere Predigt SCHOPENHAUERS vom Elend der Welt obsiegt. Und endlich bricht gegenüber dem schrankenlosen Individualismus, mit dem eine Zeitlang NIETZSCHE unser Volk berauscht hat, in der junghegelschen Strömung die Hingabe an eine geistige Gesamtheit, an einen vernünftigen und allgemeingültigen Lebensinhalt kräftig durch.

In diesem Sinne bedeutet die „Rückkehr zu HEGEL" entschieden eine Art von Gesundung, und sie wird diese Mission erfüllen, wenn sie sich freihält von den wunderlichen Äußerlichkeiten und von den metaphysischen Übereilungen des alten Hegelianismus - wenn sie die Schale abzuwerfen und den [7/8] Kern festzuhalten vermag. Dazu aber ist es erforderlich, daß auch die begriffliche Arbeit der wissenschaftlichen Philosophie sich mit entschiedenem Bewußtsein die Momente zu eigen macht, welche sie selbst bei Hegel für die Lösung ihrer eigenen Aufgaben finden kann: und an solchen fehlt es wahrlich nicht.

Wenn die Philosophie nach KANT sich mit ihrer begrifflichen Arbeit auf die Entwicklung des Systems der Vernunft richten mußte, so ist es in der Tat ein notwendiger Fortschritt gewesen, der von KANT über FICHTE und SCHELLING zu HEGEL führte, und die Wiederholung dieses Prozesses in dem Fortschritt der neuesten Philosophie vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus ist nicht zufällig, sondern besitzt in sich eine sachliche Notwendigkeit.

Es gilt jenes Apriori zu erforschen, das sachliche An-sich der Vernunft, das unabhängig von aller empirischen Erfassung für die Welt der Erfahrung und damit über diese hinaus gilt. Diese Erforschung aber können wir nur mit der menschlichen Vernunft und von ihr aus anstellen. In ihr wird das Apriori , eingebettet in ihren empirischen Tätigkeiten, von uns vorgefunden, um durch die philosophische Kritik herausgearbeitet und in ihrem Geltungsrechte begriffen zu werden. Das meinte KANT mit seiner Frage nach dem Rechtsgrunde der synthetischen Urteile a priori. Unser Bewußtsein findet in sich, zwar nicht auf den ersten und oberflächlichen Anblick, aber bei ernster Selbstdurchforschung eine Anzahl von Voraussetzungen, ohne die das gemeinsame Geistesleben, welches das Wesen aller Kultur ausmacht, unmöglich sein würde. Diese Voraussetzungen lassen sich als Sätze formulieren, die wir mit dem Anspruch auf unbedingte Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit behaupten, deren Geltung wir aus den Daten unserer Erfahrung niemals vollständig begründen können und die wir doch als für diese Erfahrung allgemein und notwendig geltend anerkennen. Solche Voraussetzungen liegen allem wissenschaftlichen Denken, aller sittlichen Lebensgemeinschaft, aller künstlerischen Betätigung im Schaffen und Genießen, aller religiösen Überzeugung und Übung zugrunde. Sie sollen von der Philosophie in ihrer sachlichen Geltung zur Evidenz gebracht werden, aber sie müssen eben deshalb zunächst mit systematischer Vollständigkeit festgestellt werden.

Wie soll nun diese Erforschung und tatsächliche Konsta-[8/9]tierung jener synthetischen Urteile a priori, die ihrer philosophischen Kritik vorhergehen muß, in gesicherter Weise erfolgen? Das war die methodische Grundfrage der nachkantischen Philosophie, und es gab für sie im Grunde nur zwei mögliche Antworten, und diese sind von den beiden Philosophen gegeben worden, die nacheinander auf dem Heidelberger Katheder gestanden haben: FRIES und HEGEL. Nach dem einen erfolgt diese Erforschung aus der Erfahrung des individuellen Seelenlebens mit allen seinen Auszweigungen, nach dem andern aus der Erfahrung der menschlichen Gattungsvernunft in allen ihren historischen Gestaltungen. Nach dem einen ist das Organon der Philosophie die Psychologie, nach dem andern die Geschichte. Beide Philosophen sind im Prinzip gleich weit entfernt davon, die tatsächliche Geltung jener Vernunftwerte, die sie, psychologisch der eine und historisch der andere, vorfinden, mit der philosophischen Geltung zu verwechseln, die es erst durch die Kritik aus der sachlichen Selbstverständlichkeit zu begründen gilt: beide verfahren also in der Absicht, das empirisch Festgestellte nur als das Material für die kritische Bearbeitung zu benutzen.

