Verlags-Nr. 466.
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er große Anreger und Begründer der europäischen
Akademien, LEIBNIZ, wollte dereinst der Philosophie keine eigene Stelle in der
Akademie zugestehen. Die Aufgabe der Akademie liegt - im Unterschiede einerseits
von dem gelehrten Unterricht, andererseits von der allgemeinen Literatur - bei
der Spezialforschung, und für sie mochte LEIBNIZ ein eigenes Gebiet der
Philosophie nicht anerkennen. Vielmehr sollte die Gesamtheit der
Einzelforschungen schließlich von selbst der Philosophie in dem Sinne
zugute kommen, wie sie als die zusammenfassende Gesamtwissenschaft sich damals
auffaßte. Das war charakteristisch für die klassische Zeit der
dogmatischen Metaphysik. Sie glaubte alle Erforschung des Einzelnen, alles
besondere Wissen den speziellen Disziplinen überlassen zu sollen und
behielt sich selbst nur ein harmonisierendes Zusammenarbeiten der Ergebnisse
vor. Auch wenn sich dies in dem Maße als eine ernste begriffliche Arbeit
darstellte, wie es bei LEIBNIZ selbst der Fall war, so hatte es doch eine Art
von künstlerischem Einschlag, wie man ihn später mit dem Ausdruck Begriffsdichtung"
bezeichnet hat, und damit geriet es zu den
belles lettres
in die gefährlich enge Nähe, die für die
Philosophie des ganzen achtzehnten Jahrhunderts und namentlich für die
Aufklärungsphilosophie charakteristisch geblieben ist.
Durch KANT haben sich diese Verhältnisse geändert. Die
Philosophie ist jetzt eine Spezialwissenschaft mit eigenem Forschungsgebiet. Sie
ist es anerkannterweise zunächst in dem negativen Sinne, daß sie gern
darauf verzichtet, das von den andern Wissenschaften bereits Erkannte irgendwie
ihrerseits von neuem erkennen oder durch metaphysische Beziehungen etwa ergänzen
zu wollen. Nur nachzüglerische Gewöhnungen, an denen es natürlich
nicht gänzlich fehlt, halten heutzutage wohl noch an jenen Bestrebungen
fest. Unsicherer ist die Formu-[3/4]lierung für die positive Abgrenzung und
inhaltliche Bestimmung des eigenen Forschungsgebietes der Philosophie: sie ist
noch nicht in eindeutiger und allgemein angenommener Weise bestimmt.
KANT hat dies Forschungsgebiet mit dem Namen der Kritik der
Vernunft bezeichnet: wobei unter Kritik die Besinnung, die systematische
Besinnung auf die prinzipiellen Grundlagen alles Vernunftlebens, die
wissenschaftliche Bloßlegung der Grundstruktur aller Kulturfunktionen zu
verstehen ist. Das ist tatsächlich der Ertrag der Kantischen Kritiken, wenn
auch diese Formel selbst bei KANT nicht zu finden und vielleicht sogar ihr Sinn
in dieser Weise ihm nicht geläufig ist. Seine Transscendentalphilosophie
ist in ihren Ergebnissen die Wissenschaft von den Prinzipien alles dessen, was
wir jetzt mit dem Namen Kultur zusammenfassen. Sie forscht nach den
begrifflichen Grundlagen des Wissens, der Sittlichkeit, des Rechts, der
Geschichte, der Kunst, der Religion: und sie tut es in dem Sinne, daß
diese Grundlagen in ihrer sachlichen Selbstverständlichkeit aufgedeckt
werden, wie sie, unabhängig von aller empirischen Erfassung durch das
individuelle oder durch das historisch gemeinsame Bewußtsein, an sich
gelten. Nichts anderes ist der Sinn des
Apriori
bei KANT, dieses so vielfach mißverstandenen Wortes. Denn
jenes sachlich Selbstverständliche ist, wie es LOTZE gelegentlich fein
gezeigt hat, nicht das psychologisch Ursprüngliche, es muß durch die
fortschreitende Reflexion der Selbstverständigung des Bewußtseins
erst aufgedeckt und zur Anerkennung gebracht werden. Auch hier gilt das
aristotelische Wort: das
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Diesen Charakter einer umfassenden Kulturphilosophie hat der
Kantische Kritizismus erst allmählich angenommen. Er wurde aufgerollt an
der Kritik der Wissenschaft und von da durch die sachliche Notwendigkeit
weitergedrängt von einer Kritik zur anderen. Alle formalen Schwierigkeiten,
die wir bei dem Verständnis KANTS in der Abgrenzung zwischen der Kritik der
Vernunft und dem System der Vernunft antreffen, beruhen schließlich auf
diesem entwicklungsgeschichtlichen Verhältnis, und alle scheinbaren
Unstimmigkeiten verschwinden, sobald man sich dieses deutlich gemacht hat.