Diese beiden Methoden, die psychologische und die historische, erscheinen in der Entwicklung von KANT selbst gewissermaßen als die antithetischen Pole. KANTS erste kritische Arbeiten, die Erkenntnistheorie der Inauguraldissertation, wenn man diese schon mitzählen will, in der entschiedensten Weise, aber doch auch noch diejenige der Kritik der reinen Vernunft und der Prolegomena, nehmen als Organon der philosophischen Kritik deutlich die Psychologie: und es ist bekannt, wie schwierig und vieldeutig sich diese Erkenntnistheorie in ihrer kritischen Eigenart aus den psychologischen Feststellungen hat herausarbeiten müssen. Die Analyse der Erfahrung, die das Wesen dieser Theorie ausmacht, hat zwar ihr Ziel in dem kritischen Verständnis und der logischen Begründung eines historisch gegebenen Kulturproduktes, nämlich der Wissenschaft und speziell der Naturwissenschaft in der NEWTON'schen Form: aber ihre Untersuchungen gehen durchaus von dem Standpunkt der psychologischen Erfahrung aus. Ihre Gliederungen und Einteilungen, ihre Voraussetzungen über Seelenvermögen und deren Beziehungen zueinander zeigen überall deutlich die Eierschalen der psychischen Anthropologie. Je mehr aber KANT durch die Kritik der prak-[9/10]tischen Vernunft hindurch zu der Untersuchung der übrigen Kulturbereiche fortschreitet, der Kunst, des Rechts, der geschichtlichen Entwicklung, der Religion - um so mehr verschieben sich die empirischen Vorlagen und Grundlagen seiner Kritik aus dem psychologischen auf das historische Gebiet. In seiner Religionsphilosophie endlich kommt das neue methodische Prinzip mit voller Klarheit durch die Fragestellung heraus: wieviel von dem geistigen Inhalt der historischen Religion hat seine apriorische Geltung in der bloßen Vernunft? Und wie in der ersten Zeit manches Psychologische sich in das kritisch Gültige einzuschleichen wußte, so nunmehr manches Historische. So hat schon KANT die Gefahren beider Methoden an sich erlebt und mit ihnen gerungen, erst die des Psychologismus und dann die des Historismus.

Den Weg aber, den er von der Inauguraldissertation bis zur „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" beschrieben hat, ist in der auf ihn folgenden Generation der Weg von FRIES zu HEGEL: und fragen wir uns, weshalb wir das als einen Fortschritt ansehen, so lassen sich die Gründe, die für den Vorzug der Hegelschen Art sprechen, leicht und einfach einleuchtend machen. Für die Psychologie ist der Mensch als Naturwesen gegeben; sie erforscht die Gesetze der seelischen Bewegung, die er im Prinzip mit allen animalen Wesen teilt, die formalen Bestimmungen der Bewußtseinsvorgänge in Assoziationen und Apperzeptionen von Vorstellungen, Gefühlen und Volitionen. Diese formalen Prozesse nun sind für die Inhalte, für deren Wert und Sinn und für ihre Vernunftbedeutung an sich völlig indifferent, und die Sonne dieser Naturgesetzlichkeit leuchtet gleichmäßig über Ungerechtes und Gerechtes. Als Naturwissenschaft ist die Psychologie unfähig, Vernunftwerte kritisch zu bestimmen oder gar zu begründen. Schon Aristoteles hat die Lehre vom n o u V als ein völlig Neues über der Lehre von der a i s J h s i V und der o r e x i V errichtet. Nur insofern als die Vernunftwerte Inhalt und Gegenstand für die psychischen Funktionen des Vorstellens, Fühlens, Begehrens werden können - aber sie können es formal nicht anders als alle beliebigen sonstigen Inhalte -, nur insofern kann von den Vernunftwerten auch in der Psychologie die Rede sein. Aber sie sind in dieser eben immer nur geborgt, der Psychologe weiß von ihnen nur zufällig, weil er selber als Kulturmensch die ganze Fülle der historischen Tra-[10/11]dition in sich hat. Denn der eigentliche Herd für unser Wissen von den Kulturwerten ist eben die Geschichte, in der sie mit der fortschreitenden Zusammenschmelzung der Völker zur Menschheit durch das Ringen der Gesamtheit erworben werden Wissenschaft, Moral und Recht ebenso, wie Kunst und Religion. Der Mensch als Vernunftwesen ist nicht psychologisch gegeben, sondern historisch aufgegeben. Nur als geschichtliche Wesen, als die in der Entwicklung begriffene Gattung haben wir Anteil an der Weltvernunft. Darum ist die Geschichte das wahre Organon der Philosophie: hegelsch zu reden, der objektive Geist ist die Wohnstätte des absoluten Geistes.