Dieser Entwicklungsgang aber hat sich in der deutschen
Philosophie des letzten halben Jahrhunderts wiederholt. Auch [4/5] bei ihrer
Erneuerung ist KANTs Lehre zunächst als Erkenntnistheorie aufgerollt und
einseitig darauf beschränkt worden. Schon SCHOPENHAUER hatte die praktische
Philosophie KANTS und alle ihre Konsequenzen abgelehnt, und wenn man nach der
Mitte des vorigen Jahrhunderts die Philosophie vermeintlich im Sinne KANTs als
Spezialwissenschaft behandelte, so galt sie als Erkenntnistheorie und nur als
solche. Dieser Bann ist nun in den letzten Jahrzehnten durchbrochen, und
wiederum ist die Gesamtheit der Vernunftbetätigungen in ihrem begrifflichen
Grundstock zum Forschungsgebiet der Philosophie geworden. Und das ist in der Tat
ein Boden für gemeinsame fruchtbare Begriffsarbeit, wie nur in irgendeiner
anderen der besonderen Wissenschaften, und ein reiches Feld für eingehende,
bestimmt zu formulierende Aufgaben der Untersuchung. So gefaßt, ist die
Philosophie nicht mehr ein allgemeines Gerede übers Ganze"
sondern ernste Begriffsarbeit an Sonderproblemen, die man nur frisch und ohne
große methodologische Umständlichkeit anpacken soll.
So hat die Philosophie ihr Eigenrecht und ihre Forschungsstelle
auch in einer Akademie und soll sich an deren Arbeiten in diesem Sinne
beteiligen. Aber wenn ihr Vertreter an einem festlichen Tage zu Worte kommt, wo
die Akademie nach außen heraustritt und sich des Interesses weiterer
Kreise dankbar freuen darf, dann wird er, wie es auch dem Vertreter jeder
anderen Spezialwissenschaft erlaubt wäre, nicht solche Detailarbeit als
Probe vorlegen, sondern für ein Allgemeineres zu interessieren suchen und
womöglich eine Frage aufwerfen, die mit der gegenwärtigen Stellung
seiner Wissenschaft zu dem geistigen Gesamtleben enger zusammenhängt.
Versuche ich derartiges, so reizt es mich heute, über eine
Tatsache Rechenschaft zu geben, die wohl jedem auffällt, der sich einigermaßen
mit der gegenwärtigen Philosophie, mit ihrem literarischen und akademischen
Betriebe beschäftigt, eine Tatsache, die dabei überall eine gewisse
Verwunderung erweckt: das ist die Erneuerung des Hegelianismus.
Diese Tatsache kann man nicht verkennen, und man soll sie nicht
unterschätzen. Sie bedeutet mehr als eine Mode des Tages. HEGEL erfährt,
wie KANT, im Wechsel der Generationen den Wechsel der Anerkennung, und zwar in
noch extremerer Weise. Begeistert einst von einer ganzen Generation empfangen -
[5/6] dann verachtet, vergessen, der Verhöhnung preisgegeben scheint er nun
zu intensiver Wirkung neu emporzusteigen. Von Tag zu Tag mehren sich die
literarischen Arbeiten über seine Philosophie, aus den auf der Berliner
Bibliothek lang vergessen lagernden Papieren wird seine Entwicklung mit glücklichem
Erfolge studiert, seine Bücher werden neu aufgelegt, und seine Gesamtwerke,
die man dereinst für ein Billiges erwerben konnte, sind ein wertvoller
antiquarischer Besitz geworden. Vor allem aber, die neueste Arbeit der
Philosophie zeigt sich überall durchtränkt von seinen Gedanken, und
das junge Geschlecht sehen wir in neuer Begeisterung an seinen Schriften, deren
krause Darstellung ihren Schrecken verloren zu haben scheint, sich abmühen.