Deshalb ist die Philosophie von heute wieder im Begriff, zu der Hegelschen Methode zurückzukehren: aus dem historischen Kosmos, wie ihn die Erfahrung der Kulturwissenschaften darbietet, die Prinzipien der Vernunft herauszuarbeiten. Mit einer Art von grotesker Vergrößerung und Vergröberung hat man jenen Weg von der einen zu der anderen Methode noch einmal durchlaufen müssen. Die Erneuerung des Kantianismus, wie sie vor fünfzig Jahren einsetzte, war, wie vorhin erwähnt, einseitig erkenntnistheoretisch orientiert, und schon deshalb lief sie, auch wenn nicht noch andere Momente hinzugekommen wären, sehr bald in Psychologismus aus und verstrickte sich in einen Relativismus, dem die Vernunftwerte unter den Händen zerrannen in anthropologische Notwendigkeiten und Erforderlichkeiten. Aus der „Kritik" wurde schließlich nur eine Konstatierung des empirisch Tatsächlichen und im besten Falle ein Versuch seiner naturgesetzmäßigen Erklärung; und es war eine unvermeidliche Konsequenz, daß dieser Psychologismus zeitweilig sich auch die Ethik und die Ästhetik zu erobern versuchte, als das hoffnungslose Beginnen, die Vernunft, den Sinn und den Wert des Menschenlebens lediglich aus seinen natürlichen Gegebenheiten zu begreifen. Das ergab dann zuletzt den Verzicht auf eine eigene Aufgabe der Philosophie neben der Psychologie und damit zugleich eine Verödung und Entleerung dieser Psychologie selbst, indem sie zu einem dilettantischen Betriebe desjenigen verkümmerte, was der Physiologe besser macht.

Von diesem Tiefpunkt ihrer Wellenbewegung hat sich die Philosophie allmählich zu dem ganzen Kritizismus zurückgefunden, der die historische Grundlage verlangt. Schon wenn man die Aufgabe der Erkenntnistheorie von der Kritik der Natur-[11/12]forschung, auf die sie KANT im Sinne seiner Zeit eingeschränkt hatte, auf die Kritik der Kulturforschung erweiterte, die sich inzwischen in den historischen Wissenschaften so mächtig betätigt hat, schon damit wurden in den Umkreis des theoretischen Denkens die Prinzipien der Wertung hineinbezogen, und seitdem LOTZE die Rücksicht auf das Reich der Werte als entscheidendes Moment bereits für die logische Theorie eingeführt hatte, wurde dem philosophischen Denken die ganze Fülle der historischen Entwicklung der Vernunftwerte von neuem als das fruchtbare Feld für seine begriffliche Durcharbeitung eröffnet.

Das ist der Sieg, den HEGEL von neuem über FRIES zu erringen im Begriffe ist. Aber dieser Sieg darf nicht erkauft werden durch den Verfall in den Historismus, welcher eine mindestens ebenso bedenkliche Art des Relativismus ausmacht, wie der Psychologismus. Die Bedeutung der Geschichte als des Organon der Philosophie darf nicht besagen, daß nun alles historisch Geltende als Vernunftwert einfach hingenommen werden soll. Auch diese Empirie gibt eben nur das Material für die philosophische Kritik, deren Prinzip man am besten als das der Evidenz der immanenten Sachlichkeit bezeichnen kann. Gerade in dieser Hinsicht aber bietet die Hegelsche Philosophie zur Überwindung jener Gefahr des Historismus selber die beste Waffe. Damit berühren wir tiefgreifende Probleme, mit denen die neueste Philosophie beschäftigt ist und für die deshalb die prinzipielle Grundlage des Hegelianismus eine besondere Bedeutsamkeit besitzt.