Dem älteren Geschlecht, dessen Bildung in die mittleren
Zeiten des vorigen Jahrhunderts zurückgreift, kommt dies Wiederaufleben der
Hegelei" gar wunderlich vor. Man hat sich damals wohl an den
Absonderlichkeiten und Verkehrtheiten der Hegelschen Terminologie, an manchen
Verschiefungen tatsächlicher Bestände weidlich belustigt; man hat auch
gern SCHOPENHAUERS Tiraden gegen den großen Charlatan" genossen
und meist gemeint, daß man den für immer los sei. Und nun ist er
wieder der große Mann, nun soll wohl gar jenes Gerede von An-sich, Für-sich
und An- und Für-sich wieder losgehen?!
Was bedeutet diese Auferstehung HEGELS? und wie verträgt
sie sich mit dem, was ich vorhin über unsere Philosophie als
Spezialwissenschaft gesagt habe? Ist nicht gerade HEGEL wieder ein Metaphysiker
alten Stils gewesen? Gilt er nicht als der, welcher das von KANT Zertrümmerte
neu errichtet und damit das von KANT Geschaffene wieder verdorben hat? der [!]
die alten Prätensionen der Philosophie wieder mit der äußersten
Rücksichtslosigkeit gegen die übrigen Wissenschaften hervorgekehrt
hat? Und der soll wieder unser Führer werden?
Offenbar ist es erforderlich, in dieser Bewegung scharf zu
scheiden und damit so klar wie möglich die Grenzen zu bestimmen, in denen
diese neuhegelsche Bewegung gehalten werden muß, wenn sie nicht wieder
eine Gefahr für eine ernste und wissenschaftliche Philosophie werden soll.
Das gilt vor allem mit Rücksicht auf die Motive, welche zu
der Neubelebung des Hegelianismus aus den Bedürfnissen geführt haben,
die von dem geistigen Gesamtzustand unserer Tage her an die Philosophie Antwort
heischend herangebracht werden. Es [6/7] ist der Hunger nach Weltanschauung, der
unsere junge Generation ergriffen hat und der bei HEGEL Sättigung sucht.
Wir haben hier nicht zu fragen, durch welche Wandlungen der geistigen Lage,
durch welche Erlebnisse der Volksseele, welche Geschicke des Gesamtlebens diese
Stimmung erzeugt worden ist: genug, sie ist da, und sie entlädt sich mit
elementarer Gewalt. Unsere Literatur, unsere Kunst, unsere Wissenschaft lassen
sie überall erkennen. Und wenn sich dies Geschlecht aus positivistischer
Verarmung und materialistischer Verödung zu geistigen Lebensgründen
zurücksehnt und zurücksucht, ist es da zu verwundern, daß, da
ihm keine neue eindrucksvolle Philosophie geboten wird, es an der Lehre zu
haften beginnt, die ihm das Universum als Entwicklung des Geistes in großen
Zügen vorführt? Gerade in diesem Sinne kann man bei den persönlichen
und den literarischen Formen des Neuhegelianismus vielfach den Einschlag des
religiösen Motives beobachten, das in dem Weltanschauungsbedürfnissen
einer aufgeregten Zeit noch immer sich so lebhaft als wirksam erwiesen hat.
Je mehr aber aus der erdrückenden Masse des Einzelnen und
des Äußerlichen die Sehnsucht der Zeit zu einem Gesamtsinn aller
Wirklichkeit emportauchen möchte, um so faszinierender wirkt die
imponierende Einheit und die grandiose Geschlossenheit der systematischen
Komposition, worin der Hegelsche Panlogismus sich darstellt. Sie hat auch
zweifellos etwas an sich, das den ästhetischen Sinn zu befriedigen geeignet
ist, und gerade dieses Moment entscheidet sicher vielfach über FICHTE,
SCHELLING und HERBART hinaus für HEGEL. Dazu kommt der entwicklungsfrohe
Optimismus, der seine Lehre durchpulst, das Vertrauen in der Macht der Vernunft,
womit er gegen die düstere Predigt SCHOPENHAUERS vom Elend der Welt
obsiegt. Und endlich bricht gegenüber dem schrankenlosen Individualismus,
mit dem eine Zeitlang NIETZSCHE unser Volk berauscht hat, in der junghegelschen
Strömung die Hingabe an eine geistige Gesamtheit, an einen vernünftigen
und allgemeingültigen Lebensinhalt kräftig durch.
In diesem Sinne bedeutet die Rückkehr zu HEGEL"
entschieden eine Art von Gesundung, und sie wird diese Mission erfüllen,
wenn sie sich freihält von den wunderlichen Äußerlichkeiten und
von den metaphysischen Übereilungen des alten Hegelianismus - wenn sie die
Schale abzuwerfen und den [7/8] Kern festzuhalten vermag. Dazu aber ist es
erforderlich, daß auch die begriffliche Arbeit der wissenschaftlichen
Philosophie sich mit entschiedenem Bewußtsein die Momente zu eigen macht,
welche sie selbst bei Hegel für die Lösung ihrer eigenen Aufgaben
finden kann: und an solchen fehlt es wahrlich nicht.
Wenn die Philosophie nach KANT sich mit ihrer begrifflichen
Arbeit auf die Entwicklung des Systems der Vernunft richten mußte, so ist
es in der Tat ein notwendiger Fortschritt gewesen, der von KANT über FICHTE
und SCHELLING zu HEGEL führte, und die Wiederholung dieses Prozesses in dem
Fortschritt der neuesten Philosophie vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus
ist nicht zufällig, sondern besitzt in sich eine sachliche Notwendigkeit.
Es gilt jenes
Apriori
zu erforschen, das sachliche An-sich der Vernunft, das unabhängig
von aller empirischen Erfassung für die Welt der Erfahrung und damit über
diese hinaus gilt. Diese Erforschung aber können wir nur mit der
menschlichen Vernunft und von ihr aus anstellen. In ihr wird das
Apriori
, eingebettet in ihren empirischen Tätigkeiten, von uns
vorgefunden, um durch die philosophische Kritik herausgearbeitet und in ihrem
Geltungsrechte begriffen zu werden. Das meinte KANT mit seiner Frage nach dem
Rechtsgrunde der synthetischen Urteile a priori. Unser Bewußtsein findet
in sich, zwar nicht auf den ersten und oberflächlichen Anblick, aber bei
ernster Selbstdurchforschung eine Anzahl von Voraussetzungen, ohne die das
gemeinsame Geistesleben, welches das Wesen aller Kultur ausmacht, unmöglich
sein würde. Diese Voraussetzungen lassen sich als Sätze formulieren,
die wir mit dem Anspruch auf unbedingte Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
behaupten, deren Geltung wir aus den Daten unserer Erfahrung niemals vollständig
begründen können und die wir doch als für diese Erfahrung
allgemein und notwendig geltend anerkennen. Solche Voraussetzungen liegen allem
wissenschaftlichen Denken, aller sittlichen Lebensgemeinschaft, aller künstlerischen
Betätigung im Schaffen und Genießen, aller religiösen Überzeugung
und Übung zugrunde. Sie sollen von der Philosophie in ihrer sachlichen
Geltung zur Evidenz gebracht werden, aber sie müssen eben deshalb zunächst
mit systematischer Vollständigkeit festgestellt werden.
Wie soll nun diese Erforschung und tatsächliche
Konsta-[8/9]tierung jener synthetischen Urteile a priori, die ihrer
philosophischen Kritik vorhergehen muß, in gesicherter Weise erfolgen? Das
war die methodische Grundfrage der nachkantischen Philosophie, und es gab für
sie im Grunde nur zwei mögliche Antworten, und diese sind von den beiden
Philosophen gegeben worden, die nacheinander auf dem Heidelberger Katheder
gestanden haben: FRIES und HEGEL. Nach dem einen erfolgt diese Erforschung aus
der Erfahrung des individuellen Seelenlebens mit allen seinen Auszweigungen,
nach dem andern aus der Erfahrung der menschlichen Gattungsvernunft in allen
ihren historischen Gestaltungen. Nach dem einen ist das Organon der Philosophie
die Psychologie, nach dem andern die Geschichte. Beide Philosophen sind im
Prinzip gleich weit entfernt davon, die tatsächliche Geltung jener
Vernunftwerte, die sie, psychologisch der eine und historisch der andere,
vorfinden, mit der philosophischen Geltung zu verwechseln, die es erst durch die
Kritik aus der sachlichen Selbstverständlichkeit zu begründen gilt:
beide verfahren also in der Absicht, das empirisch Festgestellte nur als das
Material für die kritische Bearbeitung zu benutzen.