Wir erleben die Vernunftwerte freilich als denkende Menschen in unserer Erfahrung immer so, daß sie sich uns als Inhalte und Gegenstände unserer Funktionen, psychologischer oder historischer Tätigkeiten darbieten. Aber - und das hat HEGEL mit aller Energie hervorgehoben - ihre Vernünftigkeit oder ihr Vernunftwert ist offenbar von diesen unsern Tätigkeiten selbst völlig unabhängig. Umgekehrt erhalten unsere Tätigkeiten ihren Vernunftwert erst dadurch, daß sie diese Inhalte zu ihren Gegenständen machen. Ein Satz wird nicht dadurch wahr, daß wir ihn bejahen: sondern wir sollen ihn bejahen, weil er wahr ist. Eine Gesinnung wird nicht dadurch gut, daß wir sie billigen: sondern wir sollen sie billigen, weil sie gut ist. Das sind elementare und unangreifbare Erlebnisse des logischen und des ethischen Gewissens. Für diese Unabhängigkeit der Vernunftwerte von [12/13] den Funktionen menschlicher Vernunft, mag diese individuell oder historisch tätig sein, für dies An-sich-bestehen der Wahrheit, das doch keine gemeine Wirklichkeit, weder im Sinne des dinghaften Seins, noch in der Art des tatsächlichen Geschehens bedeutet, hat LOTZE den glücklichen Terminus des „Geltens" eingeführt, und er hat damit in den berühmten und fundamentalen Paragraphen seiner Logik (316ff.) die geistreiche und glänzende Deutung der Platonischen Ideenlehre. und des Sinnes vom Begriffe des o n t w V o n gegeben. Aber dieselbe Erörterung leitet bei LOTZE auch die bedeutsame Schlußwendung seiner Logik ein, mit der er sich - vorbildlich - zu HEGEL bekannt hat.

Dies Gelten der Vernunftwerte, wodurch sie für die menschlichen Vernunftfunktionen zu den Normen werden, denen diese sich fügen sollen, ist der äußerste Punkt, bis zu welchem die Analyse der kritischen Philosophie vordringen kann. Ihre unmittelbare Evidenz in ihrer immanenten sachlichen Selbstbegründung für das empirische Bewußtsein zur tatsächlichen Geltung zu bringen, ist das ganze Geschäft der Philosophie. Und das ist ihr Unterschied von der neuen Metaphysik.

Bei KANT ist dies An-sich-gelten in dem Begriff des „Bewußtseins überhaupt" gemeint. Er bezeichnet damit den Ort für alle Voraussetzungen immanent sachlicher Notwendigkeit, auf denen die Erfahrung, d. h. die von uns erlebte Vernunftbetätigung beruht, und ihre systematische Einheit nennt er das Prinzip der Apperzeption. Was es zunächst in seiner wissenschaftstheoretischen Bedeutung besagen will, läßt sich vielleicht am einfachsten so formulieren: Alle Inhalte der äußeren Erfahrung erlangen erst dadurch Gegenständlichkeit, d. h. allgemeine und notwendige Geltung, daß sie in den Zusammenhang desselben einen unendlichen Raums eingestellt sind, der selber kein Gegenstand der Erfahrung ist; ebenso erlangen alle Erlebnisse überhaupt nur dadurch Gegenständlichkeit, d. h. allgemeine und notwendige Geltung, daß sie in die Ordnung derselben einen unendlichen Zeit eingestellt sind, die selber niemals erlebt wird: und ebenso erhält alles, was für uns gegenständliche Realität als Substanz oder Funktion haben soll, diese allgemeine und notwendige Geltung erst dadurch, daß es in den Kategorien, d. h. in den Formen der transscendentalen Apperzeption desselben einen Subjektes gedacht wird, das selber niemals Gegenstand der Erkenntnis ist. [13/14]

Nun hatte schon KANT alle Mühe, dieses „Bewußtsein überhaupt" vor der metaphysischen Ausdeutung zu schützen, die ihm sein eigenes persönliches Weltanschauungsbedürfnis nahelegte. Der zunächst hypothetisch eingeführte „intuitive Verstand", der intellectus archetypus, dann - nach den Postulaten der praktischen Vernunft - in der Kritik der Urteilskraft das „übersinnliche Substrat der Menschheit", das alles waren schüchterne Ansätze zur Metaphysizierung des „Bewußtseins überhaupt", denen HEGEL nur den rechten Namen gab, wenn er es Gott nannte. Denn es gehört zum unerläßlichen Inventar des religiösen Bewußtseins, den Inbegriff und den einheitlichen Zusammenhang aller Inhalte, denen jenes Gelten zukommt, als seiend im Sinne einer metaphysischen Realität zu denken. Hier ist also der Punkt, an dem auch dem Neuhegelianismus die kritische Grenze in dem alten Kantischen Sinne zu ziehen ist.