Diese beiden Methoden, die psychologische und die historische,
erscheinen in der Entwicklung von KANT selbst gewissermaßen als die
antithetischen Pole. KANTS erste kritische Arbeiten, die Erkenntnistheorie der
Inauguraldissertation, wenn man diese schon mitzählen will, in der
entschiedensten Weise, aber doch auch noch diejenige der Kritik der reinen
Vernunft und der Prolegomena, nehmen als Organon der philosophischen Kritik
deutlich die Psychologie: und es ist bekannt, wie schwierig und vieldeutig sich
diese Erkenntnistheorie in ihrer kritischen Eigenart aus den psychologischen
Feststellungen hat herausarbeiten müssen. Die Analyse der Erfahrung, die
das Wesen dieser Theorie ausmacht, hat zwar ihr Ziel in dem kritischen Verständnis
und der logischen Begründung eines historisch gegebenen Kulturproduktes, nämlich
der Wissenschaft und speziell der Naturwissenschaft in der NEWTON'schen Form:
aber ihre Untersuchungen gehen durchaus von dem Standpunkt der psychologischen
Erfahrung aus. Ihre Gliederungen und Einteilungen, ihre Voraussetzungen über
Seelenvermögen und deren Beziehungen zueinander zeigen überall
deutlich die Eierschalen der psychischen Anthropologie. Je mehr aber KANT durch
die Kritik der prak-[9/10]tischen Vernunft hindurch zu der Untersuchung der übrigen
Kulturbereiche fortschreitet, der Kunst, des Rechts, der geschichtlichen
Entwicklung, der Religion - um so mehr verschieben sich die empirischen Vorlagen
und Grundlagen seiner Kritik aus dem psychologischen auf das historische Gebiet.
In seiner Religionsphilosophie endlich kommt das neue methodische Prinzip mit
voller Klarheit durch die Fragestellung heraus: wieviel von dem geistigen Inhalt
der historischen Religion hat seine apriorische Geltung in der bloßen
Vernunft? Und wie in der ersten Zeit manches Psychologische sich in das kritisch
Gültige einzuschleichen wußte, so nunmehr manches Historische. So hat
schon KANT die Gefahren beider Methoden an sich erlebt und mit ihnen gerungen,
erst die des Psychologismus und dann die des Historismus.
Den Weg aber, den er von der Inauguraldissertation bis zur Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" beschrieben hat, ist in
der auf ihn folgenden Generation der Weg von FRIES zu HEGEL: und fragen wir uns,
weshalb wir das als einen Fortschritt ansehen, so lassen sich die Gründe,
die für den Vorzug der Hegelschen Art sprechen, leicht und einfach
einleuchtend machen. Für die Psychologie ist der Mensch als Naturwesen
gegeben; sie erforscht die Gesetze der seelischen Bewegung, die er im Prinzip
mit allen animalen Wesen teilt, die formalen Bestimmungen der Bewußtseinsvorgänge
in Assoziationen und Apperzeptionen von Vorstellungen, Gefühlen und
Volitionen. Diese formalen Prozesse nun sind für die Inhalte, für
deren Wert und Sinn und für ihre Vernunftbedeutung an sich völlig
indifferent, und die Sonne dieser Naturgesetzlichkeit leuchtet gleichmäßig
über Ungerechtes und Gerechtes. Als Naturwissenschaft ist die Psychologie
unfähig, Vernunftwerte kritisch zu bestimmen oder gar zu begründen.
Schon Aristoteles hat die Lehre vom
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als ein völlig Neues über der Lehre von der
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und der
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errichtet. Nur insofern als die Vernunftwerte Inhalt und
Gegenstand für die psychischen Funktionen des Vorstellens, Fühlens,
Begehrens werden können - aber sie können es formal nicht anders als
alle beliebigen sonstigen Inhalte -, nur insofern kann von den Vernunftwerten
auch in der Psychologie die Rede sein. Aber sie sind in dieser eben immer nur
geborgt, der Psychologe weiß von ihnen nur zufällig, weil er selber
als Kulturmensch die ganze Fülle der historischen Tra-[10/11]dition in sich
hat. Denn der eigentliche Herd für unser Wissen von den Kulturwerten ist
eben die Geschichte, in der sie mit der fortschreitenden Zusammenschmelzung der
Völker zur Menschheit durch das Ringen der Gesamtheit erworben werden
Wissenschaft, Moral und Recht ebenso, wie Kunst und Religion. Der Mensch als
Vernunftwesen ist nicht psychologisch gegeben, sondern historisch aufgegeben.
Nur als geschichtliche Wesen, als die in der Entwicklung begriffene Gattung
haben wir Anteil an der Weltvernunft. Darum ist die Geschichte das wahre Organon
der Philosophie: hegelsch zu reden, der objektive Geist ist die Wohnstätte
des absoluten Geistes.
Deshalb ist die Philosophie von heute wieder im Begriff, zu der
Hegelschen Methode zurückzukehren: aus dem historischen Kosmos, wie ihn die
Erfahrung der Kulturwissenschaften darbietet, die Prinzipien der Vernunft
herauszuarbeiten. Mit einer Art von grotesker Vergrößerung und Vergröberung
hat man jenen Weg von der einen zu der anderen Methode noch einmal durchlaufen müssen.
Die Erneuerung des Kantianismus, wie sie vor fünfzig Jahren einsetzte, war,
wie vorhin erwähnt, einseitig erkenntnistheoretisch orientiert, und schon
deshalb lief sie, auch wenn nicht noch andere Momente hinzugekommen wären,
sehr bald in Psychologismus aus und verstrickte sich in einen Relativismus, dem
die Vernunftwerte unter den Händen zerrannen in anthropologische
Notwendigkeiten und Erforderlichkeiten. Aus der Kritik" wurde schließlich
nur eine Konstatierung des empirisch Tatsächlichen und im besten Falle ein
Versuch seiner naturgesetzmäßigen Erklärung; und es war eine
unvermeidliche Konsequenz, daß dieser Psychologismus zeitweilig sich auch
die Ethik und die Ästhetik zu erobern versuchte, als das hoffnungslose
Beginnen, die Vernunft, den Sinn und den Wert des Menschenlebens lediglich aus
seinen natürlichen Gegebenheiten zu begreifen. Das ergab dann zuletzt den
Verzicht auf eine eigene Aufgabe der Philosophie neben der Psychologie und damit
zugleich eine Verödung und Entleerung dieser Psychologie selbst, indem sie
zu einem dilettantischen Betriebe desjenigen verkümmerte, was der
Physiologe besser macht.
Von diesem Tiefpunkt ihrer Wellenbewegung hat sich die
Philosophie allmählich zu dem ganzen Kritizismus zurückgefunden, der
die historische Grundlage verlangt. Schon wenn man die Aufgabe der
Erkenntnistheorie von der Kritik der Natur-[11/12]forschung, auf die sie KANT im
Sinne seiner Zeit eingeschränkt hatte, auf die Kritik der Kulturforschung
erweiterte, die sich inzwischen in den historischen Wissenschaften so mächtig
betätigt hat, schon damit wurden in den Umkreis des theoretischen Denkens
die Prinzipien der Wertung hineinbezogen, und seitdem LOTZE die Rücksicht
auf das Reich der Werte als entscheidendes Moment bereits für die logische
Theorie eingeführt hatte, wurde dem philosophischen Denken die ganze Fülle
der historischen Entwicklung der Vernunftwerte von neuem als das fruchtbare Feld
für seine begriffliche Durcharbeitung eröffnet.
Das ist der Sieg, den HEGEL von neuem über FRIES zu
erringen im Begriffe ist. Aber dieser Sieg darf nicht erkauft werden durch den
Verfall in den Historismus, welcher eine mindestens ebenso bedenkliche Art des
Relativismus ausmacht, wie der Psychologismus. Die Bedeutung der Geschichte als
des Organon der Philosophie darf nicht besagen, daß nun alles historisch
Geltende als Vernunftwert einfach hingenommen werden soll. Auch diese Empirie
gibt eben nur das Material für die philosophische Kritik, deren Prinzip man
am besten als das der Evidenz der immanenten Sachlichkeit bezeichnen kann.
Gerade in dieser Hinsicht aber bietet die Hegelsche Philosophie zur Überwindung
jener Gefahr des Historismus selber die beste Waffe. Damit berühren wir
tiefgreifende Probleme, mit denen die neueste Philosophie beschäftigt ist
und für die deshalb die prinzipielle Grundlage des Hegelianismus eine
besondere Bedeutsamkeit besitzt.