Aber damit ist noch ein anderes geboten. Es betrifft den Zusammenhang der Vernunftwerte. Er ist durch das Postulat der Vernunfteinheit aufgegeben, aber nicht gegeben. Wir finden sie, historisch bedingt, einzeln und in einzelnen Zusammenhängen vor, die wir nachzuerleben vermögen, als die Inhalte unserer Vernunftfunktionen. Indem aber ihr Gelten von diesen unseren Funktionen unabhängig ist, wird ihr immanent sachlicher Zusammenhang in seiner Totalität zu einer notwendigen Voraussetzung, aber auch zu einem unlösbaren Problem - geradeso wie dereinst bei PLATON die k o i n w n i a t w n i d e w n . HEGEL bezeichnete diesen Zusammenhang in seiner eigenartigen Sprache als die Bewegung der Wahrheit in sich selbst, als die Selbstentzweiung der Idee, die aus ihrer Zerrissenheit zu sich selbst zurückkehre. Er dachte in dieser Selbstbewegung des Gedankens zugleich die Unabhängigkeit des Geltens-an-sich von der Anerkennung durch irgendwelche empirische Bewußtseinsfunktionen und die notwendige Verknüpfung der Vernunftwerte untereinander. Dies zu verstehen, war der Sinn seiner dialektischen Methode. Er meinte damit jenes letzte Problem zu lösen, das KANT als die Spezifikation der Natur formuliert hatte: zu begreifen, wie die Gliederung, in der sich für unsere Erfahrung das Universum darstellt, als eine innere Notwendigkeit in der Idee des Ganzen begründet ist. Statt die Welt analytisch zusammenzubuchstabieren, sollte die Philosophie sie synthetisch konstruieren. [14/15]

Die dialektische Methode hängt somit auf das Genaueste mit der metaphysischen Hypostasierung der Ideen zusammen, und so sehr wir die Feinfühligkeit und den bohrenden Tiefsinn, vor allem aber die Zähigkeit der begrifflichen Arbeit bewundern mögen, mit der HEGEL, namentlich in dem Filigranwerk seiner Logik, einzelne Zusammenhänge genial aufgedeckt hat, so wenig kann doch solche Dialektik als Ganzes wieder die Methode der Philosophie bilden. Deshalb wird die Philosophie, wenn sie als eigene Wissenschaft eine Spezialforschung über die begriffliche Struktur alles Kulturbewußtseins sein will, starken Anlaß haben, sich den formalen Eigenarten und Unarten ebenso wie den metaphysischen Neigungen des Hegelianismus gegenüber äußerst vorsichtig zu verhalten. Aber ich glaube doch verständlich gemacht zu haben, wie sehr einerseits die Erneuerung des Hegelianismus, die wir erleben, aus den Weltanschauungsbedürfnissen zu begreifen ist, die von außen her als gebieterische Anforderungen an die heutige Philosophie herantreten, und wie intim andererseits die Beziehungen der Hegelschen Begriffsarbeit zu den eigensten Aufgaben der wissenschaftlichen Philosophie selbst sind.

Eines aber möchte ich zum Schluß auch nicht unerwähnt lassen. Aus der aufgeregten und leidenschaftlich zerrissenen geistigen Lage, in der wir stehen, tönt uns in lauter Vielstimmigkeit der Ruf nach einer Philosophie der Tat und des Willens entgegen. Ja, in einer schwer begreiflichen Selbsttäuschung verlangt wohl gar eine solche Philosophie von sich selbst, sie solle die Vernunftwerte nicht suchen oder verstehen, sondern gesetzgebend neu erzeugen. Diesem Treiben gegenüber kann die Versenkung in den gewissenhaften Ernst, mit dem die Hegelsche Philosophie die Vernunft in der Welt bis in das Einzelnste hinein zu verstehen und begrifflich herauszuarbeiten sucht, - kann die Erneuerung dieser mühseligen Forscherandacht zum Kleinen, die doch aus dem Großen heraus denkt, nur eine wohltätig erzieherische Wirkung haben. Vor allem aber wird sie geeignet sein, den Zusammenhang der Philosophie mit den übrigen Einzelwissenschaften wieder so innig und fruchtbar zu gestalten, wie er in HEGELS Zeiten - nicht zum Nachteil von beiden - gewesen ist.


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