Wir erleben die Vernunftwerte freilich als denkende Menschen in
unserer Erfahrung immer so, daß sie sich uns als Inhalte und Gegenstände
unserer Funktionen, psychologischer oder historischer Tätigkeiten
darbieten. Aber - und das hat HEGEL mit aller Energie hervorgehoben - ihre Vernünftigkeit
oder ihr Vernunftwert ist offenbar von diesen unsern Tätigkeiten selbst völlig
unabhängig. Umgekehrt erhalten unsere Tätigkeiten ihren Vernunftwert
erst dadurch, daß sie diese Inhalte zu ihren Gegenständen machen. Ein
Satz wird nicht dadurch wahr, daß wir ihn bejahen: sondern wir sollen ihn
bejahen, weil er wahr ist. Eine Gesinnung wird nicht dadurch gut, daß wir
sie billigen: sondern wir sollen sie billigen, weil sie gut ist. Das sind
elementare und unangreifbare Erlebnisse des logischen und des ethischen
Gewissens. Für diese Unabhängigkeit der Vernunftwerte von [12/13] den
Funktionen menschlicher Vernunft, mag diese individuell oder historisch tätig
sein, für dies An-sich-bestehen der Wahrheit, das doch keine gemeine
Wirklichkeit, weder im Sinne des dinghaften Seins, noch in der Art des tatsächlichen
Geschehens bedeutet, hat LOTZE den glücklichen Terminus des Geltens"
eingeführt, und er hat damit in den berühmten und fundamentalen
Paragraphen seiner Logik (316ff.) die geistreiche und glänzende Deutung der
Platonischen Ideenlehre. und des Sinnes vom Begriffe des
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gegeben. Aber dieselbe Erörterung leitet bei LOTZE auch
die bedeutsame Schlußwendung seiner Logik ein, mit der er sich -
vorbildlich - zu HEGEL bekannt hat.
Dies Gelten der Vernunftwerte, wodurch sie für die
menschlichen Vernunftfunktionen zu den Normen werden, denen diese sich fügen
sollen, ist der äußerste Punkt, bis zu welchem die Analyse der
kritischen Philosophie vordringen kann. Ihre unmittelbare Evidenz in ihrer
immanenten sachlichen Selbstbegründung für das empirische Bewußtsein
zur tatsächlichen Geltung zu bringen, ist das ganze Geschäft der
Philosophie. Und das ist ihr Unterschied von der neuen Metaphysik.
Bei KANT ist dies An-sich-gelten in dem Begriff des Bewußtseins
überhaupt" gemeint. Er bezeichnet damit den Ort für alle
Voraussetzungen immanent sachlicher Notwendigkeit, auf denen die Erfahrung, d. h.
die von uns erlebte Vernunftbetätigung beruht, und ihre systematische
Einheit nennt er das Prinzip der Apperzeption. Was es zunächst in seiner
wissenschaftstheoretischen Bedeutung besagen will, läßt sich
vielleicht am einfachsten so formulieren: Alle Inhalte der äußeren
Erfahrung erlangen erst dadurch Gegenständlichkeit, d. h. allgemeine
und notwendige Geltung, daß sie in den Zusammenhang desselben einen
unendlichen Raums eingestellt sind, der selber kein Gegenstand der Erfahrung
ist; ebenso erlangen alle Erlebnisse überhaupt nur dadurch Gegenständlichkeit,
d. h. allgemeine und notwendige Geltung, daß sie in die Ordnung
derselben einen unendlichen Zeit eingestellt sind, die selber niemals erlebt
wird: und ebenso erhält alles, was für uns gegenständliche Realität
als Substanz oder Funktion haben soll, diese allgemeine und notwendige Geltung
erst dadurch, daß es in den Kategorien, d. h. in den Formen der
transscendentalen Apperzeption desselben einen Subjektes gedacht wird, das
selber niemals Gegenstand der Erkenntnis ist. [13/14]
Nun hatte schon KANT alle Mühe, dieses Bewußtsein
überhaupt" vor der metaphysischen Ausdeutung zu schützen, die ihm
sein eigenes persönliches Weltanschauungsbedürfnis nahelegte. Der zunächst
hypothetisch eingeführte intuitive Verstand", der
intellectus archetypus,
dann - nach den Postulaten der praktischen Vernunft - in der
Kritik der Urteilskraft das übersinnliche Substrat der Menschheit",
das alles waren schüchterne Ansätze zur Metaphysizierung des Bewußtseins
überhaupt", denen HEGEL nur den rechten Namen gab, wenn er es Gott
nannte. Denn es gehört zum unerläßlichen Inventar des religiösen
Bewußtseins, den Inbegriff und den einheitlichen Zusammenhang aller
Inhalte, denen jenes Gelten zukommt, als seiend im Sinne einer metaphysischen
Realität zu denken. Hier ist also der Punkt, an dem auch dem
Neuhegelianismus die kritische Grenze in dem alten Kantischen Sinne zu ziehen
ist.
Aber damit ist noch ein anderes geboten. Es betrifft den
Zusammenhang der Vernunftwerte. Er ist durch das Postulat der Vernunfteinheit
aufgegeben, aber nicht gegeben. Wir finden sie, historisch bedingt, einzeln und
in einzelnen Zusammenhängen vor, die wir nachzuerleben vermögen, als
die Inhalte unserer Vernunftfunktionen. Indem aber ihr Gelten von diesen unseren
Funktionen unabhängig ist, wird ihr immanent sachlicher Zusammenhang in
seiner Totalität zu einer notwendigen Voraussetzung, aber auch zu einem unlösbaren
Problem - geradeso wie dereinst bei PLATON die
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. HEGEL bezeichnete diesen Zusammenhang in seiner eigenartigen
Sprache als die Bewegung der Wahrheit in sich selbst, als die Selbstentzweiung
der Idee, die aus ihrer Zerrissenheit zu sich selbst zurückkehre. Er dachte
in dieser Selbstbewegung des Gedankens zugleich die Unabhängigkeit des
Geltens-an-sich von der Anerkennung durch irgendwelche empirische Bewußtseinsfunktionen
und die notwendige Verknüpfung der Vernunftwerte untereinander. Dies zu
verstehen, war der Sinn seiner dialektischen Methode. Er meinte damit jenes
letzte Problem zu lösen, das KANT als die Spezifikation der Natur
formuliert hatte: zu begreifen, wie die Gliederung, in der sich für unsere
Erfahrung das Universum darstellt, als eine innere Notwendigkeit in der Idee des
Ganzen begründet ist. Statt die Welt analytisch zusammenzubuchstabieren,
sollte die Philosophie sie synthetisch konstruieren. [14/15]
Die dialektische Methode hängt somit auf das Genaueste mit
der metaphysischen Hypostasierung der Ideen zusammen, und so sehr wir die Feinfühligkeit
und den bohrenden Tiefsinn, vor allem aber die Zähigkeit der begrifflichen
Arbeit bewundern mögen, mit der HEGEL, namentlich in dem Filigranwerk
seiner Logik, einzelne Zusammenhänge genial aufgedeckt hat, so wenig kann
doch solche Dialektik als Ganzes wieder die Methode der Philosophie bilden.
Deshalb wird die Philosophie, wenn sie als eigene Wissenschaft eine
Spezialforschung über die begriffliche Struktur alles Kulturbewußtseins
sein will, starken Anlaß haben, sich den formalen Eigenarten und Unarten
ebenso wie den metaphysischen Neigungen des Hegelianismus gegenüber äußerst
vorsichtig zu verhalten. Aber ich glaube doch verständlich gemacht zu
haben, wie sehr einerseits die Erneuerung des Hegelianismus, die wir erleben,
aus den Weltanschauungsbedürfnissen zu begreifen ist, die von außen
her als gebieterische Anforderungen an die heutige Philosophie herantreten, und
wie intim andererseits die Beziehungen der Hegelschen Begriffsarbeit zu den
eigensten Aufgaben der wissenschaftlichen Philosophie selbst sind.
Eines aber möchte ich zum Schluß auch nicht unerwähnt
lassen. Aus der aufgeregten und leidenschaftlich zerrissenen geistigen Lage, in
der wir stehen, tönt uns in lauter Vielstimmigkeit der Ruf nach einer
Philosophie der Tat und des Willens entgegen. Ja, in einer schwer begreiflichen
Selbsttäuschung verlangt wohl gar eine solche Philosophie von sich selbst,
sie solle die Vernunftwerte nicht suchen oder verstehen, sondern gesetzgebend
neu erzeugen. Diesem Treiben gegenüber kann die Versenkung in den
gewissenhaften Ernst, mit dem die Hegelsche Philosophie die Vernunft in der Welt
bis in das Einzelnste hinein zu verstehen und begrifflich herauszuarbeiten
sucht, - kann die Erneuerung dieser mühseligen Forscherandacht zum Kleinen,
die doch aus dem Großen heraus denkt, nur eine wohltätig
erzieherische Wirkung haben. Vor allem aber wird sie geeignet sein, den
Zusammenhang der Philosophie mit den übrigen Einzelwissenschaften wieder so
innig und fruchtbar zu gestalten, wie er in HEGELS Zeiten - nicht zum Nachteil
von beiden - gewesen ist.
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